Stefan Borrmann, Brigitta Michel-Schwartze u.a. (Hrsg.): Die Wissenschaft Soziale Arbeit im Diskurs
Rezensiert von Prof. Andreas Faßler, 07.12.2016

Stefan Borrmann, Brigitta Michel-Schwartze, Sabine Pankofer, Juliane Sagebiel, Christian Spatscheck (Hrsg.): Die Wissenschaft Soziale Arbeit im Diskurs. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 250 Seiten. ISBN 978-3-8474-0767-6. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.
Thema
Dem Titel des Sammelbandes entsprechend sind innovative, kritische und ins Detail gehende Diskussionsbeiträge zu verschiedenen Bereichen der Theorieproduktion in der Sozialen Arbeit enthalten. In großer Bandbreite angefangen mit der begründeten Notwendigkeit von fortlaufender Theorieentwicklung finden sich Aufsätze die als eigenständige theoretische Zugänge den Diskurs anregen dürften. Darunter sind Untersuchungen zu normativen Elementen in der Theoriebildung Sozialer Arbeit und separate Theoriestränge, die sich verkürzt mit den etwas bekannteren Stichworten Lebenswelt, System, Pragmatismus, Capability/-ies, Geschlechtertheorie, Empowerment und weiter über einen Beitrag zu Sozialer Arbeit auf internationaler Ebene zu Frieden zwischen den Nationen, bis zu einem empirischen Neuansatz zur Lebensführung und Prozessgestaltung erstecken.
HerausgeberInnen
Die HerausgeberInnen und alle 21 AutorInnen sind ProfessorInnen oder lehren und forschen im Hochschulbereich der Sozialen Arbeit.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Sammelband ist ein Produkt des lebendigen Diskurses in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA). Er speist sich zu großen Teilen aus der Kooperation in der Fachgruppe Theorie- und Wissenschaftsentwicklung.
Aufbau
In 16 kurzen Aufsätzen wird die Vielschichtigkeit des Diskurses und der Dimensionen der Theoriebildung dargestellt, gegliedert in die drei Themenbereiche „Zugänge“, „normative Dimensionen“ und „Theorieentwürfe“.
Inhalt
Im ersten Kapitel liefert Borrmann Argumente für die Beschäftigung mit Theorien, die – wie in vielfältigen anderen Publikationen zuvor auch schon erklärt – zu kritischer Reflexion, Perspektivenwechsel und tieferem Verständnis der sozialen Situation und der methodischen Praxis Sozialer Arbeit anleiten. Er zeigt auf, dass keine Theorie vollständig sein kann, dass an der Vielzahl nötiger und relevanter Begriffe inklusive ihrer Verknüpfungen zu Aussagen und Erklärungen zum Gewebe einer Theorie und den damit wiederum verbundenen Theorien weitergearbeitet werden muss. Diese Weiterarbeit durch Begriffsdiskussionen ist der Zweck dieser Textsammlung und wird in großer Vielfalt in den folgenden Kapiteln vorgenommen.
Der zweite Beitrag von Boettner und Michel-Schwartze beschäftigt sich mit dem zentralen Begriff des sozialen Problems und seiner Konstruktion sowohl auf Makro- als auch auf Mikroebene. Politische Einflüsse werden festgestellt und den Interessen und Gestaltungsmöglichkeiten von Profession und Disziplin Sozialer Arbeit wird nachgegangen. „Institutionalisierte Problemmuster“ (38) werden kritisiert und an einem anschaulichen Praxisbeispiel illustriert. Sozialarbeitswissenschaftliche Praxisforschung soll sich verstärkt in diesen Konstruktionsprozess einmischen.
Domes und Sagebiel untersuchen die Rolle der Person der Lehrenden im Theoriefach für die Identitätsbildung beim akademischen und professionellen Nachwuchs. Die Identitätsbildung wird als Metaziel herausgestellt. Dabei entdecken sie im idealtypischen Habitus u.a. als Einflussfaktoren die Gestaltung der Atmosphäre und eine „professionelle Langsamkeit“ (62) als förderlich zur Entwicklung von Reflexionskompetenz.
