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Harald Tornow: Wie ist der Jugendhilfe zu helfen?

Rezensiert von Dr. Herwig Grote, 24.05.2016

Cover Harald Tornow: Wie ist der Jugendhilfe zu helfen? ISBN 978-3-7841-2834-4

Harald Tornow: Wie ist der Jugendhilfe zu helfen? Eine Diagnose. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. 59 Seiten. ISBN 978-3-7841-2834-4. D: 7,50 EUR, A: 7,80 EUR, CH: 11,50 sFr.

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Autor und Herausgeberschaft

Dr. Harald Tornow ist Geschäftsführer des e/l/s-Institut für Qualitätsentwicklung
sozialer Dienstleistungen. Das Institut ist wesentlich wegen seines Angebotes WIMES - web-gestütztes Instrument zur Fallsteuerung und Wirkungsevaluation von Erziehungshilfen für Fach- und Leitungskräfte in der Jugendhilfe, bekannt.

Das Buch erschien in der Reihe „Soziale Arbeit kontrovers“, welche in Kooperation des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und dem Lambertus-Verlag (Gesellschafter ist der Deutsche Caritasverband) herausgegeben wird.

Thema

Harald Tornow hat umfangreiche Erfahrungen mit der Qualitätsentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und problematisiert Widerstände gegen die Inanspruchnahme sozialwissenschaftlicher Dienstleistungen.

Er entwickelt die „Vision einer transparenten, effektiven und effizienten, kundenorientierte Dienstleistungsjugendhilfe“ entlang von acht skizierten Thesen als Fazit seiner Publikation. Seine Thesen basieren auf systemischen Grundideen und einer grundsätzlichen Befürwortung der Leitidee „Qualitätsmanagement“ als Gestaltungsperspektive. Strukturen und Bedingungen der Jugendhilfe werden von ihm sehr grundsätzlich infrage gestellt.

Entstehungshintergrund

Die Reihe „Soziale Arbeit kontrovers“ beansprucht, die Komplexität der Themen vor dem Hintergrund der Entstehungs- und Rahmenbedingungen und der jeweiligen Einflussfaktoren darzustellen. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten sollen kritisch dargestellt und den fachlichen Diskurs zu fördern.

Aufbau und Inhalt

In neun Kapitel stellt Tornow seine Problembeschreibung, vielfältige persönliche Eindrücke und einige theoretische Anleihen aus der Soziologie vor und bemüht sich um Legitimation und Akzeptanz einer empirisch-sozialwissenschaftliche Perspektive als notwendige Assistenz für die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, im speziellen den Hilfen zur Erziehung nach §27 SGB VIII.

Ausgehend von der medialen Skandalierung von Bedingungen der Kinder- und Jugendhilfe, einer eher kopflos erscheinenden Entwicklungspolitik (mit alten Hüten wie „ambulant vor stationär“, ordnungspolitischen Grundsatzdiskussionen und den Versprechen der neuen Steuerungsmodelle u.a.) trägt er vor:

Der Jugendhilfe gelänge es seit ca. 20 Jahren nicht mehr, wirklich innovativ zu sein, Fragen zu ihrer Effektivität und Wirtschaftlichkeit überzeugend zu beantworten, angemessene Strukturen zu entwickeln und mit einer transparenten, ökonomischen und effektiven Fachlichkeit zu unterfüttern. Sein Anliegen sei insbesondere, das System zu mehr Transparenz, Leistungsfähigkeit und ökonomischer Vernunft zu transformieren – es sei unklar, warum eine solche Entwicklung nicht erfolgt bzw. welche Widerstände dem Anliegen entgegenstehen.

Im zweiten Kapitel führt Tornow zum „Umgang mit Komplexität“ aus. Jugendhilfe müsse lernen, mit Komplexität umzugehen, wie andere Wissens- und Praxisbereiche diese bereits tun. Die vermeintliche Komplexität bzw. Kompliziertheit sollte nicht zur Abwertung von vermeintlich „unterkomplexen“ Forschungsergebnissen führen. Und weiter: „Soziale Arbeit muss lernen, ein genaues Verständnis von Komplexität zu gewinnen und theoretisch und praktisch mit Komplexität umzugehen (…).“ Zentral erscheint mir in diesem Abschnitt die Kritik von Tornow an Praktikern der Jugendhilfe, einen Diskurs auf wissenschaftlicher Ebene mit Bezug auf empirische Ergebnisse zu verweigern.

