Berrin Özlem Otyakmaz, Yasemin Karakaşoğlu (Hrsg.): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 01.04.2016
Berrin Özlem Otyakmaz, Yasemin Karakaşoğlu (Hrsg.): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft. Erziehung, Bildung und Entwicklung in Familie und Kindertagesbetreuung. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2015. 249 Seiten. ISBN 978-3-658-07381-7. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema
Wenn es um die Chancengerechtigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund geht, wird die frühkindliche Bildung in Kindertagesstätten als erstes genannt. Die Frage ist dann jedoch, ob und wie diese die Zielgruppe erreichen. Dabei bleibt die familiale Sozialisation in jedem Fall bestimmend. Dass sich indes die Erziehungsziele und -stile in den Familien und Kitas tatsächlich unterscheiden, ist mit Bezug auf die Altersgruppe der Kinder unter drei Jahren häufig behauptet, aber selten untersucht worden.
Herausgeberinnen
Dr. Berrin Özlem Otyakmaz ist Vertretungsprofessorin für Entwicklungspsychologie an der TU Dortmund, Dr. Yasemin Karakasoglu Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen.
Autoren/Autorinnen
Die insgesamt 26 Autorinnen und Autoren sind vorwiegend an Hochschulen im Inland (Dortmund, Bremen, Frankfurt, Magdeburg, Münster, Bochum, Kassel, Oldenburg, Osnabrück), einige auch im Ausland (Izmir, Aalborg, Tilburg, Basel) tätig, sei es mit Professuren, sei es als wissenschaftliche Angestellte im Bereich der Erziehungswissenschaften, Psychologie oder Soziologie
Aufbau
Nach zwölf Seiten Vorwort der Herausgeberinnen folgen insgesamt dreizehn Beiträge mit jeweils bis zu 20 Seiten, die von einem, zwei oder drei Personen verfasst wurden.
Die ersten acht Beiträge befassen sich mit den Erziehungsvorstelllungen der Eltern, die weiteren fünf mit deren Verhältnis zur Kita.
Ein Beitrag (Durgel/van de Vijver) ist in englischer Sprache verfasst.
Inhalt
Der Band versammelt empirische Arbeiten, die entweder größere Befragungen in Teilen auswerten oder auf eigene Befragungen oder Gruppendiskussionen zurückgehen. Datenbasis ist neben AID:A des Deutschen Jugendinstituts vor allem der Foeschungsverbund NUBBEK.
Im Folgenden sollen einige Ergebnisse vorgestellt werden, die auch von praktischer oder politischer Bedeutung sind.
- Es ist üblich, die Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund daran festzumachen, dass sie in Hinsicht auf formale Bildungsabschlüsse schlechter abschneiden als Kinder ohne Migrationshintergrund (s.a. Döge). Dabei wird allerdings, wie einige Beiträge herausarbeiten, übersehen, dass insgesamt Unterschiede zwischen der 1. und der 2. Generation bestehen, insbesondere bei türkisch-stämmigen Familien auch zur 3. Generation; letztere sind ihren Peers ohne Migrationshintergrund sehr ähnlich. Auch das Sinus-Konnzept hat ja herausgearbeitet, dass Personen mit Migrationshintergrund diverse Milieus bilden, die sich so auch in der nicht-migrantischen Gesellschaft wiederfinden. Die wichtigste Feststellung (s. Betz/Prein/Rauschenbach) ist jedoch die, dass für die Einstellungen von Eltern in Erziehungsfragen der Migrationshintergrund weit weniger bedeutsam ist als Bildungsstand und Einkommen. Auch die Herausgeberinnen warnen strikt davor, Unterschiede zu „kulturalisieren“.
- Fakt ist jedoch, wie die einzelnen Beiträge zeigen, dass Eltern mit Migrationshintergrund an manchen Stellen tendenziell andere Positionen vertreten als die autochthone Bevölkerung. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass viele türkischstämmige Mütter die ersten drei Lebensjahre des Kindes als eine Art Schonzeit betrachten, in der sich das Kind im Kontext der Eltern, Geschwister, Verwandten ohne gezielte Förderung von selbst entwickelt, auch in Hinsicht auf die Muttersprache: Deutsch als Zweitsprache lernt es dann ohnehin im Kindergarten – was wiederum erklärt, weshalb Kinder unter 3 Jahren mit Migrationshintergrund deutlich weniger Kitas besuchen als dies die über 3 Jahren tun.
- Türkisch-deutsche Mütter der 1.Generation haben gar nicht so sehr andere Erwartungen an die Entwicklung ihres Kindes als deutsche Mütter, letztere haben sie meist nur viel früher, nämlich mehr als ein ganzes Lebensjahr eher (s. Otyakmaz).
- Gemeinhin sprechen sich Fachleute dafür aus, dass Kinder von Geburt an zweisprachig aufwachsen sollen, da sie sonst womöglich erst in der Kita mit der Zweitsprache Deutsch in Kontakt kommen und sich beim Übergang in die Schule schwer tun. Auch wenn dies zutreffen mag, ist doch viel wichtiger, dass Eltern und Kinder eine gemeinsame Sprache sprechen und die Herkunftssprache gewürdigt wird (s. Leyendecker/Willard/Caspar).
