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Florian Weber, Olaf Kühne (Hrsg.): Fraktale Metropolen

Rezensiert von Dr. Rainer Neef, 19.04.2016

Cover Florian Weber, Olaf Kühne (Hrsg.): Fraktale Metropolen ISBN 978-3-658-11491-6

Florian Weber, Olaf Kühne (Hrsg.): Fraktale Metropolen. Stadtentwicklung zwischen Devianz, Polarisierung und Hybridisierung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2015. 391 Seiten. ISBN 978-3-658-11491-6. D: 69,99 EUR, A: 71,95 EUR, CH: 72,00 sFr.

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Thema

Als Metropolen gelten große Städte einschließlich ihres Umlandes, die eine weit reichende ökonomische und auch kulturelle Strahlkraft besitzen. Hauptstichworte der Herausgeber in der Einleitung sind:

  • Fragmentierung, teils in Form von Polarisierung, z.B. in Elitenquartiere und Stadtviertel der „Postmodernisierungsverlierer“ (also der durch De-Industrialisierung aus dem Beschäftigungssystem Ausgegrenzten), teils im Nebeneinander von ökonomisch absteigenden Gebieten und solchen mit dynamischen oder innovativen Unternehmen;
  • Hybridisierung als Nebeneinander sozial und kulturell bestimmter Lebensformen, die sich verändern ohne sich anzugleichen;
  • das Mosaik solch unterschiedlicher Formen gilt als „Fraktalisierung“.
  • Es geht weiterhin um Devianz, also Ausschreitungen und Kriminalität vor allem in ‚Verlierer-Vierteln‘ und bei den dort nachwachsenden Jugendlichen;
  • um individualisierte Lebensverläufe und neue städtische Kulturen, oft einher gehend mit sozialen Spannungen;
  • und um „neue Governance“, also die Rücknahme staatlicher Lenkung und das Hervortreten von Marktlogik in der Stadtentwicklung.

Aufbau

Die Hälfte des Buchs – acht Beiträge – sind entsprechenden Entwicklungen großer französischer Städte gewidmet, zumeist den Banlieues (mal im weiteren Sinne als verstädtertes Umland, mal im engeren als Sozialwohnungs-Problemsiedlungen mit ihren Unruhen) sowie einer darauf bezogenen Subkultur (Rap); behandelt werden auch die französische Stadtpolitik und neue Wohnformen.

Zehn Beiträge betreffen Theoretisches (ökonomischer Hintergrund oder Alltagsästhetik des städtischen Raums) oder gehen empirisch auf einzelne der obigen Themen ein mit Bezug auf ganze Länder („Soziale Stadt“ in Deutschland, Stadtpolitik in Großbritannien) oder einzelne Metropolen (postkommunistisches Warschau; Unruhen in Los Angeles; Selbstsicht von Bewohnern mexikanischer Herkunft in San Diego; Muslim-Hip-Hop in Saõ Paulo); zwei Beiträge dienen Besonderheiten (Nutzungsweisen in Parkanlagen; Segregation auf dem Dorf).

Herausgeber

Olaf Kühne ist Professor für ländliche Entwicklung/ Regionalmanagement an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und apl. Professor an der Universität Saarbrücken; Florian Weber ist wiss. Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf.

Französische Metropolen

Eine Besonderheit französischer Großstädte sind die (historisch bedingt) engen Grenzen der Kernstadt (von Weber und einigen ÜbersetzerInnen missverständlich „Stadtzentrum“ genannt); in ihrem Umland, der „banlieue“, liegen viele selbständige Gemeinden bis hin zu Mittelstädten, mit eigenen Gewerbezonen, Sozialwohnungssiedlungen und Eigenheimgebieten. Sehr nützlich ist die Einführung (32 S.) von Florian Weber. Er resümiert kurz die chaotische Entstehungsgeschichte des vorstädtischen Umlandes, charakterisiert den umfassenden Bau von Sozialwohnungssiedlungen – vorzugsweise von Form von „Türmen und Riegeln“ – und eine dort seit den 1970er Jahren zunehmende Tendenz zur Konzentration von Armutsbevölkerungen, und verweist auf die Entstehung von Eigenheimsiedlungen (dies aber schon seit den 1920er Jahren!) und von städtebaulichen Großvorhaben. Ausführlicher behandelt er die Phasen der auf die Großwohnsiedlungen bezogenen Stadtpolitik; Perioden expliziter Quartierspolitik vor allem nach Unruhen in Sozialwohnungssiedlungen (schon 1981!) wechselten mit Versuchen einer gesamtstädtischen Politik. Neben Sanierungs-, Um- und Neubauvorhaben gingen auch Maßnahmen wie Bildungs-, Jugend- und Sicherheitspolitik in Entwicklungsverträge zwischen Staat und Gemeinden ein. Da aber bis heute soziale und ökonomische „Problemlagen politisch als Probleme bestimmter Gebiete gefasst“ wurden und deren strukturelle Ursachen nicht angegangen wurden, gälten sie bis heute als Gefahrengebiete und „Frankreichs offene Wunde“ (S. 48). Dies wird veranschaulicht in fünf „Exkursen“ (Lebensverhältnisse in verschiedenen Quartieren, Immobilienpreise, Medien-Diskurs).

