Friederike Eßbach: Schülerbegleiter als "responsive bystander" und "capable guardian"
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 21.03.2016

Friederike Eßbach: Schülerbegleiter als "responsive bystander" und "capable guardian". Eine qualitative Studie über die Wirkung eines Zivilcourage-Projekts aus sozialpsychologischer und kriminologischer Perspektive. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 305 Seiten. ISBN 978-3-8487-2341-6. D: 79,00 EUR, A: 81,30 EUR, CH: 109,00 sFr.
Autorin und Buch
Die Arbeit ist eine Dissertation, die 2014 vom Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig angenommen worden ist. Mit allen Merkmalen, die bei einer Doktorarbeit dazugehören: siebenseitiges Inhaltsverzeichnis, zehnseitiges Literaturverzeichnis, 958 Fußnoten. Was dieses Buch von vielen Dissertationen unterscheidet: Es ist eine erfreulich flüssig und verständlich geschriebene Arbeit! – Über die Verfasserin erfahren wir keinerlei biobibliografische Angaben.
Zivilcourage
Zivilcourage ist eine freiwillige und in der Öffentlichkeit praktizierte Hilfe zum Wohle anderer Menschen (aber auch zur Wahrung der eigenen Würde), ausgeübt unter riskanten Umständen, sowohl was den Erfolg der Intervention als auch was das eigene Wohl betrifft.
Der öffentliche Verstoß gegen Grundsätze der Menschenrechte und Menschenwürde „dauert“ den Zivilcouragierten mehr als das Leid des Opfers und motiviert sein Auftreten, das darum eher gerechtigkeitsorientiert als altruistisch zu nennen ist. Trotz prinzipieller Gewaltfreiheit und Gesetzestreue schließt Zivilcourage Gewalthandlungen und Gesetzesverstöße nicht kategorisch aus. Damit ist „Zivilcourage“ ein eminent politischer Begriff und kann als eine Form der sozialen Kontrolle des mündigen Bürgers in der Zivilgesellschaft des demokratischen Rechtsstaates aufgefasst werden.
Juristische Würdigung von Zivilcourage
Bei der juristischen Einordnung von Zivilcourage legt sich das Buch fest: Als aktives Tun ist sie durch § 32 STGB als Nothilfe (bzw. Notwehr) gedeckt. Kann ausbleibende Zivilcourage unter Umständen nach § 323c STGB als „unterlassene Hilfeleistung“ geahndet werden? Die Arbeit verneint dies; sie unterscheidet „unterlassene Hilfeleistung“ von „unterbliebener Zivilcourage“ und schließt für letztere mit plausiblen „Zumutbarkeits-Überlegungen“ jegliche Strafbarkeit aus.
Was fördert, was hemmt Zivilcourage?
Aus der Prosozialitätsforschung, „Hilfeleistungsforschung“ könnte man auch sagen, wie sie seit den 1960er Jahren betrieben wird, referiert das Buch die wesentlichen Faktoren, die Zivilcourage hemmen und fördern. Unter den blockierenden Faktoren sind vor allem die situativen Hemmnisse zu nennen, die durch die Anwesenheit von „Bystanders“ entstehen. Zu den förderlichen Faktoren gehören vor allem konkrete Fähigkeiten („Erste-Hilfe-Kompetenz“), Selbstvertrauen und ein Selbstwirksamkeitsglauben. Diese Faktoren spielen bei der direkten Hilfeleistung eine große Rolle. Ob dies gleichermaßen für die indirekte Hilfe gilt (Betätigung der Notrufe, um Polizei und Ambulanz zu verständigen) bleibt offen.
Ist Zivilcourage erlernbar?
Da mutiges Sozialverhalten nicht allein von „angeborenen“ Charaktereigenschaften abhängt, sondern von einer Vielzahl sozialer Fähigkeiten und Fertigkeiten („Wahrnehmung“, „Lageeinschätzung“, „Verantwortungsübernahme“, „kommunikative Interventionskompetenz“, „Interventionsfolgenkompetenz“), kann Zivilcourage auch erlernt werden.
Das Buch stellt diesbezüglich zwei Trainings-Konzepte und -Programme vor: das „Göttinger Zivilcourage Impuls-Training“ und das Bochumer Training „Ohne Gewalt stark“.
In beiden Lehrgängen lernt man gewaltfreie Konfliktlösungstechniken kennen und in Rollenspielen anzuwenden. Immer geht es darum, die Passivität in öffentlichen Notsituationen zu reduzieren und aus hilflosen Zeugen und nichthelfenden Gaffern, die gleichwohl gerne helfen würden, kompetente Helfer durch gezielte Ansprache zu machen.