Soziale Arbeit benötige eine Vertrauenskultur auf allen Ebenen (Kapitel 3). „Ein intelligentes und transparentes Controlling-System“ könne Misstrauen abbauen, Vertrauen bilden und Kräfte freisetzen. Controlling sollte nicht mit „Kontrolle“ verwechselt werden (obwohl auch Tornow im späteren Verlauf der Darstellung auf Ungleichgewichte innerhalb der Hierarchie und entsprechende Nutzungsvorteile eingeht. Hier verbleibt er jedoch beim Appell.)

In Kapitel 4 spitzt Tornow seine Kritik an der Jugendhilfe zu, insbesondere wegen ihres Bemühen, Instrumente der Qualitätsentwicklung selbst (auf örtlicher Ebene) zu entwickeln. Es gelinge nicht, einheitliche Evaluationsstandards zu entwickeln. Aus seiner Sicht sei der enorme Zeit- und Kostenaufwand nicht zu rechtfertigen. Als Lösungsperspektive erscheint ihm, dass Landesjugendämter oder das Bundesministerium Standards entwickeln und Serviceleistungen zur Verfügung stellen. Der Boykott von zumindest der Hälfte der Jugendämter würde aber drohen. Aus allen Ecken würden „Mitredner und Verkomplizierer“ wie Fachverbände, die Integrationshelfer/innen, die Datenschützer/innen und Behindertenbeauftragten auftauchen. Es sei „unvorstellbar, was für ein komplizierter und mächtiger Apparat sich zwischen Staat und Gesellschaft entwickelt und etabliert hat. Es sei unvorstellbar, was dieser Apparat inzwischen an direkten und indirekten Kosten“ mit sich brächte.

Kapitel 5 führt wesentlich zur Notwendigkeit statischer Kennzahlen, etwa zur Kindeswohlgefährdung oder zur Wirksamkeit von spezifischen Hilfen, aus. Letztlich sei es auf einen Mangel an Fachlichkeit und Sachlichkeit zurückzuführen, dass einzelne Ereignisse mit Zuständigkeit der Jugendhilfe skandaliert würden und erst reaktiv gestaltend Einfluss genommen wird. Einzelne Argumente zur Stützung seiner Annahme, wie ein vermeintlicher Erfolg des Bundeskinderschutzgesetzes wegen nachweisbarer Zunahme von Inobhutnahmen oder die Behauptung einer Lernfähigkeit der Medizin aus der Statistik ärztlicher Kunstfehler, werden wohl nicht allgemein geteilt werden.

Einen Exkurs auf Richard Sennett (Kapitel 6) nimmt Tornow zum Anlass, soziale Arbeit als Handwerk zu beschreiben und zugleich bestimmte Methoden wegen vermeintlicher empirischer Bewährung zu empfehlen.

In Kapitel 7 „Der Wert der Analogie“ nimmt Tornow wiederum Bezug auf Grundsätze systemischer Theorie – verwendet diese in diesem Zusammenhang aber lediglich, um einen Systemvergleich zwischen Erziehungshilfen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie anzureißen – und also Schwachstellen der Jugendhilfe abzuleiten. Jugendhilfe müsse, so Tornow, von benachbarten Professionen profitieren.

In Kapitel 8 formuliert Tornow als optimistische Perspektive, dass nicht Planung und Organisation über die zukünftige Entwicklung entscheiden werden, sondern ein lebendiger Prozess der Evolution. Er verweist auf die Differenz einer situationsbezogenen Hilfegewährungspraxis von Jugendämtern und einer fachwissenschaftlich fundierten Entscheidung.

Im abschließenden Kapitel 9 stellt Tornow sodann seine Thesen zur Diskussion. Er fordert die Reduktion von Komplexität, etwa durch Entwicklung einer einheitlichen Sprache über Bedarfe, Ziele und Integrationsprogramme. Auch die Schnittstellenarbeit erfordere klare operationale Begrifflichkeiten. Weiterhin bedarf die Jugendhilfe „evidenzbasierter Werkzeuge zum Fallverstehen“, auch zur Gestaltung von Hilfearrangements einschließlich eines wirksamen Krisenmanagements. Gefordert wird ein intelligentes Fachcontrolling – auch, um die Sprachen von Praxis und Management aneinander anzugleichen.

Systemische Demut wird erkennbar, wenn Tornow zugesteht, dass die Jugendhilfe nicht von außen entwickelt werden kann, sondern sich im günstigen Fall selber entwickeln wird. Starke Wirkfaktoren sollten wissenschaftlich erarbeitet werden und könnten der Steuerung dienlich sein. Innovationen sollten wissenschaftlich begleitet und ein Qualitätswettbewerb ermöglicht werden. Ein Klima des Vertrauens, der Fehlerfreundlichkeit und des gemeinsamen Lernens sollte gefördert werden.

