Markus Bredendiek: Menschliche Diversität und Fremdverstehen
Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Franz Hamburger, 11.04.2016

Markus Bredendiek: Menschliche Diversität und Fremdverstehen. Eine psychologische Untersuchung der menschlichen Fremdreflexion. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2015. 355 Seiten. ISBN 978-3-658-10312-5. D: 69,99 EUR, A: 71,95 EUR, CH: 74,00 sFr.
Autor
Der Autor arbeitet an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, ebenso an der Universität Nancy, und lehrt und forscht im Themenbereich der Interkulturellen Psychologie, insbesondere des Interkulturellen Austausches und Lernens. Er berät Projekte und Organisationen, insbesondere im frankophonen Sprachraum.
Entstehungshintergrund
Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine psychologische Dissertation, die von der Universität Koblenz-Landau angenommen wurde.
Thema
Die Dissertation ist insoweit eine typische psychologische Studie, als sie der Entwicklung eines Forschungsinstrumentes auf der Grundlage eines theoretischen Modells dient.
Das Thema selbst ist Teil des Forschungsprozesses der Interkulturellen Psychologie, die Im Zusammenhang von Einwanderung, Zunahme globaler Mobilität und Intensivierung interkultureller Schulung in multinationalen Konzernen einen Aufschwung erlebt hat. Der Autor berücksichtigt in diesem Zusammenhang besonders die Akkulturationsforschung, die sich mit Folgen der Migration befasst, besonders aber die Forschungen, die als Grundlage von Training und Organisationsentwicklung entwickelt wurden.
Aufbau
Die Arbeit hat zwei größere Teile:
- Einmal eine Zusammenfassung und Strukturierung der einschlägigen Forschung und Theorie (S. 25 – 149),
- zum anderen die Darstellung einer empirischen Untersuchung, die sich auf die Prüfung der Validität des Instruments zur Untersuchung von Fremdverstehen konzentriert (S. 151 – 297).
Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis, Zusammenfassungen und Literaturverzeichnis runden das gelungene Buch ab.
Zu Teil 1
Der erste Teil besteht aus zwei Abschnitten: In einer Einführung werden die verschiedenen Formen der Begrifflichkeit für Fremdverstehen und ihre Einbettungen in Traditionen der psychologischen Theorien und der Forschung vorgestellt. Die Relevanz dieser Forschung wird plausibel aufgezeigt, ebenso der Grundlagencharakter der Wahrnehmung von Fremdheit bzw. von Befremdung für die Psychologie insgesamt.
Der zweite Abschnitt dient der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Forschungstand und den dabei entwickelten Begriffen und Theorien. Dieser Abschnitt (S. 43 – 149) stellt ein überaus kundiges Referat dar, das mit einem eigenen Modell des Fremdverstehens abgeschlossen wird. In diesem Modell werden die in der Forschung bisher eher disparat analysierten Themen und -dimensionen des Fremdverstehens als einer soziokognitiven Tätigkeit integriert und zur Vorbereitung der empirischen Studien synthetisiert.
Insbesondere wird das Konzept des soziokognitiven Fremdverstehens diskutiert auf der Grundlage der differentiellen Psychologie und der Entwicklungspsychologie, die mit ihren Grundkategorien das Fremdverstehen zentral fundieren. Das Fremdverstehen kann umgekehrt als wichtige Bewährungsprobe für die Validität der Kategorien dieser beiden psychologischen Grundlagenfächer dargestellt werden. So kann der Autor beispielsweise formulieren: „Fremdverstehen als Teil einer kulturallgemeinen Kompetenz gründet auf übergeordneten Persönlichkeitseigenschaften, wie beispielsweise Extraversion/Kontaktfreudigkeit, Offenheit für Neues, Perspektivenübernahmefähigkeit oder Ambiguitätstoleranz. In diesem Sinne wäre Fremdverstehen möglicherweise auch als Kondensat bzw. Sekundärfaktor dieser traitpsychologischen Basisdimensionen zu begreifen.“ (S. 61) Aus der Entwicklungspsychologie fundieren insbesondere die Theorien von Piaget, Kohlberg, Eckensberger oder Selman das Verständnis des Fremdverstehens in seiner Entwicklungsdynamik.
Das abschließend vom Autor entwickelte Modell ist zunächst von diesen Entwicklungstheorien in seiner zeitlichen Ordnung auf vier Stufen strukturiert und berücksichtigt dimensional die soziale Perspektive, den Begriff des Fremden sowie die Bestimmung von Fremdheit, die Beziehungsperspektive, die Attribution und die Barrieren von Handlungen. Die „Herstellung von Gemeinsamkeit“ als eine Dimension, die der Autor in praktischer Absicht besonders hervorhebt, konkretisiert sich in der dabei realisierten Selbst- und Fremd-Orientierung. Mit der Dimension „Herstellung von Gemeinsamkeit“ wird die Beziehung zu politisch-praktischen Begriffen wie Xenophobie oder Exotismus hergestellt, ebenso zu den theoretischen Kategorien des Universalismus und des Partikularismus. Damit erreicht das Modell eine besondere Differenziertheit und Anschlussfähigkeit.
