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Tania Kambouri: Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 15.02.2016

Cover Tania Kambouri: Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin ISBN 978-3-492-06024-0

Tania Kambouri: Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin. Piper Verlag GmbH (München) 2015. 9. Auflage. 220 Seiten. ISBN 978-3-492-06024-0. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 20,50 sFr.

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Vorbemerkung in eigener Sache

Das Verhältnis von Text und Kontext ist ein klassisches Thema der Literaturwissenschaft; ein vielgestaltiges und kompliziertes. Bei der Rezension eines Buches muss man dieses Thema meist nicht berühren; hie und da kann es dem Verständnis aufhelfen, wenn man etwas zur Entstehungsgeschichte, einem der Kontexte, ausführt. Im vorliegenden Falle scheint es mir zum rechten Verstehen unumgänglich, in einem breiteren Sinne Kontextuelles anzusprechen. Und das von Anfang an.

Thema

„Ein Junge ruft: ‚Fotze, du!‘ Das Wort wird mir hinterhergeworfen wie ein nasser Schneeball, der aus Versehen in meinem Nacken landet. Ich denke: Jetzt bist Du doch zu alt für solche Beschimpfungen! Vier Jugendliche versperren den Eingang zur S-Bahn mit der Entschlossenheit von Zwergen in zu großen Körpern, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Ich wohne am Alexanderplatz in Berlin. Da fängt man sich schon mal eine Verhöhnung ein. Einer ruft jetzt: ‚Allahu Akbar!‘, und spuckt auf den Boden.

Wir müssen über Religion reden. Auch wenn die Gefahr besteht, vom schreiverzerrten Chor derer vereinnahmt zu werden, die über die Islamisierung des christlichen Abendlandes fantasieren.“

Mit diesen Sätzen beginnt die gelernte Journalistin und promovierte Theologin Petra Bahr (http://www.kas.de/wf/de/37.6786/), bis 2014 Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, seither Leiterin der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung ihren auf S. 50 zu findenden Artikel „Die Angst vor der Wahrheit“ in der ZEIT vom 14.1.2016 (einem Artikel, von dem man sich wünscht, er würde in einschlägigen Lehrveranstaltungen der Sozialen Arbeit zum Diskussionsgegenstand gemacht werden).

An einer späteren Stelle Ihres Artikels führt Petra Bahr aus: „In den dunklen Ecken deutscher Großstädte kann man beobachten, was passiert, wenn wir nicht auch über Religion reden. Zu lange wurde der Jugendrichterin aus Hamburg, der Lehrerin aus dem Ruhrgebiet oder dem Bezirksbürgermeister aus Berlin unterstellt, unter einer déformation professionelle zu leiden, wenn sie aus der Lebenswelt der Desintegrierten berichteten: über Gott als Alibi für die Demütigung von Mädchen, für Respektlosigkeit gegenüber der Polizei, für Kriminalität. Diese dunklen Ecken sind nicht das ganze Bild. Doch sie unausgeleuchtet zu lassen, weil das Bild nicht hässlich werden soll, ist eine gefährliche Form des Selbstbetrugs – vielleicht der letzte Obskurantismus der Intellektuellen.“

„Obskurantismus“ ist ein Kampfbegriff, geprägt zu Zeiten des Entstehens der europäischen Aufklärung von deren Verfechter(innen) zur Kennzeichnung all jener, die Aufklärung im allgemeinen oder zumindest die in bestimmten Bereichen für gefährlich hielten – und dafür mitunter respektable Gründe vorzubringen wussten. Obskurantismus hat vielfältige Erscheinungsformen. Am einen Ende steht die blanke Verleugnung wie etwa jene der Kölner Polizeiführung, die an Neujahr 2016 wider besseres Wissen verkündete, in der Kölner Silvesternacht sei alles „Friede, Freude, Eierkuchen“ gewesen. Obskurantismus ist aber auch noch, wenn selbst einen Monat nach der Kölner Silvesternacht, darüber im öffentlichen Raum (z. B. in den Medien) von einem „Phänomen“ gesprochen wird (so die Kölner Oberbürgermeisterin auf der durch öffentlichen Druck erzwungenen Pressekonferenz) oder von „Ereignissen“, „Geschehnissen“ und „Vorkommnissen“, ohne dass Taten und Täter konkret benannt würden.

