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Helen Lindstrøm, Jutta Sniehotta: Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt

Rezensiert von Claudia Mehlmann, 06.06.2016

Cover Helen Lindstrøm, Jutta Sniehotta: Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt ISBN 978-3-89334-601-1

Helen Lindstrøm, Jutta Sniehotta: Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt. Asanger Verlag (Kröning) 2015. 192 Seiten. ISBN 978-3-89334-601-1. D: 24,50 EUR, A: 25,20 EUR.

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Thema

In diesem Buch geht es um das Aufspüren der Entstehung einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) durch organisierte, rituelle, wiederholte, extreme sadistische Gewalt an einer Frau, die seit dem Säuglingsalter systematisch auf brutalste Weise durch diverse Konditionierungen, Mind Control, Trainings, wie sie für Tests oder militärische Zwecke mittels unterschiedlichster Foltermethoden (u.a. Elektroschocks, auch Nazi-Ärzte bedienten sich solcher Methoden) ausgeübt werden, innerhalb einer Gruppe/Sekte gequält wurde mit dem gewollten und bewusst herbei geführten Ergebnis der Dissoziierung oder Abspaltung. Und dies einzig zu einem Zweck: sie für ein Leben in und für diese Sekte zu konditionieren, zu einem identitätslosen oder ent-selbsteten Werkzeug heran zu erziehen.

Autorinnen

Dieses Buch ist aus der gemeinsamen Arbeit von Klientin und Therapeutin entstanden. Für die Therapeutin war die Arbeit mit der Klientin und deren Innenanteilen Neuland. In der therapeutischen Auseinandersetzung mit den Persönlichkeitsanteilen von Frau L. wurde sie mit Erinnerungen dieser Anteile konfrontiert, in denen sich grauenhafte Erlebnisse widerspiegelten. Sie wurde in den Flashbacks oft „Zeugin“ von Quälereien, die der Zersplitterung oder Programmierung dienten. Es war für sie kaum vorstellbar, was Menschen anderen Menschen antun, um sie für ihre Ziele gefügig zu machen. So fragte sie sich immer wieder: „Kann das überhaupt sein? Das ist so unvorstellbar und abwegig!“ Aber sie ließ sich darauf ein und ist heute froh, den Mut aufgebracht zu haben, Frau L. bei ihrer Befreiung aus dem Kult zu begleiten.

Entstehungshintergrund

„Mut ist, Verbrechen zu beweisen, die angeblich nie passiert sind“ – mit diesem Zitat beginnt die Klientin ihre Ausführungen. Sie möchte einen Boden bereiten für die Aufdeckung und juristische wie gesellschaftliche Verfolgung dieser Gräueltaten und andere Betroffene ermutigen, sich zu äußern und ihre innere Isolation aufzubrechen. Die beschriebenen Gewalttaten (die über 20 Jahre zurück liegen) sind großenteils so entsetzlich und unfassbar, dass Frau L. betont, es dem/der LeserIn zu überlassen, ob und was sie/er für wahr hält. Insgesamt hat sie über 50 verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich ermittelt.

Zielgruppen

PsychotherapeutInnen, Betroffene, alle am Thema Interessierten.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist angelegt in aufeinander folgenden und sich bedingenden Kapiteln zu den diversen Facetten des Leidens- und Lebenswegs der Klientin und ihrer gemeinsamen therapeutischen Arbeit. Die beiden Autorinnen (die Betroffene schildert ihre Therapie, die Therapeutin steuert aus ihrer Perspektive bei) versuchen, eine mögliche Abwehr bei der LeserIn nicht sofort herauszufordern:

In ihrem Vorwort erzählt die Betroffene eine Geschichte, wie sie sagt: ein Märchen. Märchen sind ursprünglich mündlich weiter erzählte Geschichten für Erwachsene. Da werden auch vielfältige Grausamkeiten erzählt und es bleibt den ZuhörerInnen selbst überlassen, wie viel sie vom Erzählten als wahr einschätzen. Märchen beinhalten Themen des Umgangs, der Konflikte, innere und äußere, wie sie Menschen plagen. Kernstücke, tiefere Wahrheiten erschließen sich oft erst in der Interpretation. Darin liegt die Freiheit der InterpretIn. So gibt es Märchen, die nur als eine moralische Erziehungslehre gesehen werden, wonach Kinder besser den Eltern gehorchen sollten. Oder eben ein in ein Märchen eingekleideter Inzest oder auch sexualisierte und tödliche Gewalt gegen ein Mädchen, das in seiner Not den „bösen“ Anteil eines männlichen Verwandten, der zu Zwecken der Verfremdung das Geschlecht gewechselt hat, abspaltet.