Nützlich ist auch das folgende Nebeneinander von zwei Beträgen: Susanne Freitag-Carteron schildert etwas spektakulär Bewohner-Erleben, Drogen- und Kriminalitätsprobleme und Stigma und Abschottung zweier Großwohnsiedlungen („Cités“ im Raum Paris und Toulouse); trotz baulicher (nicht: bildungsmäßiger oder sozialer?) Verbesserungen im Verlauf von 20-30 Jahren habe sich im politischen Auf-und-Ab und im Schwanken zwischen Revolte, Hoffnung und Resignation in französischen Cités eine „Mikrogesellschaft“ mit heute „völlig vergiftetem“ Klima gebildet. Der Überblick von Hervé-Vieillard-Baron über die Banlieue rückt dieses Bild zurecht. Im Umkreis der großen französischen Städte hatten sich seit Mitte des 19. Jh.s „störende Aktivitäten“ (z.B. Deponien, Güterbahnhöfe), Industrien und Arbeiter-Wohnen kostengünstig und ungeregelt zusammengefunden. Bis zu zwei Dritteln der Agglomerationsbevölkerung wohnen heute im Banlieue-Bereich, einem Gemisch von Problem-Cités, ruhigeren Sozialbau- und Eigenheimsiedlungen, hochwertigen Wirtschaftsaktivitäten und „Gated Communities“ (eher: Oberklassen-Wohnorten!), alten und neu entwickelten Mittelstädten, Einkaufszentren und Grün- und Freiflächen; die Leistungsfähigkeit der Gemeinden variiert enorm. Seit den 1960er Jahren hat der Zentralstaat die Planung an sich gezogen; zuletzt wurden „urbanisierte“ Planungsgebiete festgelegt, 2016 die „métropole Grand Paris“ mit 6,5 Mio. Ew. Vieillard-Baron betont, es gebe zwar Armuts- und Problemgebiete des sozialen Ausschlusses mit Wegzug der Mittelklassen, in denen „jeder für sich“ lebe; auch wenn der Staat die Ursachen von sozialem Ausschluss nicht angegangen sei, seien sie keine „Ghettos“, denn sie enthielten eine äußerst heterogene Bewohnerschaft.

Die weiteren fünf Beiträge überschneiden sich zum Teil, vor allem in der (Negativ-) Charakterisierung der französischen Stadtpolitik.

