Jürgen Klauber, Christian Günster et al. (Hrsg.): Versorgungs-Report 2015, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 07.01.2016
Jürgen Klauber, Christian Günster, Bettina Gerste, Bernt-Peter Robra, Norbert Schmacke (Hrsg.): Versorgungs-Report 2015, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche. Schattauer (Stuttgart) 2015. 352 Seiten. ISBN 978-3-7945-3144-8. D: 54,99 EUR, A: 56,60 EUR, CH: 73,90 sFr.
Thema
Der Report bereitet empirische Daten zu konkreten Fragen der Krankenversorgung sektorübergreifend auf, analysiert sie und ordnet sie gesundheitswissenschaftlich und -politisch ein. Der Schwerpunkt liegt in dieser Ausgabe auf den gesundheitlich relevanten Lebensbedingungen und Krankheiten von Kindern und Jugendlichen.
Herausgeberin und Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Der Report gehört zu einer Publikationsreihe des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Jürgen Klauber, einer der beiden Geschäftsführer des WIdO, bildet zusammen mit zwei seiner MitarbeiterInnen, Bettina Gerste und Christian Günster, sowie dem Medizinprofessor Bernt-Peter Robra und dem Professor für Human- und Gesundheitswissenschaften, Norbert Schmacke, das Herausgeberteam.
Insgesamt sind 53 AutorInnen an dem Sammelband beteiligt: 23 MedizinerInnen, 13 Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen, sechs NaturwissenschaftlerInnen, fünf GesundheitswissenschaftlerInnen bzw. EpidemiologInnen, vier StatistikerInnen so wie jeweils ein(e) Pflege- bzw. SportwissenschaftlerIn.
Entstehungshintergrund
Es ist die vierte Ausgabe des seit 2010 erscheinenden Versorgungsreports. 2016 werden die Krankenkassen in den Präventionsparagrafen des für sie maßgeblichen Sozialgesetzbuches V (SGB V) auf das Gesundheitsziel „gesund aufwachsen“ verpflichtet mit den drei Schwerpunkten „Lebenskompetenz, Ernährung, Bewegung“. Die Beiträge im Schwerpunkt des vorliegenden Versorgungsreports wollen auch Impulse setzen für die Umsetzung dieser Bestimmung.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Teile:
- Am umfangreichsten ist der erste Teil mit dem Schwerpunktthema Kinder- und Jugendliche (290 Seiten) mit 14 Beiträgen.
- Der zweite Teil „Krankheits- und Behandlungsmonitoring“ (76 Seiten) umfasst drei Beiträge.
- Die 45 Seiten des dritten Teils „Daten und Analysen“ beschäftigen sich mit methodischen Grundlagen und Auswertungen von AOK Prozessdaten.
Inhalt
In das Schwerpunktthema führen Petra Rattay, Kristin Manz und Hannelore Neuhauser ein, indem sie einen Überblick über Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) geben. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte 2003 bis 2006 bundesweit repräsentative Daten zur Gesundheit der unter 18jährigen erhoben. Die Autoren konnten für ihre Analyse auch die Ergebnisse der ersten Wiederholungsbefragung verwenden und insgesamt positive Entwicklungen beobachten. Anschließend analysiert Jutta Spindler vom Statistischen Bundesamt die Diagnosedaten von 2001 bis 2013 und die Fallpauschalen(DRG)-Statistik der Krankenhäuser von 2005 bis 2013 mit Blick auf die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Die Daten informieren nicht nur über Operationshäufigkeiten und geschlechtsspezifische Unterschiede, sondern erlauben auch die Prognose, dass die Abteilungsstrukturen der Krankenhäuser den sinkenden Behandlungszahlen angepasst werden müssen. Daten über die Verordnung von Arznei- und Heilmitteln für Kinder und Jugendliche bilden die Grundlage für die drei folgenden Beiträge. Thomas Michael Kapellen von der Universitätsklinik Leipzig vergleicht zusammen mit Carsten Telschow und Anette Zawinell vom WIdO die Arzneimittelverordnungen des Jahres 2013 mit denen des Jahres 2004. Sie problematisieren den Arzneimitteleinsatz außerhalb der Zulassung und das Fehlen von qualifizierten Studien über die Wirkung von Arzneimittelinnovationen bei Kindern und leiten daraus die Forderung nach mehr Langzeitstudien dazu ab. Mehr kontrollierte Evidenz, Transparenz und Qualitätssicherung, das sind die Schlussfolgerungen von Andreas Waltersbacher und Joachim Klose aus ihrer Analyse von Abrechnungsdaten aus 2013 für Ergo-, Sprach- und Physiotherapie von AOK-versicherten Kindern. Es werden auch die Entwicklung der Verordnungen seit 2006 und regionale Unterschiede in den Verordnungen dargestellt. Gleich acht Autoren beschäftigen sich mit Trends bei Verordnungen von Antipsychiotika bei Kindern und Jugendlichen. Die Auswertung von Verordnungen für AOK- bzw. TK-versicherten Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren lässt einen hohen Anteil an Langzeitverordnungen erkennen und wirft für die Autoren Fragen nach der Qualität der Indikationsstellung auf.
Hyperkinetische Störungen (HKS) bei Kindern werden inzwischen sachgerecht diagnostiziert, es gibt aber regionale Besonderheiten: Das ist das Ergebnis der Auswertung von Routinedaten der AOK zu Prävalenz und medikamentöser Behandlung von Kindern mit HKS von Christiane Roick und Andrea Waltersbacher. Christian Bachmann und Falk Hoffmann analysieren die Routinedaten von Versicherten der AOK bis 24 Jahre mit Autismus-Spektrum-Störungen und finden dabei „einen signifikanten Anteil an Fehldiagnosen“ (S. 182). Die Forderung nach breitenwirksamen Strategien der Verhältnis- und Primärprävention insbesondere bei jungen Familien ist das Ergebnis der Beschäftigung von Martin Wabitsch und Anja Moß mit dem Thema Adipositas bei Kindern und Jugendlichen.
