Maria Giuilia Marini: Narrative Medicine
Rezensiert von Dr. Vera Kalitzkus, 28.06.2016

Maria Giuilia Marini: Narrative Medicine. Bridging the Gap between Evidence-Based Care and Medical Humanities. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2015. 150 Seiten. ISBN 978-3-319-22089-5. 64,19 EUR.
Thema
Der Begriff „Narrative Medizin“ wurde Mitte der 1990er Jahre in Abgrenzung und Ergänzung zur evidenzbasierten Medizin geprägt und stellt Patientinnen und Patienten mit ihrer Erfahrungswelt wieder ins Zentrum der Medizin. In diesem Buch wird das komplexe Feld der narrativen Medizin umrissen und ihr Potential als Mittlerin zwischen evidenzbasierter Gesundheitsversorgung einerseits und geistes- und sozialwissenschaftlichen Zugängen zur Medizin (den so genannten „medical humanities“) andererseits dargestellt.
Deutlich wird, dass es sich bei evidenzbasierter Medizin und narrativer Medizin um zwei komplementäre Bereiche des Gesundheitswesens handelt, die gleichermaßen Beachtung verlangen. Die Integration beider Ansätze sowohl in Forschung wie auch in der konkreten medizinischen Praxis kann zu einer umfassenden und patientenzentrierten Versorgung beitragen und, so die Autorin, der Überbetonung des Faktischen und Messbaren in der heutigen Medizin entgegenwirken. Darüber hinaus kann die narrative Medizin helfen, die Kluft zwischen Arzt und Patient, den unterschiedlichen Professionen im Gesundheitswesen, sowie zwischen Gesunden, Kranken und ihren Angehörigen zu überwinden.
Marini beleuchtet in ihrem Buch die Wurzeln und die komplexen Facetten narrativer Medizin: von der Darstellung ihrer Anfänge, der Diskussion aktueller Fachliteratur bis hin zu vielen Beispielen von Krankheitserzählungen aus eigenen Forschungsprojekten.
Autorin
Die Autorin Maria Giulia Marini studierte Arzneimittelchemie, Epidemiologie, Versorgungsplanung im Gesundheitswesen und ist in Transaktionsanalyse ausgebildet. Heute ist sie an einer bedeutenden Wirtschaftsschule auf Graduiertenlevel (Fondazione ISTUD) in Italien für den Gesundheitsbereich zuständig. Dort hat sie einen Masterkurs in narrativer Medizin initiiert.
Aufbau und Inhalt
Das 150 Seiten umfassende Buch besteht aus elf Kapiteln und einem ausführlichen Glossar.
Es beginnt mit der Darstellung der evidenzbasierten Medizin, als deren komplementäre Ergänzung die narrative Medizin entwickelt wurde. So sollte der Vernachlässigung eines wichtigen Bereiches in der evidenzbasierten Medizin entgegengewirkt werden: nämlich die verfügbare Evidenz aus wissenschaftlichen Studien zu kombinieren mit der professionellen Expertise der/des behandelnden Ärztin/Arztes, um so das Wissen aus der Forschung bestmöglich auf die Behandlung von individuellen Patientinnen und Patienten anzuwenden. Um das Anliegen der narrativen Medizin nicht allein auf den ärztlichen Bereich zu beschränken, schlägt Marini den Begriff Narrative Healthcare oder Narrative based Healthcare vor.
In den folgenden Kapiteln des Buches gibt sie Einblick in weitere Kernelemente der narrativen Medizin, unter anderem:
- Die Kunst des Zuhörens
- Die Kunst der Empathie
- Unterschiedliche Sprachwelten in der Medizin
- Patientenerzählungen und Coping
- Patientenerzählungen und der Wunsch nach Normalität
- Krankheitserzählungen im Film
- Patientenzentrierte Gesundheitsversorgung
Marini verwendet häufig eine metaphorische Sprache und erläutert ihr Anliegen mit Beispielen aus Literatur, Kunst und Musik. Viele Kapitel beginnen mit einem Verweis auf einen klassischen mythologischen Text. Die Welt der klassischen Mythen verdeutlichen ihrer Ansicht nach den Wert von Erzählungen: sich mitzuteilen über die „menschliche Tragödie“. Dies ist bedeutsam in der Begleitung von Patientinnen und Patienten. Es kann helfen sie zu verstehen in ihren durch die Erkrankung ausgelösten Herausforderungen und Wertentscheidungen damit umzugehen, die nicht immer dem ärztlichen Rat entsprechen. Erzählungen können für den/die Patient/in selbst heilsam sein, in dem sie zur Verarbeitung und Integration eines Krankheitserlebnisses in die eigene Biographie beitragen. Marini verschweigt an dieser Stelle nicht die Kritik an der Bewertung von Erzählungen als menschliches Existential, um ein ethisch bedeutsames Leben und ein Leben in Fülle zu leben. Sie selbst kommt jedoch zu der Einschätzung, dass Erzählungen eine natürliche menschliche Reaktion sind, um mit stressvollen Fragen, für die das Leben keine Antwort bereithält, umgehen zu können.