  • Gut an Vieillard-Baron schließt der Beitrag von Hervé Marchal, Jean-Marc Stébé und Marc Bertieran, die „Ghettoisierung“ und Gentrifizierung am Beispiel einer heute wohlhabenden mittelgroßen Vorstadt bei Paris mit einer kleineren Problem-Cité bei Nancy vergleichen. Levallois-Perret, über 140 Jahre eine „Bastion der Arbeiterklasse“ v.a. mit Auto-, Flugzeug- und Parfümindustrie, ist durch De-Industrialisierung und die räumliche Nähe zu Paris und zur Seine zu einem Standort internationaler Konzerne und luxuriösen Wohnens und Konsumierens geworden. Die Sozialwohnungssiedlung „La Californie“, wie unzählige andere nach Schema konzipiert, erlebte trotz mehrfacher Renovationen, Teilabrisse und Neubauten einen Niedergang, der soziale Abstand zu Nancy wächst ständig. Intern grenzen sich die Bewohner voneinander ab, sehr verachtet ist ein Hochhaus mit besonders vielen Armutshaushalten, die Autoren sprechen hier von „Ghettoisierung“.
  • Thomas Kirszbaum kritisiert die französische Stadtpolitik als widersprüchlich, da sie teils soziale und ethnische Ungleichheit reduzieren will, teils soziale Mischung durch (Mittelschichten-) Zuzug in die schwierigen Quartiere anstrebt, „als ob sie Teil einer anderen Welt wären“ (S. 122). Als unendliche Fortsetzung von immer wieder kritisierten Maßnahmen setze sie zunehmend auf top-down-Verfahren und erkenne nicht die „Andersartigkeit“ der Bewohnerschaft an (unklar: was könnte aus einer solchen Anerkennung folgen?).
  • Laurent Mucchielliteilt aus seinen Untersuchungen der Unruhen ab 2005 mit, die hier beteiligten Jugendlichen zielten mit ihrer Militanz auf Respekt und auf Teilhabe an allgemeingesellschaftlichen Regeln und Standards, und sie fänden darin die Solidarität der MitbewohnerInnen. Für die Gruppen mit Migrationshintergrund gebe es kein adäquates politisches Spielfeld; die Stadtpolitik suche zudem in der Bewohnerschaft nur Verantwortliche für eine Unterstützung ihrer Maßnahmen. Er erwähnt auch die (medial übrigens sehr erfolgreiche) Hip-Hop-Kultur als demonstrative Opposition gegen die wachsende Islamfeindschaft in Frankreich.
  • Andreas Tijé-Dra analysiert die Texte von Rappern; in speziellen Cités verwurzelt, sind sie politisiert, aber nicht politisch in ihren Mitteilungen über das ‚Banlieue‘-Leben und in ihrer Legitimation eigener Gewalt gegenüber der Macht-Überlegenheit des Staats. Die Interpretationen werden umkleidet mit einem unverhältnismäßigen theoretischen Aufwand.
  • Auf Mittelschichten geht Claire Carriou ein, allerdings auf die spezielle Frage der (mittelschichtsdominierten) Gemeinschafts-Wohnprojekte. Die noch recht punktuelle Bewegung ist teils selbstorganisiert mit Unterstützung lokaler Akteure, bildete teils neue Genossenschaften des sozialen Wohnungsbaus, und ist teils von Trägern des sozialen Wohnungsbaus unterstützt und dann weitgehend vereinnahmt. Sie entwickelt sich nur schleppend vor allem wegen Finanzierungsproblemen, trotz der immer noch umfangreichen Förderung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich und trotz eines Fördergesetzes.

Metropolen – Theorien und internationale Beispiele

Die zweite Hälfte des Buchs ist etwas bunt gescheckt. Im ersten eher theoretischen Teil greift Martin Schneider zunächst weit aus – Bewegungs- Handlungs-, Wahrnehmungs- und „Stimmungs“-Raum als menschliches „Existential“ – und unterscheidet dann klar: Raum als Gemeingut und Gebrauchswert ist historisch stärker verbreitet und wird in der Neuzeit durch den Staat als kollektives Recht erhalten. Raum als Privateigentum und Tauschwert ist von Beginn an durch Machtverhältnisse entstanden. Beide Formen verbinden sich mit Eingrenzungen und Ausschlüssen von der Nutzung. Die Durchsetzung privaten Boden- und Immobilieneigentums wird heute als selbstverständlich akzeptiert und ist in großen Städten stark auf dem Vormarsch. Öffentliche Güter und erst recht Gemeingüter müssen als kollektives Recht geschützt werden, obwohl sie breiten Nutzen stiften; in Zeiten sozialstaatlichen Rückzugs erfordert ihre Verteidigung vor allem bürgerliche Selbstorganisation. – Undeutlicher die beiden anderen Beiträge mit Theoriebezug. Rainer Kazig stellt ästhetische Wahrnehmung als emotionale und handlungswirksame Konstruktion von Bedeutungen vor. Bei Begegnungen in multikulturell geprägten Räumen würden fremdartig erscheinende Personen rasch stigmatisiert – ein „symbolischer“ Beitrag zu sozialer Polarisierung. Leider wird dieser gute Gedanke nicht entwickelt, es folgen undeutliche Ausführungen zu Gartengestaltung und gestaltlosen Ortszentren.