Zu Teil 2
Der zweite Teil der Arbeit dient der empirischen Überprüfung des Modells mit Daten eines größeren Forschungsprojekts. Die Daten aus 279 Datensätzen wurden nach den Regeln der psychologischen Kunst ausgewertet, wobei 29 Hypothesen die Grundlage bilden. Sie beziehen sich einmal auf die Unterscheidung von zwei Dimensionen des Fremdverstehens, nämlich der Fremd-Orientierung und der Selbst-Orientierung, die eher persönlichkeitstheoretisch angelegt sind. Zum anderen bezieht sich die Analyse auf das Stufenmodell der Entwicklung des Fremdverstehens. Dieses Stufenmodell korreliert eng mit dem Modell der Entwicklung des moralischen Urteils sensu Kohlberg. Fremdverstehen ist also stark in die der Persönlichkeit des Verstehers oder des Nicht-Verstehers eingelassen. Bei niedriger Stufe in diesem Modell können das Ausmaß der Diversitätserfahrung und eine kommunikative Selbstwirksamkeitsvorstellung hilfreich sein, in interkulturelle Situationen mit Zuversicht hineinzugehen und sich nicht nur egozentrisch zu verhalten. Wichtig ist, dass die für die Untersuchung in Anlehnung an Hofstede stereotyp konstruierten kulturellen Distanzmaße mit dem Modell nicht korrelieren. Die für die Abwehr von Ausländern vielfach verwendete Distanzbehauptung erweist sich erneut als Rechtfertigungsideologie.
Für die pädagogische Tätigkeit sind verschiedene Ergebnisse relevant, eines sei hervorgehoben: „Offenbar führt ein dialogische Diskurs über Verschiedenheit, aus dem Gemeinsamkeit gemeinsam konstruiert und abgeleitet wird, zu einem positiveren Fremderleben als eine rationale Konstruktion von Gemeinsamkeit durch Rückbezug auf vorangenommene menschliche Universalien.“ (S. 261) Belehrungen sind also deutlich weniger wichtig als gemeinsame Arbeitsprozesse in kommunikativer Absicht.
Diskussion
Zwar orientiert sich der Verfasser bei der Definition von Fremdverstehen an der interaktiven Konstruktion des Anderen und hält fest: „Erst durch eine soziokognitive Vergleichsoperation wird bestimmt, was das Fremde vom Eigenen trennt und was das Fremde letztendlich ausmacht.“ (S. 39) Der psychologische Blick lässt aber die soziale Konstruktion in den Hintergrund treten. Auch die Reflexion darauf, was in welcher Konstellation als fremd verstanden wird und in welcher Weise dabei vor allem Kulturen gemeint sind, findet am Anfang statt, spielt in den Forschungskonzepten und den -instrumenten dann aber eine untergeordnete Rolle. Auf der operativen Ebene werden dann in den Items der Frageinstrumente jedoch vielfach stereotype Beurteilungsmöglichkeiten angeboten.
Das Modell ruht auf den Entwicklungstheorien des Sozialkognitivismus auf und teilt deren Dynamik der normativen „Höherentwicklung“. Dabei ist die Kategorie des „Verstehens“ und des „Verständnisses“ besonders wirkmächtig. Eine andere Form der „höchsten“ Stufe ist aber als Anerkennung einer bleibenden Fremdheit denkbar, zumindest als Teil der gesamten Struktur der höchsten Stufe. Das Fremdverstehen ist nämlich immer in der Gefahr der Aneignung des Fremden und vergisst dabei, dass Verstehen grundsätzlich begrenzt ist und „wir uns selbst fremd sind“ (Kristeva). Die im Untertitel angesprochene „Fremdreflexion“ deutet den möglichen Übergang zu einer pädagogischen Bildungsreflexion an, geleistet werden muss sie aber von einer eigenständigen Bildungstheorie. Diese wiederum kann die empirischen Grundlagen, die mit dieser Arbeit gerade im Entwicklungsstufenmodell des Fremdverstehens gelegt wurden, gut verarbeiten.
Fazit
Das Buch ist für die psychologische Forschung zum Fremdverstehen unentbehrlich. Der erste Teil kann auch Grundlage einer Lehrveranstaltung in Psychologie, Erziehungswissenschaft oder Translationswissenschaft sein. Der Autor schreibt zwar fachsprachlich präzise, bemüht sich aber gleichzeitig um Verständlichkeit. Das entwickelte Modell fasst systematisch ein disparates Feld von Studien und Theorien zusammen. Gleichzeitig werden die theoretischen Erträge auch unter dem Gesichtspunkt von Beratung und Interkultureller Entwicklung in einer menschendienlichen Perspektive reflektiert.
Für die weitere Forschung wurde ein komplexes Modell entwickelt und erprobt, das vielfach nur schwache Effektstärken aufweist, aber gut begründete Tendenzen aufzeigt und die weitere Präzisierung im Forschungsprozess verdient.
Rezension von
Prof. i.R. Dr. Franz Hamburger
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.
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