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Tobias Bernasconi, Ursula Böing (Hrsg.): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 28.04.2016

Cover Tobias Bernasconi, Ursula Böing (Hrsg.): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung ISBN 978-3-17-023436-9

Tobias Bernasconi, Ursula Böing (Hrsg.): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2015. 289 Seiten. ISBN 978-3-17-023436-9. 40,00 EUR.

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Thema

„Nichts ist in der individuellen Ontogenese eines Menschen, was nicht als Moment allgemeinmenschlicher Entwicklung verstanden und erklärt werden könnte“ (Manfred Jödecke in Anlehnung an Lew. S. Wygotski).

Wie lässt sich Wissen heute enzyklopädisch ordnen? Soll es der Metapher vom Baume, d.h., der hierarchischen Verzweigung von Ober-, Unter- und Nebenbegriffen folgen oder soll es sich des Bildes vom Labyrinth, in dessen kategorialem Zentrum ein Minotaurus lauert, bedienen; oder soll es gar das Dispositiv vom Rhizom, jenes ober- und unterirdischen Wurzelsprosses, der in alle Richtungen wuchert, in einem wächst und stirbt, nicht so sehr direkte Wege, sondern eher Umwege und Abkürzungen kennt, bemühen?

Die AutorInnen der vorliegenden Schrift finden einen anderen Weg. Sie ordnen die Wissensbestände einer Pädagogik bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung, indem sie „transdisziplinäre Figuren“ zeichnen, mit denen es möglich wird, den Gegenstandsbereich des erwähnten Faches in der Einheit von Theorie und Praxis, Disziplin und Profession einfassen oder einrahmen zu können, ohne diesen kanonisieren und letztgültig abschließen zu müssen.

Ziel ihrer insbesondere transdisziplinären Analysen „ist nicht die Auflösung disziplinärer Grenzen, sondern das Einbringen von Transparenz, welche das Diffundieren von Erkenntnissen, Ideen und Vorstellungen mit Blick auf gemeinsame Themen und Fragestellungen ermöglicht“ (S.115). So gelingt es den AutorInnen, der Pädagogik bei schwerer und Mehrfachbehinderung einen Platz innerhalb einer nicht ausgrenzenden Pädagogik zuzuweisen, „ohne eine Abgrenzungsbeziehung zu definieren oder sie auf eine ‚Anwendungswissenschaft einer Allgemeinen Pädagogik‘ zu reduzieren“ (a.a.O).

Aufbau und Inhalt

Die Aufgabe der Überwindung der binären Konstruktion: „Auf der einen Seite eine Disziplin, die sich am Allgemeinen und an Normalitätskonstruktionen orientiert, auf der anderen Seite eine, die das Besondere und das von einer (fiktiven) Norm abweichende fixiert“ (S. 11) durchdringt alle drei Teile des Buches.

So behandelt der 1. Teil disziplinäre Grundlagen und Erfordernisse. Zu diesen gehören neben verschiedenen (begrifflichen) Perspektiven auf „schwere und mehrfache Behinderung“ zunächst historische (zumeist ausgrenzende) Motive und Mechanismen von Ausgrenzung, dann, im Kontext von ICF, Beziehungsstörung, Prozessen sozialer Zuschreibung und Konstruktion des Betrachters auch Grundlagen und Erfordernisse der begrifflichen Rücknahme von Ausgrenzung.

Das 2. Kapitel zeichnet historische Entwicklungslinien der Disziplin nach, die von einer Unterscheidung zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ bis hin zur Notwendigkeit einer (inklusiven) Verhältnisbestimmung von Allgemeiner Pädagogik und Pädagogik bei schwerer und mehrfache Behinderung geführt haben.

An das 2. Kapitel schließen sich drei Kapitel an, die die Ergebnisse intra-, inter- und transdisziplinärer Analysen der theoretischen Grundlagen des Faches referieren. Während das Kapitel 3 auf phänomenologische und konstruktivistische Ableitungen der (und für die) Schwerstbehindertenpädagogik eingeht, beschäftigt sich Kapitel 4 mit pädagogisch anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen.

Die transdisziplinären Analysen des 5. Kapitel machen wohl den kategorialen Kern des gesamten Bandes aus. Die dort ausgeführten „Figuren einer nicht ausgrenzenden Pädagogik“: Ungewissheit, Imperfektibilität, Stellvertretung und Bildung (für alle) dienen als Bezugsmomente der kritischen Durchdringung nicht nur der Disziplin, sondern nachfolgend auch der Profession (Teil 2) und der Handlungsfelder (Teil 3).

Kapitel 7 leitet den 2. Teil (Profession) ein, indem es zunächst das Spannungsverhältnis von (pädagogischer) Theorie und Praxis aufspannt, zuspitzt und reflexionswissenschaftlich wenn nicht auflöst, so doch entspannt. Ähnlich verfahren die AutorInnen mit der kritischen Reflexion der Beziehung von Medizin, Therapie und Pflege, wobei insbesondere der Förderbegriff einer Dekonstruktion unterzogen wird.

