André Lohse: Antiziganismus und Gesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 29.08.2016

André Lohse: Antiziganismus und Gesellschaft. Soziale Arbeit mit Roma und Sinti aus kritisch-theoretischer Perspektive. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2015. 238 Seiten. ISBN 978-3-658-11515-9. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Kaum eine Form des kollektiven Menschenhasses ist in Europa so weit verbreitet und zugleich so wenig erforscht wie der Antiziganismus. Mit dem Buch „Antiziganismus und Gesellschaft“ von André Lohse liegt nun die erste Monographie vor, die das Phänomen aus der Perspektive der kritischen Gesellschaftstheorie erklärt.
Autor
André Lohse vertritt zurzeit eine Professur an der Abteilung Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Kiel. Entstanden ist sein Buch im Rahmen einer Promotion an der Universität Hamburg im Fach Erziehungswissenschaften.
Entstehungshintergrund
Grundlegend für die noch junge Antiziganismusforschung ist die Erkenntnis, dass es sich beim Antiziganismus um eine basale Ressentimentstruktur der europäischen Gesellschaftsgeschichte handelt, deren Spezifik auf die Konstitutionsprinzipien nationalstaatlich verfasster, bürgerlicher Arbeits- und Disziplinargesellschaften verweist. Wie aber der gesellschaftliche Konstitutionszusammenhang im Einzelnen zu begreifen ist, der das antiziganistische Ressentiment hervorruft, ist noch ungeklärt. Genau hier setzt die Studie an.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Kapitel.
Ausgehend von Nietzsches Psychologie des Ressentiments und diese aus der Perspektive der Kritischen Theorie, der Freudschen Psychoanalyse und der Foucaultschen Machttheorie gesellschafts- wie subjektkritisch wendend, führt Lohse die Permanenz des Ressentiments gegen Roma und Sinti auf das unbewusste Leiden des bürgerlichen Subjekts am gesellschaftlichen Realitätsprinzip zurück. Der „Antiziganismus in der bürgerlichen Gesellschaft“ – so der Titel des ersten Kapitels – setzt sich in der nachbürgerlichen Welt nicht nur fort, das Ressentimentpotenzial verstärkt sich sogar noch, wie Lohse im zweiten Kapitel mit Bezug auf Herbert Marcuses berühmte These von der Eindimensionalisierung des menschlichen Lebens in fortgeschrittenen Industriegesellschaften darstellt.
Dass Soziale Arbeit, deren hegemoniale Funktion Lohse mit einem Begriff von Erich Fromm als „Agentur der Gesellschaft“ bestimmt, nicht nur an antiziganistische Wissensbestände anknüpft, sondern auch aktiv an der Erhöhung des antiziganistischen Ressentimentpotenzials mitwirkt, zeigt der Autor im dritten Kapitel des Buches.
Inhalt
Es gehört zu den Basics der aus der Kritischen Theorie hervorgegangenen psychoanalytischen Sozialpsychologie, dass der psychische Abwehrmechanismus der Projektion ein Konstitutionsmerkmal nicht nur des antisemitischen, sondern auch des antiziganistischen Ressentiments ist. Das Subjekt des Ressentiments überträgt gesellschaftlich tabuierte Regungen, die es in sich selbst verleugnen muss, auf das Objekt des Hasses, um sie als vermeintliche Charakter- oder Kultureigenschaften des Objekts an diesem genießen und zugleich bekämpfen zu können. Der Unterschied zwischen den Ressentimentphänomenen liegt nicht in den Projektionsmechanismen, sondern in den Projektionsinhalten. Umstritten ist, um welche Projektionsinhalte es sich im Einzelnen handelt und wie deren gesellschaftliche Genese zu erklären ist. Hier hat sich in der Antiziganismusforschung in den letzten Jahren eine spannende Diskussion entwickelt, die auch für die Antisemitismus- und Rassismusforschung wichtig sein könnte. So unterscheidet Markus End in seinem Versuch, die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno als Antiziganismuskritik zu lesen, idealtypisch eine Trias an Ressentimentstrukturen, die er für die moderne Gesellschaft insgesamt für zentral hält. Bestehe die dominante Sinnstruktur des Antisemitismus in Projektionen von „Überzivilisation“ – „Juden“ als Personifikation des gesellschaftlichen Identitätszwangs -, des (post-)kolonialen Rassismus in Projektionen von „Naturhaftigkeit“ – „Schwarze“ als kraftstrotzende animalische Naturwesen –, so die des Antiziganismus in Projektionen von „Vorzivilisation“ – „Zigeuner“ als Repräsentanten einer archaisch-primitiven Lebensform. Demgegenüber betont Sebastian Winter das Versprechen sexueller Freiheiten und ungebändigt gefährlicher Geschlechtlichkeit, das im antiziganistischen Phantasma besonders ausgeprägt sei. Repräsentiere „der Jude“ die Entfremdung der Zivilisation und ihre abstrakte Herrschaft, der „Schwarze“ eine im Sklavendasein kontrollierte Naturhaftigkeit, so „der Zigeuner“ einen Zustand ungebändigter Leidenschaften (vgl. End und Winter in: Stender 2016).