Auch Diedrich Bruns hebt zunächst auf das Zusammenleben verschiedener Kulturen ab, welches Vorurteile verstärken oder abschwächen könne. Seine folgenden Informationen über die unterschiedliche Nutzung öffentlicher Parks durch verschiedene Herkunftsgruppen bleiben aber auf der Oberfläche.

Thematisch neben der Spur, aber lebensnah und präzise beschreibt Simone Linke Segregation als Folge „postmoderner“ Entwicklungen (das ist historisch irrig – vgl. z.B. Ilien/ Jeggle, 1978) in einem niederbayerischen Dorf. Dies drückt sich aus in einer Spaltung in Kulturen dreier Ortsteile (konservativ; jung und gutgestellt; eher ökologisch-alternativ) mit jeweils innerem Zusammenhalt und losen äußeren Bindungen. Interessant wird die gestellte Frage nach ‚Dorfgemeinschaft‘ einerseits angesichts der guten Akzeptanz des Pfarrers mit indischer Herkunft, andererseits der (nach ersten Ängsten) guten Kooperation zweier Dorfteile zur Unterstützung der Bewohner eines Asylsuchenden-Heims im Dorfkern.

Es gibt zwei Beiträge zu Stadtpolitik. Stephen Hall geht aus von der historischen Spaltung Großbritanniens in einen prosperierenden Südosten und in die Mitte und den Norden mit großen Armutsproblemen. Die Politik, schon in den 1970er Jahren mit verstärkten lokalen Investitionen in Armutsgebieten aktiv, reagierte zunächst sehr aufmerksam auf die städtischen Unruhen der 1990er Jahre – und mit De-Thematisierung und Repression auf die Unruhen 2011. Dennoch würden bis heute erhebliche Mittel aufgewendet – selbst in der Ära Thatcher, als mit mäßigem Erfolg erhebliche staatliche ‚Lücken-Ressourcen‘ für private Investitionen in Problemgebiete aufgebracht worden seien, unter weitgehender Ausschaltung der Kommunen. Nicht viel erfolgreicher die nachfolgende Regierung Major mit der Einführung eines interkommunalen Wettbewerbs um Fördermittel. ‚New Labour‘ erscheine mit der Verbindung von staatlichen Investitionen und der Förderung von „employability“ und verbessertem lokalem Problemmanagement erfolgreicher – doch die Verbesserung der Lebensqualität in den Gebieten entspreche dem Landestrend. Konservative Stadtpolitik habe nach 2011 nur noch Rest-Programme in mittel- und nordbritischen Städten hinterlassen, die zugleich von der Austeritätspolitik am stärksten belastet wurden. -

Thomas Franke und Olaf Schnur versuchen (stark verkürzt) liberale, sozialliberale und kommunitaristische Diskurse auf das Programm „Soziale Stadt“ zu beziehen. Dessen Ziele seien vor allem Wohn- und Wohnumfeld-Verbesserung, Verbesserungen bei Quartiersschulen und (mit wenig Erfolg) die Stärkung von lokaler Versorgung und Migrantenbetrieben. In der Durchführung würden die strukturellen Probleme überspielt, es fehle eine Einbettung in allgemeine Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sodass die Wirkungen gering blieben.

Übersichtlich zeigt Olaf Kühne anschließend den Übergang Warschaus von 40 Jahren forçierter sozialistischer Modernisierung – die immerhin „klare ästhetische Signale“ gesetzt habe – zu einem postsozialistischen städtebaulichen Postmoderne-„Patchwork“, einem regellosen Nebeneinander von neuen Konzern-Hochhäusern und (angeblich) 400 Gated Communities (d.h. gesicherten Siedlungen), Handelszentren auf der grünen Wiese und informellen Freiluftmärkten, und überall verstreuten riesigen Reklametafeln.

Über den Atlantik springt dann Kühnes Darstellung der 1992er-Unruhen in Los Angeles. Der Konflikt sei durch Polizeigewalt ausgelöst, aber habe sich gewendet in eine vorurteilsbehaftete Konfrontation mit koreanischen Ladenbesitzern, deren Geschäfte geplündert und zerstört wurden. Hintergrund sei der soziale Abstieg vor allem afroamerikanischer Niedriglohn-Jobber (ein Abstieg, der neuerdings auch Latinos treffe). Politik und Medien hätten stereotyp ‚die Schwarzen‘ inkriminiert, und rassistische Vorurteile hätten sich verstärkt. Eine nachfolgende Verdrängung verarmter Afroamerikaner an den Rand der Agglomeration wird nicht weiter erklärt. Wenig plausibel wird Popitz´ Macht-Theorie in Anschlag gebracht – passender wäre Mertons (1938/ 1992) Anomie-Theorie.