Drei weitere Beiträge analysieren Versorgungsdaten klinischer Probleme. Jochen P. Windfuhr und Bettina Gerste fällt bei Mandeloperationen auf, „dass bei etwa der Hälfte der Personen die Möglichkeiten einer konservativen Therapie (insb. Antibiotika, A.M.) nicht vollends ausgeschöpft wurden“ (S. 199). Erhebliche regionale Unterschiede bei der Indikation für Blinddarmoperationen bei Kindern fallen Udo Rolle und Matthias Maneck bei der Analyse von AOK-Daten auf. Die Sorge um vermeidbare Strahlenbelastungen für Kinder wegen unnötiger Computertomographien (CT) oder Magnetresonanztherapien (MRT) bringt das Autorenteam um die Epidemiologin Maria Blettner zu der Überlegung, zumindest für Hochrisikogruppen den Röntgenpass verbindlich vorzuschreiben.
Die drei abschließenden Beiträge dieses Kapitels beschäftigen sich mit der Praxis von Prävention und Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen. Eine bessere Evidenz und Qualitätssicherung der Maßnahmen fordern die Sozialmediziner Ulla Walter und Sebastian Liersch in ihrem Beitrag. Zwei MitarbeiterInnen vom Gesundheitsamt Aachen zeigen dann, dass das Gesundheitswesen allein die Defizite bei benachteiligten Kindern nicht auffangen kann. Schließlich wirbt Frederick Groeger-Roth vom Landespräventionsrat Niedersachsen für die „Grüne Liste Prävention“ als einer wichtigen Orientierungshilfe für Praktiker.
Im zweiten Teil stehen Versorgungsanalysen im Focus. Bettina Gerste vom WIdO und Christiane Roick vom AOK Bundesverband stellen bei der Beschäftigung mit Prävalenz und Inzidenz von Depressionen fest, dass sich der Anstieg deutlich verlangsamt und die Therapeuten die Schwere der Depression zunehmend spezifischer Kodieren. Das Autorenteam um die Volkswirtin Antje Freytag kann zeigen, dass das Monitoring von Qualitätsindikatoren einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Depression leisten kann. Unterschiedliche Therapieansätze zur Behandlung von Prostataleiden haben die AOK veranlasst, dafür Qualitätsindikatoren zu erarbeiten und im Rahmen der Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) zu beobachten. Das Autorenteam um die WIdO-Mitarbeiterin Hanna Leicht findet bei der Analyse dieser Daten erhebliche Unterschiede in den Behandlungen und plädiert für eine umfassende Information der Patienten über Komplikationen.
Diskussion
Analysen auf der Grundlage des Soziökonomischen Panels (SOEP) geben Anlass zur Hoffnung, dass die Deutschen bis 2050 gesünder und weniger behandlungsbedürftig als heute sein werden. Damit diese Chance genutzt werden kann, ist es richtig, schon ab der Schwangerschaft auf gesundheitsförderliche Verhältnisse zu setzen. Die Beiträge im Schwerpunktthema liefern dazu problemorientierte Ansätze für Praktiker und Entscheider auf der Grundlage qualifizierten Datenmaterials.
Die Region ist relevant für die Indikation: Dieser Befund zieht sich durch mehrere Beiträge, ohne dass medizinische Begründungen dafür geliefert werden können. Es wird erkennbar, dass die Qualität der Indikationsstellung durch Ärzte ein Kernproblem des deutschen Gesundheitssystems ist. Dass dahingehende Aussagen sehr vorsichtig formuliert sind, hängt auch mit der Datenlage in Deutschland zusammen. Der Datenschutz verbietet häufig die Zusammenführung vorhandener Daten, auch wenn diese nicht mehr Personen zugeordnet werden können. Dieses Potenzial für Analysen dürfen die Autoren des Bandes wie alle anderen Wissenschaftler nicht nutzen. Datentrennung und Datenvernichtung sind kein Selbstzweck, sondern müssen dem Schutz der Menschen dienen. Um die Versorgung zu verbessern ist es in vielen Fällen aber sinnvoller, Versorgungsdaten für wissenschaftliche Analysen in anonymisierter oder pseudonymisierter Form zu nutzen. Der vorliegende Band zeigt, wie wichtig Versorgungsforschung für die Verbesserung der Versorgung ist. Eine Verbesserung der Datengrundlage ist sinnvoll und möglich, ohne dass berechtigte Datenschutzinteressen aufgegeben werden müssen.
Fazit
Mit Bedacht fällt das Erscheinen des Bandes mit dem Inkrafttreten des Präventionsgesetzes zusammen. Darin hat der Bund auch die Rahmenbedingungen geschaffen, unter denen die Verantwortlichen in den Ländern und Kommunen mit Verantwortlichen aus dem Gesundheitswesen die Lebensverhältnisse gesundheitsförderlich umgestalten können. Die Analysen des Versorgungsreports liefern dafür gute Grundlagen. Außerdem liefern die Versorgungsanalysen Beispiele, wie die Versorgung in Deutschland weiter verbessert werden kann.
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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Zitiervorschlag
Andreas Meusch. Rezension vom 07.01.2016 zu:
Jürgen Klauber, Christian Günster, Bettina Gerste, Bernt-Peter Robra, Norbert Schmacke (Hrsg.): Versorgungs-Report 2015, Schwerpunkt Kinder und Jugendliche. Schattauer
(Stuttgart) 2015.
ISBN 978-3-7945-3144-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20178.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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