Was die Taten anbelangt, so wurde, nachdem die Wirklichkeit nicht mehr zu ignorieren und die Wahrheit nicht zu unterdrücken war, zunächst – und mancherorts bis heute – nur von „Taschendiebstählen“ gesprochen Noch weniger gesprochen wurde und wird noch immer davon, dass in der Kölner Silvesternacht Hunderte von Frauen ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung beraubt wurden. So viel „sexuelle Verklemmtheit“ im öffentlichen Diskurs dieses Landes war nach 1968 selten geworden. So viel zur Taten-Seite.

Verklemmter – oder doch richtiger: (selbst-)verlogener – aber noch ging es beim Blick auf die Täter zu. Spät erst konnte man lesen, dass die in der Kölner Silvesternacht ihr Unwesen treibenden Täter bandenmäßig organisiert waren, noch später und noch seltener, dass solche Banden „polizeibekannt“ waren, und fast gar nichts darüber, dass hier ein Paradebeispiel von „Parallelgesellschaft“ vorliegt, der gegenüber sich die Polizei ohnmächtig fühlt, und Judikative und Legislative Verurteilung und Ausweisung faktisch verhindern (vgl. „Zeigen, wo der Ausgang ist“; ZEIT v. 14.1.16, S. 7). Das mächtigste Sprech- und Denkverbot, in Kraft vielerorts bis heute, gilt Fragen nach Religion und (Herkunfts-)Kultur der Täter.

Der ZEIT – Herausgeber Josef Joffe hat in der ZEITGEIST-Kolummne v. 21.1.2016 unter dem Titel „‚Neusprech‘ neu. Gedankenkontrolle demokratisch: Die Tyrrannei des Gutdenk“ u. a. ausgeführt: „Selbstverständlich paart sich das Erzieherische mit höchster Moral. Zuschreibungen wie ‚nordafrikanisch‘ oder ‚arabisch‘ seien verwerflich, weil sie Straftaten mit Herkunft erklärten und ganze Gruppen unter ‚Generalverdacht‘ stellten. Ein Verwalter des hiesigen ‚Gutdenk‘ schreibt: ‚Wer solchen Vermutungen Vorschub leistet, der ist ein Rassist.‘ Die Rassismus-Unterstellung ist seit Adolf H. die Karte, die immer sticht. Die Diffamierung erschlägt den Diskurs – zum Beispiel über Täterprofile, einen Klassiker vorbeugender Polizeiarbeit – und katapultiert den ‚Gedankenverbrecher‘ aus der Gemeinschaft der Guten. …

Pegida und Co. sind Geschöpfe und Sprachrohre der Entfremdung. Die frisst sich in die Mitte, wenn das verordnete Gutdenk die Realitäten verdrängt und die Wohlmeinenden den Demagogen zutreibt.“ (S. 8)

Drei derer, die sich schon früher nicht an „gutdenkerische“ Denkverbote gehalten, sondern über Religion und (Herkunfts-)Kultur nachgedacht sowie die eingangs angesprochenen „dunklen Ecken“ ausgeleuchtet haben und dafür in selbem Maße gelobt wie kritisiert wurden, sind die bis zu ihrem (Frei-)Tod im Jahre 2010 für Neukölln zuständige Jugendrichterin Kirsten Heisig („Das Ende der Geduld“, 2010; socialnet-Rezensionen: www.socialnet.de/rezensionen/10003.php und www.socialnet.de/rezensionen/10135.php), der frühere (2001 – 2015)Bezirksbürgermeister von Neukölln Heinz Buschkowsky („Neukölln ist überall“, 2012; socialnet-Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/13965.php) und Ahmad Mansour (http://ahmad-mansour.com/de/) („Generation Allah“, 2015; socialnet-Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/19662.php), der

Übrigens: Alle vier genannten socialnet-Rezensionen wurden nicht von Mainstream-Vertreter(inne)n der Sozialen Arbeit verfasst; und auch nicht von den (Fach-)Hochschullehrer(inne)n der Sozialen Arbeit, zu deren Amtspflichten die Beschäftigung mit Fragen der Migration gehört. Rezensionen sind eine sehr gute Möglichkeit, sich in bestimmten Fragen öffentlich zu positionieren. Dazu muss man natürlich eine begründete Meinung haben. Hat die Disziplin Soziale Arbeit zu den hier verhandelten Fragen (k)eine?