In den folgenden Kapiteln Vorstellung und Innere Struktur werden die Autorinnen bedeutend konkreter – und haben sich klar positioniert. Frau L. beginnt recht harmlos mit den Vorzügen im Alltag und bezeichnet die Situationen „als mitunter witzig und angenehm“, aber auch nervtötend oder hilfreich – die inneren Unterhaltungen wie in einem Biergarten an einem warmen Sommerabend. Aber das ist natürlich die freundliche Seite. Die Kehrseite wird dann präsentiert. So stellt sie ausführlich mittels einer „inneren Landkarte“ die Namen, Aufgaben, Funktionen, Beziehungen, Entwicklungen, Traumata der involvierten Anteile (auch bildlich) dar. Einige der Anteile unterschiedlichen Alters und Fähigkeiten werden ausführlicher vorgestellt, was der Verständlichkeit dient. Des weiteren erläutert sie den Aufbau der inneren Gesamtstruktur – was einem Jonglieren in der Mengenlehre nahe kommt: innerhalb einer Pyramide gibt es verschiedene Systeme, farbig kontrastiert, die bewusst und gezielt durch Trainings von der Sekte kreiert wurden. Außerhalb dieser Pyramide existieren weitere, die unbeeinflusst von der Sekt entstanden sind. Und ein neutrales, von dem sie erst spät erfuhr. Der Gang durch diese Sequenzen ist für Außenstehende oft mühsam nachvollziehbar. Dazu lässt sie auch Alison Miller (eine Spezialistin auf dem Gebiet ritualisierte Gewalt) zu Wort kommen, was hilfreich ist für die Kontexterschließung.

Mehrere Kapitel befassen sich mit den diversen Therapien, Klinikaufenthalten, Suizidversuchen von Frau L.und münden schließlich in der erfolgreichen 10 Jahre währenden Arbeit mit Frau S. Gewalt in der Therapie ist hier ein wiederkehrender Aspekt, der seinen berechtigten Raum findet und wichtige Anregungen für TherapeutInnen in ihrem therapeutischen Alltag bietet. Frau L. bleibt bewundernswert fair in ihren Darstellungen der wenig bis gar nicht hilfreichen stationären Hilfsangebote, die der notwendigen klaren Kritik nicht entbehren. Diese schwierigen Erfahrungen teilt sie sicherlich mit vielen anderen Menschen, die von organisierter ritueller Gewalt betroffen sind.

Danach folgt das Thema zu ritueller Gewalt, Mind Control und Deprogrammierung, das Frau L. selbst als das Schwierigste bezeichnet. Sie beginnt mit allgemeinen Informationen, Fragen, Forschungsstand etc., um dann zu den Formen in ihrem Fall zu kommen:

  • Beginn im Alter von 1-3 Jahren durch Einsperren in einem Karton, Entzug von Nahrung, Luft und Licht.
  • Fortführung in der Familie durch sexuellen Missbrauch im Alter von 4-5 Jahren
  • Prostituierung (Kinderpornographie) im Schulkindalter bei einer Tante an fremde Kunden
  • regelmäßige Teilnahme an Trainings und Zeremonien der Sekte bis 36 Jahre (mit erlebter Gewalt, Folter, Isolation, Bestrafungen, Nahtoderlebnissen, Tötungen, Gehirnwäsche, Hypnose, Drogenzufuhr etc.)
  • Bindung an die Sekte durch eigene Täterschaft: ein heikles und sehr mutiges Wagnis
  • Bindung an die Sekte durch Bedrohung der eigenen Kinder
  • Ausstieg mit Hilfe der Therapie
  • Deprogrammierungen in der Therapie: Frau S. Erläutert die Formen klassische Konditionierung, instrumentelle Konditionierung, Wie Verlernen?, Neu-Programmierung

Zum Schluss geht es um das Therapieziel: Integration ja oder nein? Die beiden haben sich in diesem Fall von der Integration verabschiedet, da zu viele Anteile zu kontroverse Werte, Lebensmodelle und Ziele vertreten. Es gibt einen Rest Abspaltung bei Frau L., der dem Schutz des gegenwärtigen Lebens diene und daher äußerst funktional sei.

Zu allerletzt beleuchtet Frau L. den Komplex Opferentschädigung. Mit dem Tenor: Sensibilisierung für das Thema rituelle Gewalt, Benennung der Taten und Täter sowie Konfrontation von Richtern und Ämtern, eine Öffentlichkeit herstellen. Fazit: ja zu Antragstellung und Anzeigeerhebung, denn es hilft (half ihr) auf dem Weg in ein freies, selbst bestimmtes Leben!!

Fazit

Es ist ein zutiefst erschütternder und höchst aufwühlender, anrührender Erfahrungsbericht über ein kaum zu fassendes Thema – und den beiden Autorinnen, die ein Team geworden sind, sei einfach nur gedankt für den Mut, die Umsicht, Vorsicht, Nachsicht (mit uns Lesenden), derer es bedarf, um so ein Unterfangen zu ermöglichen und letztlich zu publizieren. Der tiefe Einblick in die gemeinsame therapeutische Arbeit gewährt einen nachdenklich machenden Eindruck von den erarbeiteten Möglichkeiten, aber auch von den aufgetretenen Schwierigkeiten. Somit können von TherapeutInnen eigene Therapieansätze reflektiert und gegebenenfalls erweitert oder in ihrer Verschiedenartigkeit bestätigt werden, je nach der eigenen therapeutischen Arbeitsweise.

Rezension von
Claudia Mehlmann
Germanistin u. Anglistin, Lektorin, Übersetzerin
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Es gibt 4 Rezensionen von Claudia Mehlmann.

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Zitiervorschlag
Claudia Mehlmann. Rezension vom 06.06.2016 zu: Helen Lindstrøm, Jutta Sniehotta: Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt. Asanger Verlag (Kröning) 2015. ISBN 978-3-89334-601-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20268.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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