Leipziger Schüler lernen Zivilcourage
Ursprünglich um dem Vandalismus in Leipziger Straßenbahnen vorzubeugen, ist in der sächsischen Stadt das Projekt „SMiLe“ (= „Schüler, Mitarbeiter, integriertes Lernen“ – ja, Akronyme können seltsam sein!) entstanden, das „Schülerbegleiter“ für den öffentlichen Personennahverkehr ausbildet. Aus anderen Großstädten sind ähnliche Projekte bekannt. Schüler werden darin geübt, bei Konflikten in Bussen und Bahnen gewaltfreie und deeskalative Konfliktlösungsmethoden anzuwenden; zu ihrem Selbstschutz erlernen sie Selbstverteidigungstechniken kennen und anwenden; schließlich erhalten sie eine Unterweisung in die rechtlichen Grundlagen ihres Engagements. Wer das Training absolviert hat, wird mit einem Ausweis ausgestattet und tritt dann als „Bus-Engel“, „Peace-Maker“ und „Coolrider“ in Erscheinung.
ÖPNV als prekärer Ort
Der öffentliche Personennahverkehr ist ein Ort, der bei vielen Menschen eine affektive Kriminalitätsfurcht auslöst. Jugendliche nutzen den ÖPNV mehr als andere Altersgruppen und sind häufig sowohl Akteure als auch Opfer und Beobachter von delinquentem Verhalten in Bussen und Bahnen: Pöbeleien, Raufereien, Sachbeschädigungen, Diebstähle, (sexuelle) Belästigungen etc. Darum sind Jugendliche geradezu prädestiniert, in diesem Bereich als „Streitschlichter“ zu wirken und damit sowohl Kriminalität als auch Angst vor Kriminalität zu verringern.
Unter den vielen Ansätzen zur Erklärung kriminellen Verhaltens vertritt der „Routine Activity Approach“ eine spezielle Perspektive: Kriminalität tritt dann auf, wenn ein motivierter Täter auf ein unbewachtes Tatobjekt trifft. Der Volksmund sagt dazu: Gelegenheit macht Diebe. Dieser Ansatz hat für die Kriminalprävention zur Folge, die Tatobjekte besser zu bewachen, und dazu bedarf es geeigneter Bewacher, die „Capable Guardians“ genannt werden. Sie zeichnen sich durch ähnliche Eigenschaften und Fähigkeiten aus, die auch den zivilcouragierten Typus des „Responsive Bystander“ (= hilfreicher Zeuge) ausweisen. Aus der Perspektive der Polizei sind die Leipziger Schülerbegleiter also „Capable Guardians“ im öffentlichen Personennahverkehr; aus der Sicht der Zivilgesellschaft sind sie „Responsive Bystanders“, die hinsehen und überlegt einschreiten statt wegzusehen und panisch davonzulaufen.
Was motiviert die Jugendlichen?
Wer sind die Jugendlichen, welche Motive bewegen sie, sich zum ehrenamtlichen Schülerbegleiter ausbilden zu lassen und anschließend als geschulte Aufpasser und Schlichter aufzutreten und dabei auch brenzligen Situationen nicht aus dem Weg zu gehen? Das Buch endet mit der Zusammenfassung von qualitativen Interviews mit acht Jugendlichen, zwei Mädchen, sechs Jungen, im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Die Verfasserin abstrahiert aus den Gesprächen drei Idealtypen von jugendlichen Helfern:
- Da ist der Idealtyp des „Essentialisten“. – Die Tätigkeit als Schülerbegleiter ist essentieller Bestandteil seines Lebens; der Schülerbegleiter-Ausweis wird wie ein Dienstausweis gehandhabt; von der Tätigkeit erwartet man sich Vorteile für das weitere Leben, vor allem berufliche.
- Da ist der „Hobbyist“. – Schülerbegleiter zu sein ist eine schöne Freizeitbeschäftigung, bei der man neue Leute kennen lernt und viel Spaß haben kann.
- Da ist der „Moralist“. – Für ihn ist der achtsame Umgang in der Öffentlichkeit und das hilfreiche Einschreiten zugunsten anderer eine persönliche Selbstverständlichkeit. Auch ohne zertifizierter Schülerbegleiter zu sein, würde er dies tun.
Für alle Interviewten gleichermaßen gilt: Die Ausbildung zum Schülerbegleiter hat sie reicher gemacht: sie haben an Selbstbewusstsein gewonnen; sie sind aufmerksamer für prekäre Situationen geworden und die Techniken zur gewaltfreien Konfliktlösung haben ihr Handlungsrepertoire erweitert.
Fazit
Die kriminologische Würdigung der – auch empirisch nachgewiesenen - kriminalpräventiven Wirkung von Schülerbegleiter-Projekten bildet das Kernstück des Buches.
Die Schülerbegleiter in Bussen und Bahnen sind sowohl couragierte Helfer in der Not als auch von abschreckender Wirkung auf potentielle Sachbeschädiger, Radaubrüder und Raufbolde. Erfreuliche Agenten des öffentlichen Friedens in Bussen und Bahnen! Und darüber hinaus sind sie aufmerksame und hilfsbereite Staatsbürger, deren Mündigkeit mit den beiden Rollenzuschreibungen als „Responsive Bystander“ und „Capable Guardian“ ein kriminalpräventives Profil erhält.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 21.03.2016 zu:
Friederike Eßbach: Schülerbegleiter als "responsive bystander" und "capable guardian". Eine qualitative Studie über die Wirkung eines Zivilcourage-Projekts aus sozialpsychologischer und kriminologischer Perspektive. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
ISBN 978-3-8487-2341-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20146.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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