Autorin

Tania Kambouri wurde 1983 als Kind einer griechischstämmigen Familie in Bochum geboren und wuchs dort auf im Stadtteil Hamme, einem vom Ende der Steinkohlenära geprägten Quartier. Gemeinsam mit einer Freundin türkischer Abstammung beschloss sie nach der Mittleren Reife entgegen Lehrer(innen)rat, das Abitur zu machen. Danach realisierte sie ihren lange gehegten Berufswunsch und wurde Polizistin. Als Polizeikommissarin fährt die Autorin auch heute noch Streife; und das seit mehr als einem Jahrzehnt. Um Tanja Kambouris Autorenschaft gibt es Diskussionen, die einen Realanlass finden in folgender Buchpassage (S. 211 – 212): „Dann möchte ich Steffen Geier herzlich danken. Als Koautor hat er meine Gedankengänge richtig interpretiert, meine Texte an der richtigen Stelle platziert, ein Grundgerüst gefertigt und so dem Buch einen roten Faden gegeben.“ Für manchen Beobachter ist das Anlass genug, die geistige Urheberschaft Tanja Kambouris auf ein Minimum zu reduzieren (vgl. etwa die Einschätzung amazon-Rezensent(in) „LinksRechts“; http://www.amazon.de/product-reviews/3492060242/ref=cm_cr_pr_hist_1?ie=UTF8&showViewpoints=1&filterByStar=one_star&pageNumber=1)

Entstehungshintergrund

Zur Entstehungsgeschichte kann man inzwischen im Internet nachlesen (https://de.wikipedia.org/wiki/Tania_Kambouri). Hier nur ein paar teilweise ergänzende Hinweise.

Am Anfang war ein Leserbrief (wiedergegeben auf S. 216 – 220), den die Autorin an die „Deutsche Polizei. Zeitschrift der Polizei“ gerichtet hatte und der im November 2013 am genannten Ort veröffentlicht wurde. Der Brief fand innerhalb der Polizei große und überwiegend positive Resonanz, wurde mit Hilfe Vieler über deren Kreis hinaus öffentlich bekannt und erreichte dann auch den Piper Verlag. Dort erschien das Buch am 5. Oktober 2015. Den letzten Schliff erhielt das Manuskript wohl schon im August 2015; der damals einsetzende massive Anstieg der Einwanderung nach Deutschland hat im Buch verständlicherweise keinen Niederschlag gefunden.

Aber dieser dürfte den Verkauf des Buches verstärkt haben. Mein Rezensionsexemplar des Buches wurde bereits im Spätjahr 2015 (also noch vor den Kölner Silvesternacht-„Ereignissen“) angefordert, geliefert aber wurde es – mit unüblicher Verzögerung – erst Anfang 2016: als 9. – und nach meinen Kenntnissen: unveränderte – Auflage von 2016. Neun Auflagen in nur drei Monaten!

Zur Rezeptionsgeschichte des Buches

Zur Rezeptionsgeschichte ist zwischenzeitlich im Internet Einiges nachzulesen (https://de.wikipedia.org/wiki/Tania_Kambouri). Hier nur zwei mir wichtig erscheinende Ergänzungen.

Der Internethändler amazon vertreibt bekanntlich auch Bücher und bietet die Möglichkeit der Kundenrezension. Beim Stand vom 5. Februar 2016 sind für das vorliegende Buch 227 Kundenrezensionen ausgewiesen; das ist für ein Sachbuch, das erst seit vier Monaten verkauft wird, eine ungewöhnlich hohe Zahl. Das ist das eine. Und das andere: auf einer fünfstufigen (Sterne-)Skala wird das Buch (in deutschen Schulnoten ausgedrückt): von 81 Prozent der Bewerter(innen) mit „sehr gut“ und von 11 Prozent mit „gut“ bewertet (www.amazon.de/product-reviews). Von den zehn „5er“-Bewertungen, die ich allesamt mit Aufmerksamkeit und meist mit Verständnis gelesen habe, zitiere ich nur die eine, für die mir jegliches (Ein-)Verständnis abgeht. Unter der Headline „Rechte Gülle“ notiert dort Nutzer(in) „tyler“: „Soll sie doch nach Griechenland abhauen, wenn ihr unser Land nicht gefällt. Deutschland ist bunt und wird immer bunter und das ist gut so.“ (a. a. O.).