Kapitel 8 befasst sich mit Konzepten, Modellen und Methoden einer Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung, die vor dem Hintergrund der konturierten transdisziplinären Figuren einer nicht ausgrenzenden (allgemeinen) Pädagogik in basaler Ausformung kritisch gewürdigt oder aufgehoben werden:

  • Basale Stimulation, sensumotorische Kooperation (Körper- Wahrnehmung- Bewegung);
  • Basale Kommunikation, Elementare Beziehung, Unterstützte Kommunikation (Beziehung- Dialog- Kommunikation);
  • Bildung mit ForMat, entwicklungslogische Didaktik (Didaktische Leitlinie);
  • Rehistorisierung, Diagnostisches Mosaik, Kinderkonferenz u.a. (Diagnostische Zugänge).

Der kritischen Würdigung der aufgeführten Konzepte, Modelle und Konzeptionen werden jeweils übergreifende Schlussfolgerungen, prinzipielle Überlegungen und Übersichten, bzw. verallgemeinernde Abbildungen angefügt, die ein weiterführendes Reflektieren des Lesers anregen.

Der Band schließt mit Teil 3 (Kapitel 9), das Handlungsfeldern im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung gewidmet ist, ab. Lebenslaufbezogen werden ausgewählte Handlungsfelder: Frühe Bildung, schulische Bildung, Arbeit und Wohnen in den Blick genommen, wobei die Themen „Situation der Familien“ und „Sexualität“ sich durch alle Lebensbereiche hindurch ziehen und vom „Bedingungsfaktor Assistenz“ begleitet werden. Am alle Lebensbereiche überspannenden Moment der „kulturellen Teilhabe“ wird exemplarisch deutlich, worum es bei der reflexiven Durchdringung der Handlungsfelder im Sinne einer nicht ausgrenzenden basalen Pädagogik letztlich geht: Nämlich, um den Ausweis von Teilhabechancen und Partizipation für das gelingende Leben eines jeden Menschen.

Diskussion

Die angezielte nicht ausgrenzende (allgemeine) Pädagogik, von der die Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung ein integraler Bestandteil ist, wird von den AutorInnen des Bandes als relationale Wissenschaft untersucht und dargestellt. Das macht es ihnen (potenziell) möglich, grundlegende Begriffe des Faches als Disziplin und Profession: Heteronomie und Autonomie, Stellvertretung und Selbstvertretung, Fremd- und Selbstbestimmung, Imperfektibilität und Perfektibilität, Ungewissheit/Unbestimmtheit und Gewissheit/Bestimmtheit in der dialektischen Bewegung einer gegensätzlichen Einheit abzubilden.

Gleichzeitig wird dem Leser deutlich gemacht, wie schwierig es doch ist, Menschen mit schweren und komplexen Beeinträchtigungen die volle Anerkennung zu zollen (vgl. etwa S. 86). Die Reziprozität von Anerkennung endet nämlich nicht damit, dass Menschen auf der einen Seite vollumfänglich auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind und andererseits diesen für die erwiesenen „Wohltaten“ (scheinbar) nichts oder nichts vergleichbares in der Münze von „Leistung“ zurückzahlen können.

Die genauere, reflexive Betrachtung, zu der der vorliegende Band anregen und beitragen möchte, zeigt allerdings, dass den (stellvertretenden) Helfern auf einer tiefen, existenziellen Ebene geholfen wird, nämlich sich der Intensitäten, der Endlichkeit, Vergänglichkeit, Sinnhaftigkeit des Lebens bewusst zu werden. Das Erleben von Fremdheit und Hilflosigkeit im Angesicht des radikal Anderen kann dazu führen, dass (pädagogische) Erwartungen fallen gelassen werden müssen und sich erst im Hier und Jetzt der (gemeinsam geteilten) sozialen Situation etwas wechselseitig Bereichendes entwickeln lässt.

Zielgruppen

Studierende und Lehrende pädagogischer Fachrichtungen, der Gesundheits-, Pflege- und Sozialwissenschaften; an Reflexion Interessierte helfender Berufe

Fazit

Der von Dr. Tobias Bernasconi und Dr. Ursula Böing, beides Studienräte im Hochschuldienst am Department Heilpädagogik der Universität zu Köln, in der Reihe „Kompendium Behindertenpädagogik“ bei Kohlhammer von Heinrich Greving herausgegebene Band kann als Einladung zum Weiterdenken an einem kohärenten, doch nicht abgeschlossenen Projekt einer „Pädagogik ohne Ausgrenzung“ verstanden werden. Eine Einladung, die zu begeistern und zu inspirieren vermag.

Literatur

Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel (GesamtHg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Kohlhammer, Stuttgart. 1. Auflage 2009- 2014:

  1. Wissenschaftstheorie (2010)
  2. Behinderung und Anerkennung (2009)
  3. Bildung und Erziehung (2010)
  4. Didaktik und Unterricht (2011)
  5. Lebenslage und Lebensbewältigung (2012)
  6. Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen (2011)
  7. Entwicklung und Lernen (2013)
  8. Sprache und Kommunikation (2012)
  9. Sinne, Körper und Bewegung (2011)
  10. Emotion und Persönlichkeit (2014)

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 28.04.2016 zu: Tobias Bernasconi, Ursula Böing (Hrsg.): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2015. ISBN 978-3-17-023436-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20166.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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