Johannes Schwarte: Die Plastizität des Menschen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.07.2016

Johannes Schwarte: Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 2., aktualisierte Auflage. 461 Seiten. ISBN 978-3-8487-2208-2. D: 89,00 EUR, A: 91,50 EUR, CH: 125,00 sFr.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit der Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand über Bedingungen und Risiken der Persönlichkeitsentwicklung und dem öffentlichen Bewusstsein darüber.
In der philosophischen Anthropologie, der Sozialisations-, Bindungs- und Hirnforschung haben Fragen nach der Bildung, den Sozialisations- und Veränderungsprozessen der Persönlichkeitsentwicklung einen bedeutsamen Stellenwert. Den Vorstellungen, dass Persönlichkeit gewissermaßen „naturwüchsig“, also „biologistisch“ entstehe, stehen Auffassungen gegenüber, die „den Prozess der Menschwerdung des Menschen… als einen ergebnisoffenen und dynamischen“ betrachten. Es sind uralte, anthropologische, philosophische, neuronale, pädagogische und gesellschaftspolitische Fragen nach Vorbestimmtheit, Veränderbarkeit, Formbarkeit, Anlage und Vererbung, Begabung, Chancen und Risiken bei der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Sozialisation vollzieht sich im gesellschaftlichen Raum und wird wesentlich mitbestimmt von den sozialen Bedingungen, bei denen Menschen aufwachsen. Sie lassen sich sowohl wissenschaftlich als auch ideologisch beantworten. Damit letzteres nicht Überhand in den Denk- und Verhaltensweisen, den Macht- und Moralvorstellungen der Menschen nimmt, kommt es darauf an, die Möglichkeiten „als Entfaltung seiner geistig-seelischen Anlagen, ferner als Ausformung seiner Moral und seines Gewissens, als Entwicklung seiner Urteilsfähigkeit und seiner Handlungskompetenz“ zu erkennen. Diese Überzeugungen resultieren schließlich aus der anthropologischen Erkenntnis heraus, dass der anthrôpos durch seine Vernunftbegabung, seiner Kompetenz zur Bildung von Allgemeinurteilen, seiner bewussten Entscheidungs- und Erinnerungsfähigkeit, seinem Angewiesensein auf Gemeinschaft mit den Mitmenschen, sowie seiner Kraft, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, ein Lebewesen ist, das eine Mittelstellung zwischen göttlichem und animalischem Denken und Tun einnimmt (vgl. dazu: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, 640 S.).
Autor
Der Münsteraner Anthropologe und Pädagoge Johannes Schwarte nimmt die Gedanken zum Zusammenhang von Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung auf, die er in seinem 2002 erschienenem Buch „Der werdende Mensch“ thematisiert hat. Inwieweit sich in diesem vor mehr als einem Jahrzehnt formulierten Grundlagen die individuellen und gesellschaftlichen, lokalen und globalen Bedingungen ge- und verändert haben, wird nachgefragt – und zudem festgestellt, dass die Zusammenhänge nach wie vor im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert und defizitbehaftet sind. Es sind die Herausforderungen in der sich immer interdependenter, entgrenzender und ideologisch entwickelnden (Einen?) Welt, die nach humanen, demokratischen und anthropogenen Ankern rufen und die notwendigen Persönlichkeitsstrukturen bewusst und lebbar machen. Dass dabei die bekannten, entwicklungs- und lernpsychologischen Grundsätze zutage treten, wie „Begabung“, „Reifung“, „Prägung“, „Milieu“, „Erziehung“…, verweist darauf, dass es dem Autor sowohl um eine Anthropologie als gesellschafts- und erziehungswissenschaftliche Bestandsaufnahme der „Menschwerdung“, als auch um Erziehungs- und Gesellschaftskritik geht.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung gliedert Johannes Schwarte seine anthropologische Analyse in fünf Kapitel.