Antje Schönwald beschreibt die Gruppierung und neue Selbstsicht der „Chicanos“, mexikanischer Einwanderer in eigenen Stadtvierteln von San Diego (US-amerikanischer Städtezwilling neben Tijuana).

Shadia Husseini de Araújo schließlich stellt eine muslimische Hip-Hop-Kultur in Favelas von Saõ Paulo vor. Ein einheimischer Islam, u.a. inspiriert von afro-amerikanischen „Black Muslim“ Malcolm X, zeige sich als widerständig, egalitär, Respekt-vermittelnd, gegen Reichtums-Anhäufung und auf Wohltätigkeit gerichtet, und sei teilweise, in Abgrenzung zum politischen Islam, offen für Nicht-Muslime. Schwarz-Sein, Islam und Widerstand würden in eins gesetzt als „gewaltfreie“ Kritik an postkolonialen kapitalistischen Gesellschaften.

Fazit

Das Buch hat einen abschreckenden Titel und einen ebensolchen Preis. Es hat das Verdienst, Frankreichs Problemgebiete in den Vordergrund zu stellen und, eher indirekt, einiges zur Erhellung der Hintergründe von Gewalt und politischer Resignation in diesem Land beizutragen. Es enthält einige substanzielle Beiträge (vor allem Weber, Vieillard-Baron, Marchal u.a., Mucchielli, Schneider und Hall), es ist streckenweise gut und anschaulich gemacht mit lebendigen Schilderungen und teils ausdrucksvollen Fotos.

Die Artikel sind im Frankreich-Abschnitt gut aufeinander bezogen, aber hätten stärker aufeinander abgestimmt und diskutiert werden sollen: Was impliziert „Ghetto“ (bestritten von Vieillard-Baron), was „Ghettosierung“ (behauptet von Marchal u.a.)? Geht es in den schwierigen Banlieue-Cités um die Anerkennung von Andersartigkeit (Kirszbaum) oder um den Anspruch staatsbürgerlicher Normalität (Mucchielli) der Bewohner?

Der zweite Abschnitt ist eher ein Sammelsurium, etwas oberflächlich zusammengehalten von Theorie-Ansprüchen – Anspielungen eher als Anwendungen. Aber er bringt einige interessante Informationen und überraschende Einsichten über den Verfall staatlicher Stadtpolitik, über die chaotischen Aspekte einer von Märkten abhängigen Stadtentwicklung, über einige Hintergründe städtischer Unruhen, und über neue Bewohnerkulturen im unteren sozialen Spektrum – und jenseits der Thematik: über Trennungen und Kooperationen in einem deutschen Dorf. Viele Beiträge kritisieren die Stadtpolitik, ihren beträchtlichen Mitteleinsatz und ihre geringe Wirkung in Armuts- bzw. Migrantenvierteln; hier wäre die Frage am Platz, ob nicht auch viele AutorInnen eine auf das Quartier verengte Sicht haben, die sie der Politik vorwerfen. In Deutschland haben El-Mafaalani und Kurtenbach (2015) erstmals die Frage mit – zugestanden noch dürftiger – empirischer Evidenz unterlegt, ob nicht gerade der Erfolg von (hier: Bildungs-) Maßnahmen die schwierigen Quartiere in ihrer Situation fixiere: indem die erfolgreich Geförderten so rasch wie möglich fortzögen.

Literatur

  • El-Mafaalani, Aladin und Sebastian Kurtenbach (2015): Das Raumparadox der Bildungspolitik. In: El-Mafaalani, A.; u.a. (Hrsg.): Auf die Adresse kommt es an… Weinheim: Beltz/ Juventa, S. 254-263
  • Ilien, Albert; Jeggle, Utz (1978): Leben auf dem Dorf. Opladen: Westdt. Verlag
  • Merton, Robert K. (1992): Sozialstruktur und Anomie. In: ders.: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 127-144

Rezension von
Dr. Rainer Neef
bis 2010 akad. Oberrat für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie der Universität Göttingen
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Es gibt 10 Rezensionen von Rainer Neef.

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ISSN 2190-9245