Dorothea Buck: Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck
Rezensiert von Prof. Dr. Marianne Bosshard, 09.03.2016

Dorothea Buck: Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck. Der Gartenhaus-Briefwechsel.
Paranus Verlag
(Neumünster) 2015.
240 Seiten.
ISBN 978-3-940636-37-9.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 22,00 sFr.
Hrsg. Hartwig Hansen und Fritz Bremer .
Thema
Es geht um die Bedeutung und das Verstehen von psychotischen Krisen und den Umgang mit den in diesen Krisen aufbrechenden Impulsen – jenseits klinisch-psychiatrischer Krankheits- und Therapievorstellungen.
Autorin
Die heute 99-jährige Dorothea Buck setzt sich seit vielen Jahren als „Psychose-Erfahrene“ für eine Psychiatrie ein, in der das Erleben der psychotischen Menschen im Mittelpunkt steht.
- Sie ist maßgeblich beteiligt gewesen am Kampf für die Anerkennung der von den Nationalsozialisten sterilisierten Menschen als „rassisch Verfolgte“ (1980er Jahre).
- Sie ist Mitbegründerin der trialogischen „Psychose-Seminare“ (1989), 1992 hat sie den Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen mit ins Leben gerufen, der als Selbsthilfegruppe eine gewichtige Stimme hat.
- Sie ist die Autorin von „Unterwegs zum Morgenstern – Psychose als Selbstfindung“ (1990 erschienen unter dem Pseudonym Sophie Zerchin=Schizophrenie). Hier erzählt sie von ihren psychotischen Krisen und ihren schrecklichen Erfahrungen in der Psychiatrie während der Nazizeit.
- Seit ihrer letzten Psychose 1959 brauchte sie diese Krisen nicht mehr, arbeitete als Bildhauerin, dann als Lehrerin für Kunst und Werken an einer Fachschule für Erzieherinnen, und schließlich widmete sie sich ganz dem Kampf für eine andere, humane Psychiatrie. Dieses Buch gibt es inzwischen in der 5. Auflage, und hat unter Betroffenen und Profis viel in Bewegung gesetzt.
Herausgeber
Hartwig Hansen gehört als Psychologe, ehemaliger Geschäftsführer im Psychiatrie-Verlag, Autor und Herausgeber von Büchern, die vom Erleben und den Bedürfnissen psychisch erkrankter Menschen handeln, ebenso in die von Buck geprägte psychiatrische Bewegung der letzten 30 Jahre wie Fritz Bremer, der pädagogischer Leiter der „Brücke“ in Neumünster ist, einem Verein, der vielfältige psychosoziale Hilfen für Menschen mit psychischen Krankheiten anbietet. Der Paranus-Verlag ist integrierter Bestandteil dieser Hilfsangebote und bietet den dort Betreuten in all seinen Produktionsbereichen Arbeits- und Betätigungsmöglichkeiten.
Entstehungshintergrund
Das Morgensternbuch und die vielen anschließenden Lesungen, Interviews, Vorträge und psychiatrie-politischen Aktivitäten machten Dorothea Buck schnell bekannt und führten unter anderem zu einer Flut von Briefen, die sie in dem Hamburger Gartenhaus, in dem sie seit vielen Jahren lebte, erreichte. Sie beantwortete jeden Brief und hob die gesamte Korrespondenz auf. So entstand ein einmaliger, ganz besonderer Dialog – der Gartenhausbriefwechsel – zwischen Rat suchenden psychiatrie- und psychose-erfahrenen Menschen und einer einfühlsamen, klugen Ratgeberin.
2013 zog die 96-Jährige aus dem Gartenhaus aus in eine betreute Einrichtung und übergab ihren Nachlass und die gesamte Korrespondenz den beiden Herausgebern, die sie als vertrauenswürdige Menschen kennengelernt hatte. Die beiden wählten aus der Fülle des Materials 70 Briefdialoge aus und legen sie in diesem Buch vor.
Aufbau
Das Buch besteht aus Vor- und Nachwort der Herausgeber und dem eigentlichen Briefwechsel.
Einleitend wird Dorothea Buck als wichtige, unermüdliche Kämpferin für eine humane Psychiatrie vorgestellt, das Zustandekommen des vorliegenden Buches und die Vorgehensweise bei der Auswahl der Briefe begründet.
Im Nachwort ordnen Hansen und Bremer die vielen in den Briefen niedergeschriebenen Gedanken und beschreiben, was für sie das Wesentliche darin ist.
Der eigentliche Briefwechsel erstreckt sich über zehn Jahre, die Zeit von 1990 bis 2000: 70 persönliche Briefe von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, von Angehörigen aber auch von Psychiatrisch Tätigen, mit Datum und anonymisierendem Namen versehen, und 70 persönliche Antworten. Die Herausgeber haben in den meisten Fällen einen einmaligen Austausch dargestellt, manchmal aber auch ein mehrfaches Hin und Her. Frau Buck hatte ihre Antworten mit der Schreibmaschine getippt und die Durchschläge abgeheftet. Die Briefe sind chronologisch geordnet, und der jeweilige Briefdialog ist mit einem prägnanten Motto aus Frau Bucks Antwortbrief versehen.