Amthor argumentiert in seinem Beitrag für einen stärkeren Brückenschlag zwischen Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit. Unter Einbezug einer umfassenden Theoriendarstellung aus einem englisch-sprachigen Lehrbuch von Payne demonstriert er sehr unterschiedliche Herangehensweisen bei der Systematisierung von Theorieentwicklungen. Er schließt u.a. mit der Forderung, dass der Reichtum an Methoden und der diese empirisch absichernde, „überwältigende Entwicklungsstand der Forschung“ (83) (im US-amerikanischen Raum!) über Handlungskonzepte enger mit Theorien verbunden werden sollten, um eine in der (deutschsprachigen Diskussion!) oft „beklagte Kluft“ (86) zwischen diesen Ebenen zu schließen.
Kleve rekapituliert seine Sicht einer postmodernen Sozialen Arbeit, die er durch vielfältige Ambivalenzen geprägt sieht. Diese postmoderne Perspektive als Ausgangslage bringt er in Verbindung – und leistet so einen weiten Brückenschlag wie im vorhergehenden Beitrag von Amthor gefordert – mit dem für praktische Dilemmata geeigneten Reflexionsschema des Tetralemmas. Die Anwendung wird in einer Lehrgeschichte dargestellt.
Krieger stellt sich die spannende Frage nach „systematischen Orten“ (113) der Theorieproduktion, an denen Normativität auftaucht. In seinem Aufsatz rechtfertigt er die Normativität in der Sozialen Arbeit und beginnt mit der ordnenden Tätigkeit in Typen von Normen und der Zuordnung zu verschiedenen Wissenschaftsverständnissen. Schließlich kritisiert er besonders das Auftreten von unausgesprochener, nicht erklärter und damit nicht begründeter Normativität als „Scheuklappen der Theorie“ (125).
In der Fortsetzung des Themas der Normativität weist uns Mührel darauf hin, dass für die Aufgaben der Gegenstandsbestimmung, Zielfestlegung, Legitimation Sozialer Arbeit und eben der Theoriebildung Normativität behandelt werden muss. Mit Bezug auf eine Tradition, die von Jane Addams bis zu Silvia Staub-Bernasconi reicht, thematisiert er Demokratieverständnis und Menschenrechte als „externe Perspektive“ (138) auf Sozialräume und Lebenswelten und nimmt damit eine Zeit- und Gesellschaftsdiagnose vor. Mit Natorp schließlich begründet er die Aufgabe zu politischem Handeln für die „Idee einer Sozialen Demokratie“ (135) und für menschenwürdige und damit wesentlich selbstbestimmte Lebensgestaltung.
Kraus zeigt uns Bedingungen und Möglichkeiten einer „relationalen Sozialen Arbeit“ (145). Eine dementsprechende Theorie muss grundlegende Begriffe und Vorgänge wie Erkennen, Kommunizieren und Intervenieren in Relation setzen zur sozialen und materiellen Umwelt. Subjektive Konstruktionen sind in den Begrenzungen der Lebenslage zu reflektieren und Einflussnahme auf die Einwirkung von instruktiver oder destruktiver Macht. Wir benötigen zur Reflexion sozialer Relationen Theorien aus sozialarbeiterischer Perspektive.
Spatschek, anschlussfähig an diese Tradition, vertieft das Aneignungskonzept als tätige Auseinandersetzung, „als Eingriffe in die relationale Verfasstheit räumlicher Arrangements“ (166). Im Weiteren wird das Konzept detailliert und der Nutzen für die Theoriebildung dargestellt.
Schönig fasst seine duale Rahmentheorie prägnant u.a. in einer zweiseitigen Tabelle zusammen. Soziale Arbeit wird sichtbar als eine „integrierende Handlung in komplexen Situationen“ (180).
Der Begriff capability, seine Rezeption in der Sozialen Arbeit und seine Bedeutung werden in den Beiträgen von Babic/Leßmann und Röh durchaus kontrovers besprochen. Um Aufklärung auch aus volkswirtschaftlicher Sicht bemüht, werden intellektuelle Redlichkeit und Genauigkeit im Diskurs angemahnt und durch eine detailreiche Aufarbeitung auch eingelöst.
Ehlert erweitert den Theoriediskurs um die Kategorie Geschlecht, die notwendigerweise einbezogen werden muss. Da die geschlechtertheoretischen Diskurse selbst in sich heterogen sind, ist auch hier eine Disziplinen überschreitende Verbindung zu schaffen. Ehlert versucht dies, indem sie zentrale Ansätze vorstellt und daraus Impulse für die Soziale Arbeit ableitet.