Zur Rezeptionsgeschichte des Buches gehört auch die nur einen Tag nach Erscheinen des Buches ausgestrahlte „Menschen bei Maischberger“ – Talkshow vom 6. 10. 2015 (www.daserste.de/unterhaltung/talk/maischberger). Diese Talkshow war konzipiert angesichts der damals in ihrem Ausmaß sichtbar werdenden Zuwanderungswelle und trug den Namen „Wie verändern Flüchtlinge unser Land?“ Von Sandra Maischberger als special guest eingeladen war Tanja Kambouri. Beide mussten sich sogleich von Jakob Augstein in höchst despektierlicher Weise fragen lassen, was „die“ denn da solle und wolle, schließlich ginge es hier um Flüchtlinge und bei Tanja Kambouri um Leute mit Migrationshintergrund. Es hieße, die Intelligenz des Fragers beleidigen, wollte man annehmen, ihm sei der innere Zusammenhang zwischen „Zuwanderung“ und „Zugewanderten“ nicht einsichtig. Man tut wohl besser daran, seinen Einwand zu verstehen als gleichsam reflexhafte Abwehr von Allem und Jedem, das die damalige „Hurra“-Begeisterung über die Zuwanderung hätte trüben können.

In besagter Talkshow meinte Jakob Augstein Tanja Kambouris Erfahrungen mit einem klassischen Totschlag-„Argument“ entwerten zu können: Es handle sich doch bloß um „Ihre Einzelfälle“. „Er kennt die Straße nicht. Deswegen kann ich ihn in dieser Sache nicht ernstnehmen“ hat Tania Kambouri dazu verlauten lassen (https://polizeimensch.de//). Dass seine lebensweltliche Wirklichkeit offensichtlich frei ist von negativen Erfahrungen mit Zugewanderten, entschuldigt den Journalisten Jakob Augstein nicht. Hätte er in dem ihm leicht zugänglichen SPIEGEL-Archiv nur gewissenhaft recherchiert, er hätte Dutzende von „Einzelfällen“ dokumentiert gefunden. „Einzelfälle“ wie etwa diesen: „Die Polizisten der Silvesternacht berichteten, sie hätten eine so manifeste Respektlosigkeit gegenüber sich als Amtspersonen noch nie in ihrer Karriere erlebt.“ (Adam Soboczynski, Leiter des ZEIT-Feuilletons, in der ZEIT v. 4.2.2016, S. 35)

Aufbau und Inhalt

Den Kern des Buches machen drei Kapitel aus, die von Vor- und Nachwort gerahmt sind. Am Ende findet sich ein Dank, dem Angaben zur Entstehungsgeschichte des Buches zu entnehmen sind, und ein Anhang, im dem sich der oben erwähnte Leserbrief sowie ein Verzeichnis der Literatur, die in dem Buch Erwähnung fand.

Im Vorwort berichtet die Autorin eigene Erfahrungen aus dem Polizeidienst sowie jene anderer (Streifen-)polizist(inn)en, die sich in den Worten zusammen fassen lassen: „Die Zunahme von Respektlosigkeit und Aggressivität in unseren Städten ist mehr als auffällig. Und man kommt nicht um die Feststellung herum, dass sich straffällige Personen mit Migrationshintergrund, vor allem junge Männer aus muslimisch geprägten Ländern, dabei besonders hervortun.“ (S. 10). Dann geht die Autorin, sich vom Personalem zum Strukturellen wendend weiter mit der These: „Ich lehne mich nicht aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass sich Parallelgesellschaften mit festen Strukturen herausgebildet haben, die bereits heute nicht mehr einfach aufzulösen sind.“ (13)

Das erste Kapitel Streitthema Integration – Wo die Probleme wirklich eskalieren macht mit knapp 140 Seiten bald zwei Drittel des Textteils aus. An Gruppen mit nach ihrer Erfahrung und Kenntnis erhöhtem Risiko für sozial abweichendes Verhalten bis hin zur Bandenkriminalität benennt sie junge Muslime, Männer aus bestimmten Ländern Südosteuropas (darunter die EU-Staaten Bulgarien und Rumänien) sowie Roma. Sie skizziert Unterschiede zwischen diesen Gruppen hinsichtlich der dominierenden Tatmerkmale und legt gesonderte kriminologische Erklärungsansätze vor.

Im 2. Kapitel Polizei – am Limit illustriert die Autorin, sich stützend auf eigene Erfahrung und die von Kolleg(inn)en, die vor Ort die Arbeit machen, dass und weshalb sich in all den Fällen, in denen Zuwanderung die Hintergrundfolie bildet, zunehmend mehr operativ tätige Polizist(inn)en sich vernachlässigt sehen von, ja behindert durch 1. Polizeiführung (obschon ebenfalls Teil der Exekutive), 2. Judikative(n) (Rechtssprechung) und 3. Legislative(n), wenn nicht Politik überhaupt.