Inhalte
Für die meisten Menschen, die sich an Frau Buck wenden, ist das Morgensternbuch der Anlass: Die dort beschriebenen schrecklichen Erfahrungen, die Auseinandersetzung damit und ihre Überwindung geben Anlass zu Fragen und zu Hoffnung. Und so erfährt man beim Lesen der Briefe viel über Psychosen der Schreiberinnen und ihre Erfahrungen mit der Psychiatrie:
- Einsamkeit,
- Isolierung,
- Ratlosigkeit,
- Verzweiflung,
- Ohnmacht,
- Hilflosigkeit,
- Unverstandensein,
- Verbitterung,
- Enttäuschung,
- Sinnlosigkeit,
- Lebensmüdigkeit
sind immer wiederkehrende Themen. Man kommt darüberhinaus nicht umhin, in den Briefen schwere Krankheitssymptome zu erkennen:
- Verfolgungs- und Beziehungswahn,
- Halluzinationen,
- Leere und Zerrissenheit,
- Projektionen,
- Ideenflucht,
- tiefe Depressionen…
Es sind Menschen mit großen Sorgen in großer Not, die schlechte Erfahrungen in der Psychiatrie gemacht haben. Immer wieder fragt man sich beim Lesen so eines Briefes: Wie wird sie darauf antworten?
Ihre Antworten sind durchweg einfühlend und voller Verständnis. Sie geht direkt, persönlich, manchmal auch resolut auf den Ratsuchenden ein. Immer entdeckt sie, selbst beim zutiefst verzweifelten Schreiber, einen positiven Anknüpfungspunkt oder macht Vorschläge für eine neue Strategie beim Umgang mit Behörden oder rät, wenn es sein muss auch streng, sich nicht weiterhin abhängig zu machen, sondern die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Ihre zentralen Themen sind Psychiatriekritik, ihr Psychoseverständnis, Heilung durch Kreativität, Selbstbestimmung und Selbsthilfe. Ganz unverblümt, teilt sie die Wut über unmenschliche Behandlungen in der Psychiatrie und kritisiert insbesondere die biologischen Grundannahmen, die Erbtheorien im Zusammenhang mit der Diagnose Schizophrenie und die Behauptung ihrer Unheilbarkeit, die Überbewertung der Medikamente und die mangelnde Aufklärung über Nebenwirkungen und den Verzicht auf Gespräche.
Ihre psychiatrischen Gewährsleute sind C.G. Jung, der selbst eine Psychose hatte und die Bedeutung der Träume und des Unbewussten in diesem Zusammenhang betonte, und Manfred Bleuler, der durch seine Verlaufsforschungen zeigen konnte, wie breit das Spektrum der Verläufe von schizophrenen Psychosen ist – von der Heilung bis zur Chronifizierung.
Ihr eigenes Psychoseverständnis geht vom Aufbrechen unbewusster Impulse in der psychotischen Krise aus. Diese Impulse sind so normal wie Träume. Was da aus dem Unbewussten auftaucht, kann auch düster und beängstigend sein. Wichtig ist, dem Raum zu geben, zu versuchen, es zu verstehen, das Leitthema zu erkennen und zu verarbeiten. Und hier setzt sie auch ein mit ihrem Rat: Kreativität steht für sie an erster Stelle, denn für sie selbst war es eine große Hilfe, sich künstlerisch auszudrücken. Jeder Mensch verfügt über diese Fähigkeit – es ist nur wichtig, diese zu entdecken. Immer wieder heißt es: „Finden Sie etwas, das Ihnen wichtig ist, nehmen Sie das ernst und setzen Sie es um, fangen Sie noch heute damit an. Dies kann Ihnen auch niemand abnehmen.“ Ein weiterer wichtiger Schritt ist das Aufgeben der Einsamkeit. Das ständige Kreisen um die eigene Person führt nicht weiter, man braucht Themen, Aufgaben und andere Menschen. Hierzu stellt sie Literatur, Adressen und Listen von Psychose-Seminaren und Selbsthilfegruppen zur Verfügung, denn hier findet man – anders als beim Psychiater – Gesprächspartner und Zuhörer.
Diskussion
Die biologische Psychiatrie ist da problematisch, wo sie die Patienten unaufgeklärt und abhängig lässt. Buck setzt zunächst auf das Ernstnehmen der ins Unbewusste verdrängten und abgespaltenen Impulse und Gefühle, genauso wichtig ist dann aber das Aufspüren und die Mobilisierung der immer auch vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten des Ichs und, last but not least, die Zuwendung zur Realität und zu anderen Menschen. Das ist möglich und nötig, immer wieder zeigt sie es am Beispiel ihrer eigenen Geschichte.
Fazit
Betroffene, Angehörige, psychiatrische und psychotherapeutische Profis, aber auch „Gesunde“ profitieren von diesem Blick auf die angesprochenen Grundprobleme der menschlichen Existenz. Es befreit von eingefahrenen durch Diagnosen festgelegten Krankheits- und Behandlungskonzepten und öffnet den Blick für naheliegende, ganz „gewöhnliche“ Lösungen.
Rezension von
Prof. Dr. Marianne Bosshard
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