Staub-Bernasconi untersucht in ihrem Beitrag den Zusammenhang von Gesellschaft, Frieden, struktureller Gewalt und Bewusstseinshaltungen anhand des Denkens von Jane Addams. Die Wege der Artikulation sowohl von Werthaltungen als auch von unbequemen empirischen Wahrheiten und in Folge die Reaktionen der politischen Elite in der historischen Darstellung erlauben vielfache Übertragung in die Gegenwart.
Sommerfeld , Hollenstein und Calzaferri unternehmen den Versuch einer Theoriebildung systemischer Prägung auf der Basis von empirischem Material. Zentriert auf die Begriffspaare Integration und Lebensführung, sowie Individualität und Sozialität entwickeln die AutorInnen ein umfassendes System, bestehend aus mehreren Modellen, einem „Lebensführungssystem“ (275), welches wiederum in einem gesellschaftlichen „Integrationsmodell“ (277) eingepasst ist und einem „Prozessbogen“ (282) über den die zeitliche Dimension der professionellen Intervention erfasst werden kann.
Pankofer setzt sich kritisch mit der Erfolgsgeschichte von Empowerment auseinander. Der Begriff wird wechselweise als „Leitorientierung“ (291), als „politischer Begriff“ oder als „definitorisches Dach“ (296) verwendet. Pankofer untersucht die Entwicklung in Wissenschaft und Praxis und berichtet über verschiedene und aktuelle Operationalisierungen.
Diskussion
Mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis stellte sich mir noch vor der Lektüre die Frage, wozu wohl solch kurze Einzelbeiträge dienlich sein könnten. Sie bewegen sich zwischen einer Kurzversion von reader´s digest mit product-placement zum Hinweis auf eigene Arbeiten und der Länge eines Artikels in Fachzeitschriften. Sie sind jedenfalls kürzer als es für Beiträge in Sammelbänden üblich ist. Die Beiträge sind insgesamt sehr heterogen. Die Diskussionsbeiträge leben von der Spannung zwischen der Anregung durch neue Inhalte und dem nicht ganz befriedigten Wunsch nach mehr Details, Hintergrund oder Begriffsklärung bei manchen Beiträgen. Wie kann man auch ein ganzes Theoriegebäude oder einen komplexen Begriff auf ein bis zwei Seiten ausleuchten? Das bleibt aufgrund der Kürze eben gelegentlich unbefriedigend. Deshalb wurde notwendigerweise oft auf die anderen Werke der AutorInnen verwiesen.
Wiederum bei manchen Beiträgen ist es gerade die Begriffsklärung – und die Diskussion dazu, die ihre Stärke ausmacht und eine Erweiterung der bereits vorliegenden Werke darstellt. Besonders sorgfältige Begriffsklärung erfolgte in den Beiträgen zu den Capabilities. Insgesamt fördern und präzisieren die Beiträge sicherlich den Theoriediskurs. Hoffnungsvoll stimmt, dass die Beiträge sich um die Gemeinsamkeiten und Synergien von Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft bemühen und keine neuen Gräben eröffnen.
Fazit
Obwohl manche Hintergründe der Kürze zum Opfer fielen, sind die Beiträge mit Gewinn für die Reflexion von Theorie zu lesen und bringen Inspiration für die Lehre von Theorien und Methoden Sozialer Arbeit. Aus jedem Beitrag ergibt sich etwas Nützliches für die Lehre. Durch die relativ schnelle Lektüre der kurzen Beiträge über Neuerungen im Theoriediskurs kompakt informiert zu werden, zeigt sich als Vorteil des Formats.
Rezension von
Prof. Andreas Faßler
Ph.D., Duale Hochschule Baden-Württemberg, Professor für Sozialarbeitswissenschaft und Methodenlehre
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Es gibt 2 Rezensionen von Andreas Faßler.
Zitiervorschlag
Andreas Faßler. Rezension vom 07.12.2016 zu:
Stefan Borrmann, Brigitta Michel-Schwartze, Sabine Pankofer, Juliane Sagebiel, Christian Spatscheck (Hrsg.): Die Wissenschaft Soziale Arbeit im Diskurs. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2016.
ISBN 978-3-8474-0767-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20238.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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