- Fachkräfte in den Kitas haben in verschiedene Befragungen zum Ausdruck gebracht, dass die Zusammenarbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund manchmal schwierig sei, da letztere zu hohe Erwartungen an die Sprachvermittlung hätten, andererseits weniger auf Selbständigkeit des Kindes Wert legten. Nach Otyakmaz/Döge sehen sich Eltern gleichermaßen in der Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder, ob sie nun türkischen, russischen oder keinen Migrationshintergrund haben, übrigens auch gegenüber der Kindertagesstätte. Offensichtlich wird die Beziehung zwischen Fachkräften und Eltern, wie beide Seiten bemerken, etwas weniger gut eingeschätzt, wenn es sich um Mütter mit geringer formaler Bildung handelt. Saraj spricht gar von einem „Präventionsdilemma“, wenn diejenigen Kinder, die am meisten Förderung brauchen, weniger Zugang dazu haben, zudem ihre Eltern weniger am Kita-Geschehen beteiligt sind bzw. werden.
- Kinderpflegerinnen und Erzieherinnen mit Migrationshintergrund sind, gemessen am migrantischen Bevölkerungsanteil insgesamt, in den Kitas unterrepräsentiert. Kita-Leitungen liefern auf Befragen schnell eine Erklärung dafür, wenn sie als wichtiges Kriterium für die Einstellung von neuem Personal die Zugehörigkeit zu christlichen Kirchen angeben und sich mehrheitlich sicher sind, dass der Träger eine Mitarbeiterin mit Kopftuch nicht akzeptieren würde (s. Akbas/Leiprecht). Perfekte Deutschkenntnisse werden offensichtlich mehr geschätzt als Zweisprachigkeit.
Diskussion
Fast alle in diesem Band versammelten Beiträge überzeugen durch ihre starke Empirie, die nicht nur Fachkräfte, sondern gerade auch Eltern mit Migrationshintergrund zu Wort kommen lässt bzw. über Fragebogen vermittelt. In einem Falle stammen die Datensätze allerdings von vor 2009. Die Publikation ist überwiegend gut zu lesen, allerdings ist das Seitenlayout bei vielen Beiträgen (vor allem am Artikelende) konturlos und überfrachtet. Mitunter fallen Kommata aus.
Die Autorinnen und Autoren tun gut daran, Befunde nicht zu „kulturalisieren“, benennen sie jedoch eindeutig und klar in Verbindung mit sozialökonomischen Faktoren. Alle Befragungen zielen darauf ab, die Vorstellungen von Eltern und Fachkräften zu klären, die diese von sich selbst und von anderen Beteiligten haben. Da sich diese oft nur in Nuancen ausdrücken, besteht immer die Gefahr der Übergeneralisierung, die in der konkreten Situation nicht „stimmen“ muss. Ohnehin geht es hier um Einstelllungen zu und Konzepte von Erziehung und Bildung, nicht um Praxis in realen Handlungszusammenhängen. Insofern wäre eine Ergänzung zur hiesigen Methodik die, in Fallstudien und „symmetrischen“ Diskussionen Unterschiede im Erziehungshandeln zu dokumentieren und aufzuarbeiten. In der Praxis kommt man daran ohnehin nicht vorbei.
Im abschließenden Beitrag von Kärtner/Borke wird das eigentliche Dilemma noch einmal überdeutlich: Zwar distanzieren sich Autoren zurecht von all den vielen Studien, die „Kulturen“ verdinglichen oder mit Nation oder Ethnie verwechseln, doch sind ihre „Prototypen“, die allzusehr an das Gegenüber anatolische Großfamilie vs. deutsches Akademikerpaar mit spätem Einzelkind erinnern, nicht weit davon entfernt. Die Lebenswelten von Kindern (U 3), die hier dazwischenliegen, sind so vielfältig, dass sich Einstellungen und Erziehungsziele nur statistisch erfassen lassen, aber in der Praxis nie zu- oder eintreffen müssen. Und selbst wenn: Warum Handlungserwartungen konstruieren, wenn man sie unmittelbar erleben kann. Es reicht doch wirklich, wenn alle, die Eltern wie die Fachkräfte in der Kita, sensibel mit sich und anderen umgehen, durchaus im Bewusstsein, dass sich ihre Selbstverständlichkeiten des Alltags unterscheiden, aber auch ähnlich sein können.
Fazit
Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die empirisch fundiert die Einstellungen und Erwartungen von Eltern mit Migrationshintergrund, Eltern ohne diesen und Fachkräfte in den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung miteinander vergleichen.
Da sich die Vielfalt moderner Gesellschaften nicht allein und nicht deterministisch nach Herkunft und Generation abbilden und sich mithin Verhalten voraussagen lässt, eröffnet (auch) die pädagogische Praxis viele Situationen, in denen alle Akteure damit rechnen müssen, dass sie manche Regeln des Denkens, Fühlens und Handelns befolgen, die andere Personen nicht teilen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 01.04.2016 zu:
Berrin Özlem Otyakmaz, Yasemin Karakaşoğlu (Hrsg.): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft. Erziehung, Bildung und Entwicklung in Familie und Kindertagesbetreuung. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG
(Berlin) 2015.
ISBN 978-3-658-07381-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20099.php, Datum des Zugriffs 04.10.2024.
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