Was zu tun ist – ein Appell, das dritte und letzte Kapitel, enthält eine Reihe von Gedanken- und Handlungsanregungen dafür, wie den im Buch genannten Problemen zu begegnen sei – oder besser noch deren Auftreten künftig gemindert werde. Das beinhaltet unter anderem die personale wie sächliche Ausstattung der Polizei, Haltungen und Arbeitsweisen der Justiz sowie elterliche, schulische und außerschulische (z. B. durch die Soziale Arbeit erfolgte) Bildungs- und Erziehungsarbeit.

Im Nachwort findet sich eine Passage, die man lesen kann als Rechtfertigung der Autorin dafür, das vorliegende Buch so und nicht anders geschrieben zu haben: „Mir ist bewusst, dass ich mit meiner klaren Meinung einige Leser verschrecke und so manchen Sozialromantiker verärgere. Eine strikte Linie zu fahren wirkt für einige gleich verdächtig reaktionär, überheblich, vielleicht sogar arrogant und diskriminierend. Denn wir wollen ja alle immerzu politisch korrekt bleiben und bloß nichts Falsches sagen. Das ist ein weitverbreitetes deutsches Mentalitätsproblem. Doch wenn man sich mit der Thematik näher auseinandersetzt, muss man feststellen, dass die harte Linie, und vor allem die Gewalt, eigentlich von der anderen Seite kommt. Mit dieser Gewalt müssen wir die Täter konfrontieren.“ (S. 208 – 209)

Diskussion

„Wenn irgend wann einmal gefragt wird, wie es dem Rechtspopulismus in Deutschland gelingen konnte, sich als politische Kraft zu etablieren, werden die Ereignisse vom Jahresbeginn 2016 eine Schlüsselrolle spielen.“ Ich stimme dem früheren taz- und jetzigen ZEIT-Mitarbeiter Matthias Geiß (Zitat aus seinem Artikel „Nach dem Tabu“; ZEIT v. 21.1.2016, S. 3) zu. Füge aber hinzu: Es sind eben nicht nur die „Ereignisse“ als solche, sondern auch die Art und Weise, wie darüber auch und vor allem von „Gutdenk“-Seite berichtet wurde. „Kaum war der Horror vorbei, stand nicht mehr die Faktenfrage ‚Wer hat wem was angetan?‘ im Zentrum. Stattdessen ging es um ‚Wer darf was über wen sagen?‘, genauer: um Sprachkontrolle, den Feind der Freiheit.“ (Josef Joffe, ZEIT v. 21.1.2016, S. 8) Wer sich – und sei es aus den „edelsten“ Motiven – zum Feind der Freiheit macht, schlägt sich faktisch auf die Seite der politisch organisierten Freiheitsfeinde.

Wer denen nicht faktisch zuarbeiten will – durch ein bisschen Verschweigen der ganzen Wahrheit hier und ein wenig Augenverschließen vor „unangenehmen“ Wahrheiten da – muss, und damit schlagen wir den Bogen zurück zu Ausführungen eingangs, auch „über Religion reden“ sowie „dunkle Ecken ausleuchten“. Das gilt auch für die deutsche Soziale Arbeit; genauer: für die Disziplin Soziale Arbeit und die für die Ausbildung in Sozialer Arbeit Verantwortlichen. Konkret heißt das beispielsweise, dass wir Thesen, wie die nachfolgend referierten nicht gleich reflexhaft abwehren und von Vornherein in die „rechte Ecke“ stellen. Ich spreche von Überlegungen, die Achmet Toprak (https://de.wikipedia.org/wiki/Ahmet_Toprak), Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund mit türkischem Migrationshintergrund in seinem ZEIT-Artikel „Die Sache mit dem Sex“ v. 14.1.2016 vorgetragen hat. „Indem die Männer [beispielhaft die Täter von Köln] die in ihrer Sicht ehrlosen Frauen belästigen und demütigen, stellen sie eine Ordnung wieder her, die ihnen entglitten ist. Die Männer kontrollieren in diesem Moment nicht nur den Platz, sondern haben Macht über die Frauen und über die sie begleitenden, ebenfalls ehrlosen Männer, die ihre Frauen nicht schützen können.