Lohse bringt in dieser Diskussion eine dritte Position ins Spiel. Auch er erkennt eine „von anderen Rassismen abweichende“, „spezifische Psychopathologie des Antiziganismus“ (S. 76), betont wie Winter die projektive Abwehr von Es-Impulsen und wie End die vorzivilisatorischen Merkmale der antiziganistischen Projektion. Anders als End und Winter aber begreift er Antisemitismus und Antiziganismus als komplementäre Projektionsstruktur, in der der antiziganistische Projektionsinhalt vorbürgerlich-matrizentrisch, der antisemitische bürgerlich-patrizentrisch konnotiert ist. Repräsentiert das „Zigeuner“-Phantasma die unbewusste Sehnsucht nach der verlorenen matrizentrischen Geborgenheit vorbürgerlicher Gemeinschaftsformen, wird im imaginierten „Juden“ gerade das patrizentrisch-bürgerliche Verbot jener „mütterlichen Verbundenheit“ gehasst: „Übereinstimmungen im Zigeunerbild zum Verlorengegangenen, zum Unwiederbringlichen, lassen darauf schließen, dass im Antiziganismus gerade dieser Sehnsuchtsimpuls zum Ausdruck kommt, denn in den Bildern (…) sind die matrizentrisch-subversiven Imagines ganz aufdringlich-überstiegen festgehalten: Die ‚Zigeunerin‘ als Repräsentantin jener mütterlichen Verbundenheit, Familie als Ort subversiver Solidarität, als sich vor gesellschaftlicher Vereinnahmung verschließende, sich wegstehlende Separation; Wildes, Unbändiges, Angreifbares in verschworener Harmonie, einer anderen Ordnung folgend, die dem bürgerlichen Subjekt in seinem monadisch-wohlgeordneten Dasein als Chaos vorkommt“ (S. 54). Insbesondere die „Zigeuner“-Romantik wie auch andere Varianten des Philoziganismus bis hin zu dem antizivilisatorischen Gestus jenes pseudokritischen Gebildes namens ‚Tsiganologie‘, das von den 1970er Jahren bis noch zu Beginn dieses Jahrtausends neorassistisches Denken an deutschen Universitäten verbreitete, können auf diesem Weg gut erklärt werden. Lohse stützt sich dabei übrigens auf Arbeiten von Fromm, vor allem auf dessen wissenschaftlichen Bestseller „Escape from Freedom“. Dort hatte Fromm die Befreiung des bürgerlichen Individuums aus mittelalterlichen Bindungen als eine neue Form der Knechtschaft entlarvt, die im Autoritarismus und Formen eines automatischen Konformismus ihren Ausdruck findet.