Als frühen Protagonisten der narrativen Medizin – noch bevor diese so genannt wurde – würdigt sie den Psychiater Oliver Sacks. Sein lebensweltlicher Ansatz hat immer den individuellen Menschen im Blick, der mit einer Erkrankung oder Behinderung lebt. Sein zentraler Beitrag sei es, so Marini, über die Erkrankung hinaus zu sehen und die subjektive Realität der von einer Krankheit betroffenen Person zu erfassen. Dies Interesse zieht sich als roter Faden durch die unterschiedlichen Kapitel, in denen zur Erläuterung immer wieder Beispiele aus eigenen Forschungsprojekten mit Patientenerzählungen gegeben werden.
Marini betont das Potential von Narrationen, tief in die Erlebenswelt der Patientinnen und Patienten (wie auch der Angehörigen) einzudringen und eine komplexe Beschreibung zu ermöglichen – sowohl was das Leiden, aber auch was die Ressourcen und mögliche positive Entwicklungen trotz existentieller Herausforderungen angeht.
Das Buch endet mit einem 20-seitigen Glossar, der nicht nur die wichtigsten Fachbegriffe aus dem Kontext der narrativen und evidenzbasierten Medizin erläutert, sondern auch auf ihren Entstehungshintergrund eingeht. Dies ermöglicht ein vertieftes Verständnis ihrer Bedeutung im Kontext narrative Medizin und lädt ein, sich je nach Interessenlage auch tiefer mit einem der genannten Aspekte zu befassen.
Diskussion
Das Buch behandelt die unterschiedlichsten Facetten der narrativen Medizin und bietet mit seinen Literaturhinweisen gute Ansatzpunkte zur Vertiefung spezifischer Themen. In einigen Kapiteln wäre eine klarere konzeptionelle Unterscheidung der unterschiedlichen Ebenen von narrativer Medizin hilfreich gewesen: etwa von Forschung, narrativen Aspekten in der Patient-Arzt-Beziehung, oder Erzählungen (schriftlich oder mündlich) als therapeutisches oder selbst-reflexives Mittel. Die Vielzahl an Beispielen von Patientenerzählungen aus den unterschiedlichsten Kontexten geben einen guten Einblick in diese Art von Erzählung. Allerdings wird ihre Einschätzung und Nachvollziehbarkeit erschwert, da nur knappe Kontextinformationen zu den Forschungsprojekten, der Erhebung der Daten oder den Biographien der Patienten gegeben werden.
Fazit
Das Buch gibt einen guten Einblick in das komplexe Feld der narrativen Medizin (von der Forschung über ärztlich-therapeutisches Handeln bis hin zu Verarbeitungsstrategien von Patienten) und welchen Beitrag sie für das heutige Gesundheitswesen leisten kann. Es lädt mit einer Vielzahl von Patientenerzählungen zum Mitfühlen und Mitdenken ein und zeigt auf: Narrative Medizin ist ein komplexes Thema, das nicht im Sinne eines medizinischen Lehrbuchs vermittelt werden kann.
Rezension von
Dr. Vera Kalitzkus
medical anthropologist, Institut für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Es gibt 4 Rezensionen von Vera Kalitzkus.
Zitiervorschlag
Vera Kalitzkus. Rezension vom 28.06.2016 zu:
Maria Giuilia Marini: Narrative Medicine. Bridging the Gap between Evidence-Based Care and Medical Humanities. Springer International Publishing AG
(Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2015.
ISBN 978-3-319-22089-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20236.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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