Dass die Polizei nicht in Sicht oder überfordert ist, verleiht dem Ganzen einen zusätzlichen Kick, denn viele dieser Männer fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft abgehängt und diskriminiert. Gewaltanwendung auch gegen Beamte scheint darum ‚legitim‘. Das drückte sich in der Silvesternacht darin aus, dass Gruppen von jungen Männern Festnahmen verhinderten und Polizeibeamte beleidigten.“ (S. 5)

Was es mit „Ehre“ und „Ehrlosigkeit“ auf sich hat, konnten Interessierte schon seit Langem wissen. Im Jahr 1983 erschien als suhrkamp taschenbuch 894 Werner Schiffauers „Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt“. Werner Schiffauer inzwischen in Amt und Würden (www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/) und heute als Pionier der kulturanthropologischen Forschung über Türken in Deutschland geltend, war in den 1970ern als Berliner Pädagogikstudent (gleichzeitig studierte er an der FU Berlin Ethnologie) durch seine sozialpädagogische Arbeit vertraut mit einigen Jugendlichen, die zusammen mit anderen – während seiner Jugendarbeit mit ihnen (!) – ein Verbrechen begingen (ich zitiere nach der Innenseite des Covers): „In der Nacht vom 20. auf den 21. Mai 1978 wurde in einem Kreuzberger Hinterhaus die [deutsche] achtzehnjährige Petra K. von dreizehn türkischen Jugendlichen und einem Erwachsenen vergewaltigt – so jedenfalls sah der Tatbestand vor Gericht aus.“

Und was tat das Gericht? Ich zitiere nach S. 11 des genannten Buches; dort werden Vor- und Nachnamen der Angeklagten / Verurteilten genannt, die hier nur mit den ersten Buchstaben angeführt werden, da auch diese jungen Täter von damals ein Recht auf die Gnade des Vergessens haben: „Am 24. November 1978 wurde das Urteil verkündet. Es lautete auf zwei Jahre Jugendstrafe für … [A. K.] wegen Vergewaltigung; auf eineinhalb Jahre Jugendstrafe für die Angeklagten … [O. D.], … [R. T.], … [Y. T.], … [A. Y.], … [T. K.] und … [B. O.] wegen Ausübens des Geschlechtsverkehrs mit Widerstandsunfähigen; auf neun Jahre Jugendstrafe für … [V. A.] wegen unterlassener Hilfeleistung. Der Angeklagte … [Y. D.] wurde freigesprochen. Alle Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt.

In der Urteilsbegründung hieß es, daß dies Strafmaß angesichts der Schwere der Tat erforderlich sei. Die Schwierigkeiten, die sich aus dem Aufwachsen zwischen zwei Kulturen ergäben, berechtigten aber zur Anwendung des Jugendstrafrechts. Die Strafe sei zur Bewährung auszusetzen, weil bei den Jugendlichen nicht von ‚schädlichen Neigungen‘ gesprochen werden könne und die Tat ihnen ‚wesensfremd‘ sei, Rückfälle also nicht zu befürchten seien. Zu berücksichtigen sei des weiteren das durchweg gute Familienleben in den Elternhäusern.“

Ich überlasse es der Fantasie der heutigen Leser(innen), sich auszumalen, welche Wirkung dieses damalige Urteil für die weitere Entwicklung der Kriminalität von jungen Männern mit muslimischem Migrationshintergrund hatte. Werner Schiffauers Buch wurde von der Disziplin Sozialen Arbeit fast ausnahmslos ignoriert; ihr Wegschauen bei mit Migration verbundenen Schwierigkeiten und Problemen hat eine lange Tradition.

Fazit

Muss man (oder frau) „Deutschland im Blaulicht“ lesen? Die Antwort hängt von Vorkenntnis und Erkenntnisinteresse ab. Um mit dem Zweiten zu beginnen: Wer sich seine behagliche „Gutdenk“-Welt auch über die „Kölner Ereignisse“ hinaus bewahrt hat, möge Abstand halten von diesem Buch; für Andersgesinnte gilt das Gegenteil. Und zum Ersten: Wer sich schon mit Fragen, ob und welche Probleme durch Migration auf Deutschland zukommen bzw. bereits zugekommen sind, einigermaßen informiert hat – und sei es erst seit Neujahr 2016 – braucht dieses Buch nicht zu lesen. Sie / er wird hier nichts Neues finden; anderes gilt für (Spät-)Einsteiger(innen).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 182 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245