Autoritarismus und Konformismus setzen sich auch in der nachbürgerlichen Welt fortgeschrittener Industriegesellschaften fort, auch wenn diese im Zeichen gesellschaftlicher Entsublimierung und der Befreiung von Es-Impulsen zu stehen scheinen. Lohse folgt hier – im zweiten, einer „Antiziganismustheorie der Gegenwart“ gewidmeten Kapitel – den Überlegungen Herbert Marcuses, der den repressiven Charakter der Entsublimierung betont hatte. Tatsächlich komme es zu keiner Befreiung libidinöser Triebimpulse, sondern zu einer neuen Qualität der Triebversagung. Diese führe, so schlussfolgert Lohse, nicht zu einer Schwächung, sondern „vielleicht sogar“ zu einer „Verstärkung des antiziganistischen Ressentiments“ (S. 99). Ebenso wichtig aber ist, dass sich im Zuge der repressiven Entsublimierung ein Wandel im Ausgangspunkt und Wesen der antiziganistischen Projektion vollzieht, die Lohse durch die Unterscheidung zwischen „klassischem“ und „neuem autoritären Charakter“ zu begreifen versucht: „Während im klassischen autoritären Charakter ein Komplex aus Gewissensinstanz, Schuldgefühl und Angst noch die treibende Kraft für Abspaltung und Projektion ist, (…) wird es für das Individuum im fortgeschrittenen Vergesellschaftungsprozess zunehmend das durch die Entfremdung des Eros entstandene bloße Bedürfnisplagiat, welches die Ahnung vom Eigenen beschneidet und schließlich gänzlich auslöscht“ (S. 155). So kommt es nach Lohse heute zu einer absurden Verdrehung dessen, was Marcuse noch in emanzipatorischer Absicht die „große Weigerung“ nannte: „Die dem Eros stets immanente potenzielle ‚Wiedergeburt der rebellischen Subjektivität‘ schlägt um in ihr Gegenteil, in affirmative Unterdrückung der als jenseitig, ‚fremd, frei und faul‘ (…) identifizierten Roma und Sinti, und markiert ein wesentliches Element des ‚neuen‘ autoritären Charakters, der sich in seiner antiziganistischen Dimension als übertragener Widerspruch, als verfälschte, gehemmte ‚große Weigerung‘ zeigt“ (S. 156).
Stellen die ersten beiden Kapitel einen Beitrag zu einer kritischen Theorie des Antiziganismus dar, so wendet sich das dritte Kapitel der Sozialen Arbeit als einer zentralen „Agentur der Gesellschaft“ (Fromm) zu. Lohse räumt in diesem, die Arbeit abschließenden Kapitel mit dem Märchen auf, dass die seit den 1960er Jahren stattfindende sozialpädagogische Wende im staatlichen Umgang mit Sinti und Roma zu einem allmählichen Verschwinden des Antiziganismus geführt habe. Die Tatsache, dass Sinti und Roma vom Objekt der staatlichen Institution „Verbrechen und Strafe“ zum Objekt der staatlichen Institution „Schwäche und Fürsorge“ wurden, hat mitnichten etwas an der ziganistisch-rassistischen Objektkonstruktion verändert. Zutreffend spricht Lohse von der „Sozialpädagogisierung des antiziganistischen Ressentiments“ und demonstriert an mehreren Beispielen die „apriorische Anfälligkeit“ Sozialer Arbeit für rassistisch-ziganistische Deutungsmuster. Wie erschreckend aktuell diese Kritik nicht nur für die Berufspraxis von Sozialarbeiter/innen, sondern auch mit Blick auf den wissenschaftlichen Diskurs Sozialer Arbeit ist, ließ sich jüngst auf einer von der „Gilde Soziale Arbeit e.V.“ durchgeführten Tagung „Soziale Arbeit mit Sinti und Roma“ beobachten. Deutlich wurde dort einmal mehr, dass es Sozialarbeiter/innen aufgrund ihrer institutionell vorgegebenen, aber auch fachlich auferlegten und konzeptionell reproduzierten Muster des Denkens und Handelns offensichtlich sehr schwer fällt, sich aus antiziganistischen Wissensbeständen zu befreien.
Fazit
Ein wichtiger Beitrag zur Antiziganismusforschung. Wer begreifen will, warum Antiziganismus ein gesellschaftliches Gewaltverhältnis darstellt, das sich durch Aufklärung allein nicht aus der Welt schaffen lässt, sollte das Buch lesen.
Literatur
Wolfram Stender (Hrsg.): Konstellationen des Antiziganismus. Theoretische Grundlagen, empirische Forschung und Vorschläge für die Praxis, Wiesbaden: Springer VS, 2016.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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