Julia Haberstroh, Katharina Neumeyer et al.: Kommunikation bei Demenz
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 15.08.2016
Julia Haberstroh, Katharina Neumeyer, Johannes Pantel: Kommunikation bei Demenz. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Springer (Berlin) 2016. 2., überarb. u. aktual. Auflage. 107 Seiten. ISBN 978-3-662-48025-0. 14,99 EUR.
Thema
Der Umgang mit Demenzkranken ist gegenwärtig im fachlichen Diskurs ein äußerst heikles Themenfeld, stehen doch teils kontroverse Ansätze und Modelle zur Auswahl. Dies führt oft bei den Betroffenen, den beruflich Pflegenden und den pflegenden Angehörigen, zu Verunsicherung und fehlender Verhaltenssicherheit in der Kommunikation mit den Erkrankten. Grob lässt sich das Feld der Umgangs- und Kommunikationsformen in zwei Bereiche unterteilen: intuitive Umgangsformen, die als angeborene und damit teils unbewusste Verhaltensmuster klassifiziert werden können einerseits. Und andererseits Verhaltensstrategien, die als Ableitungen von Theorieentwürfen meist ohne eines empirischen Nachweises der Wirksamkeit wie z. B. die Validation und die Böhm- und Kitwood-Konzepte bezeichnet werden können. Des Weiteren können die Modelle und Konzepte der Verhaltensstrategien im Demenzbereich hinsichtlich ihres Bezugssystems unterschieden werden. Reduktionistisch strukturierten neurobiologisch-medizinischen Erklärungsansätzen stehen Modelle mit multikausaler Fundierung (neben Medizin z. B. Sozialpsychologie und Umweltfaktoren) gegenüber.
Autorinnen und Autor
Dr. Julia Haberstroh, Diplom-Psychologin, tätig an der Goethe-Universität Frankfurt im Bereich Frankfurter Forum für interdisziplinäre Alternsforschung (FFIA) und
Dr. Katharina Neumeyer, Diplom-Psychologin, und Prof. Dr. med. Johannes Pantel, Psychiater und Geriater, tätig an der Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Allgemeinmedizin, Abteilung Altersmedizin, mit dem Schwerpunkt Psychogeriatrie und klinische Gerontologie.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in vier Kapitel nebst Schlusswort, Literaturempfehlungen und Glossar untergliedert.
Kapitel 1 (Was ist Demenz? – Seite 1-16) enthält in knapper Form das Basiswissen über Demenzen: Ursachen, Symptome und Krankheitsverlauf, Diagnostik und Therapie. Des Weiteren wird auf die Auswirkungen der Erkrankung auf die Betroffenen, die Angehörigen und die beruflich Pflegenden eingegangen.
In Kapitel 2 (Wer pflegt, muss sich pflegen? – Seite 17-25) wird zu Beginn das Unterstützungsangebot für versorgende Angehörige dargestellt: ambulante Pflegedienste, Schulungsprogramme, Selbsthilfe- und Betreuungsgruppen, ehrenamtliche Begleiter, Kurzzeit- und Verhinderungspflege und betreuter Urlaub mit Demenzkranken. Es folgt eine Reihe von Ratschlägen, wie Angehörige psychische und körperliche Überforderung in der Versorgung der Demenzkranken vermeiden können. Angeführt werden u. a. folgende Strategien: Unterstützung organisieren, weitere Personen in die Betreuung einbinden, mit den eigenen Kräften haushalten, sich seiner Grenzen in der Versorgung bewusst werden, die eigenen Interessen und Bedürfnisse nicht aus den Augen verlieren und den ständigen Austausch u. a. in Selbsthilfegruppen pflegen.
Kapitel 3 (Was ist Kommunikation? – Seite 27-32) beinhaltet in wenigen Worten das so genannte „TANDEM-Kommunikationsmodell“ bestehend aus den Elementen Darbietung, Aufmerksamkeit auf Sender und Information, Verstehen und Behalten, wobei die Aufmerksamkeit nochmals in die Dimensionen selektive Aufmerksamkeit, Daueraufmerksamkeit und geteilte Aufmerksamkeit unterteilt wird.