Diskussion

Auch Tornow erscheint durch die Komplexität von Jugendhilfe überfordert – wenn er etwa beklagt, dass sich ein „komplizierter und mächtiger Apparat zwischen Staat und Gesellschaft“ entwickelt und etabliert hat – mit schier „unvorstellbaren direkten und indirekten Kosten“. Datenschützer, Behindertenbeauftragte und nicht weiter spezifizierte Vertreter von Fachverbänden erscheinen als Hemmnis. Derartige Positionierungen wirken naiv und sind nicht geeignet, die von ihm geforderte Vertrauenskultur zu befördern.

Nach Einschätzung des Rezensenten hat sich die Kinder- und Jugendhilfe in den beiden vergangenen Jahrzehnten intensiv um eine Adaption von Theorie und Methoden des Qualitätsmanagement bemüht. Oftmals wurden die Möglichkeiten sehr optimistisch gedeutet, auch im Sinne und zum Nutzen der Jugendhilfe, nebenbei auch der Beschäftigten auf adäquate Beschäftigungsbedingungen. Diese Erwartungen wurden vielfältig und vielerorts enttäuscht. Methoden des „Total Quality Management“ (TQM) wurden für Industriebetriebe entwickelt – und eignen sich eher nicht für die kommunale Daseinsvorsorge.

Mit der Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahr 1990 wurden ambitionierte Ansprüche verbunden. Manches erscheint rückblickend hilfreich, manche Hoffnungen allzu idealistisch. Auch die Bereitstellung und Aufbereitung von Statistiken zur Jugendhilfe hat sich im Vergleich der Jahrzehnte erheblich verbessert. Vergleiche hierzu gesetzlich normierte Anforderungen an die Jugendhilfestatistik und deren Aufbereitung, etwa durch die TU Dortmund in Kooperation mit dem DJI. Gleichwohl berührt diese Aufbereitung keine relevante Interessenslagen und leitet kaum relevante Perspektiven oder innovative Impulse für die Kinder- und Jugendhilfe ab. Noch mehr Statistik, wie implementierte und sogar zentral gesteuerte Controlling-Verfahren, lassen aufgrund vorliegender Erfahrungen kaum wirksame Impulse erwarten.

Alle diese Bemühungen führten nicht in eine befriedigenden Situation. Es fehlt offenbar an einer Analyse der Strukturen und Probleme der Jugendhilfe (Träger sind die Kommunen), welche sehr variable Bedingungen aufzeigen. Vielerorts erklärt der Bürgermeister, was ein Sozialarbeiter zu tun oder zu lassen hat.

Weiterhin verwundert die Kostendebatte in dem Sinne, dass Jugendhilfe zu teuer sei bzw. effektiver und effizienter etc. werden müsse. Die Kosten für Erziehungshilfen liegen derzeit bei ca. 7 Milliarden Euro. Pro Kopf der bundesdeutschen Bevölkerung ist also von knapp 90 Euro pro Jahr auszugehen. Wir befinden uns also im Taschengeldbereich halbwegs solventer Familien.

Fazit

Der Einschätzung von Harald Tornow, dass die Jugendhilfe seit ca. 20 Jahren Innovationen vermissen lasse, kann wohl summarisch zugestimmt werden. Insofern erscheint sein Beitrag also notwendig und der Problembeschreibung mag man ansatzweise folgen. Lösungsvorschläge und somit die Skizzierung eines Soll-Zustandes der Jugendhilfe erfolgen jedoch aus einer sehr persönlichen Perspektive. Strukturelle bzw. normative Bedingungen der Jugendhilfe bzw. den Erziehungshilfen nach §27 SGB VIII in Deutschland werden kaum ansatzweise antizipiert.

Rezension von
Dr. Herwig Grote
Dipl.-Soziologe, Systemischer Therapeut / Familientherapeut (DGSF). Langjährige Lehrtätigkeit an Hochschulen der Sozialen Arbeit. Sachverständiger in kindschaftsrechtlichen Verfahren.
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Zitiervorschlag
Herwig Grote. Rezension vom 24.05.2016 zu: Harald Tornow: Wie ist der Jugendhilfe zu helfen? Eine Diagnose. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. ISBN 978-3-7841-2834-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20136.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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