Kapitel 4 (Ist Kommunikation bei Demenz anders? – Seite 33-85) entfaltet die Eigentümlichkeiten in der Kommunikation mit Demenzkranken. Zu Beginn wird die These der „Einzigartigkeit“ des individuellen Krankheitsverlaufes mitsamt der einhergehenden Kommunikation vertreten. So gäbe es z. B. keine „Rezepte“ im Umgang mit Demenzkranken (Seite 36). Hieran schließend wird der Demenzkranke als aktiver Kommunikator („Sender“) bezüglich seiner Kompetenzen und Defizite beschrieben. Erläutert wird u. a. der Sachverhalt, dass Demenzkranke aufgrund der massiven Kurzzeitgedächtniseinbußen in einem Gespräch oft „den Faden verlieren“. Andererseits ist das Langzeitgedächtnis im mittelschweren Stadium noch recht gut erhalten, so dass sie teils sehr ausführlich über Vergangenes zu berichten vermögen. Auch auf die häufig auftretenden Wortfindungsstörungen, Wortverwechselungen und Silbenverdrehungen wird hingewiesen. Komplementär zu diesen Defiziten wird die Wirksamkeit nonverbaler Kommunikationsformen wie Gestik, Körpersprache und Singen hervorgehoben. Empfohlen wird auch auf biografische Elemente der Erkrankten bei den Gesprächen teils mithilfe eines „Erinnerungsalbums“ zurückzugreifen. Es folgen konkrete Handlungsanweisungen, wie mit Demenzkranken angemessen gesprochen werden sollte: u. a. einfache Sätze mit Betonungen, inhaltliche Mehrdeutigkeiten vermeiden, Blickkontakt aufnehmen, begleitende Berührungen, langsam und Schritt für Schritt vorgehen. Am Ende des Kapitels werden übersichtsartig Krankheitssymptome der Demenz wie Depressivität, Angst, Aggression, nächtliche Unruhe und Apathie nebst Erklärungsansätzen angeführt.
Diskussion und Fazit
Kommunikation mit Demenzkranken ist ein weites Feld. In dieser Publikation werden einige Erfahrungswerte aus der Pflege und Betreuung angemessen dargestellt. Anhand von Defiziten und noch bestehenden Kompetenzen im Sprachverhalten, die u. a. stark von den Gedächtnisleitungen und vor allem den massiven Kurzzeitgedächtnisstörungen beeinflusst werden, zeigen die Autoren einige alltagstaugliche Umgangsformen auf.
Kritisch muss angeführt werden, dass die Autoren von einem eher individuellen Verlauf der Erkrankung ausgehen. Selbstverständlich hat jeder einzelne Abbauprozess seine persönlichen und damit auch individuellen Varianten. Doch gleichzeitig sollte auch der Stand der Forschung angemessen Berücksichtigung finden. Das heißt in diesem Fall konkret, dass der neuropathologisch fortschreitende Abbauprozess nach dem Konzept der Retrogenese und der Braak-Stadien nach einer bestimmten Struktur und Verlaufslogik sich in bestimmten Stadien vollzieht. Wer hier die so genannte „Einzigartigkeit“ des dementiellen Krankheitsverlaufes propagiert, muss sich fehlendes Fachwissen unterstellen lassen.
Des Weiteren negieren die Autoren auch den sehr umfänglichen Erfahrungsschatz der Pflegenden im Umgang mit Demenzkranken, wenn sie behaupten, dass es in der Demenzpflege keine „Rezepte“ bezüglich der Kommunikation und des Umgangs gäbe. In vielen Fachpublikationen sind diese Erkenntnisse, die als Regelmäßigkeiten und als Handlungswissen verstanden werden können, bereits eingehend publiziert und erörtert worden.
Ein weiteres Negativum der Veröffentlichung besteht aus dem Fehlen der Darstellung der Thematik Umgang mit Desorientierungsphänomenen und anderen Realitätsverlusten und Realitätsverzerrungen. Hierbei handelt es sich um ein Kernthema der Kommunikation mit Demenzkranken, die in diesen Verwirrtheitszuständen auf die unmittelbare Hilfe und Unterstützung der Pflegenden angewiesen sind, denn andernfalls drohen psychische Überlastungsphänomene.
Es bleibt das betrübliche Fazit zu ziehen, dass die vorliegende Publikation trotz einiger praktikabler Ratschläge für Pflegende und Angehörige in der Demenzpflege keine wesentlich neuen Impulse und Perspektiven für die Kommunikation mit den Erkrankten enthält.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 15.08.2016 zu:
Julia Haberstroh, Katharina Neumeyer, Johannes Pantel: Kommunikation bei Demenz. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Springer
(Berlin) 2016. 2., überarb. u. aktual. Auflage.
ISBN 978-3-662-48025-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20129.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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