Im ersten leitet er „Phänomene gestörter Menschwerdung im Lichte der Sozialisations- und Zivilisationsforschung“ her, indem er die Veränderungsprozesse und Defizitentwicklungen bei Kindern und Jugendlichen diskutiert, die daraus entstehenden (neuen?) Sozialisationstypen benennt und – unter Zuhilfenahme von verschiedenen, abendländischen Sozialisationstheorien – auf Formen von „gesellschaftlicher Sozialisationsvergessenheit“ verweist. Mit seinem Plädoyer für eine neue, ethisch-moralisch und demokratisch verantwortete Sozialpolitik durch Staat und Gesellschaft ruft er dazu auf, ein „Sozialisationsklima als wichtigen Gegenstand der politischen Gestaltung“ zu schaffen, durchaus mit dem Optimismus, den Hans A. Pestalozzi, in Anlehnung an den Schweizer Menschenbildner Kurt Marti, als „positive Subversion“ bezeichnet hat, der Aufforderung nämlich: Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge (Hans A Pestalozzi, Nach uns die Zukunft, 1979).
Im zweiten Kapitel thematisiert Schwarte „Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung (‚Menschwerdung des Menschen‘)“. Er setzt sich mit Theorien auseinander, wie sie in der philosophischen Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, als Versionen und Kontroversen den wissenschaftlichen Diskurs bestimmen, individuelle und kulturelle Identitäten formen, Menschenbilder und Ideologien markieren und so inhumanes oder humanes Bewusstsein in der Bildung und Erziehung bewirken.
Im dritten Kapitel geht es um die systematische Darstellung des Prozesses der Sozialisation: „Menschwerdung des Menschen als ergebnisoffner Prozess“. Plastizität erfordert existentielle, ethische, geistige und moralische individuelle und gesellschaftliche Anstrengungen und schließt Gelingen und Scheitern ein. Wert-, Normenvorstellungen und -setzungen sind abhängig und bezüglich auf die je individuellen und gesellschaftlich gewordenen, biologischen und kulturell geformten Lebensphasen und zivilisatorisch und demokratisch postulierten Sozialisationsziele und Idealvorstellungen. Der Autor plädiert dabei für den mündigen, freiheitlich-demokratischen Bürger in einer Demokratie.
Wie Identitätsfindung und -entwicklung ge- oder misslingt, wird im vierten Kapitel dargelegt: „Aspekte der Identitätsbildung unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen“. Es sind mentalitätsbestimmte, traditionelle und traditionalistische Imponderabilien und nicht zuletzt ideologiebehaftete Individual- und Gesellschaftskonzepte, die eine aktive Arbeit an der eigenen und gesellschaftlichen Identität erforderlich machen. Dass dabei freilich auch im wissenschaftlichen Diskurs die Ideologiekritik Purzelbäume schlägt und sich ideologisch verrennt, verdeutlicht Johannes Schwarte mit seinem vehementen Einwurf gegen die in seiner Identitätsgewissheit scheinbar über die Maßen verhasste „Ideologie des Genderismus“. Mit dieser Positionierung verlässt er den sonst so hoch gehaltenen Anspruch auf Objektivität, indem er vor der „Gefährdung unserer Lebensordnung durch die Ideologie des Genderismus“ warnt (und unmotiviert einwirft: „Deutschland hat eine Genderistin als Richterin am Bundesverfassungsgericht und damit als Interpretin unserer Verfassungsordnung!“).
Diese im vierten Kapitel angedeutete Meinungsbildung erhält Gestalt und Aussagekraft im fünften Kapitel: „Moralisation als Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung“. Moral? Welche Moral? Die Antworten darauf sind entscheidend dafür, wie Bildung, Erziehung und Sozialisation von jungen Menschen aussehen sollen und sich gestalten. Rationalisierung der Moral, soll sie bereichern und zur Selbst- und Kollektiv-Identifikation führen, braucht es, dabei zieht Schwarte Emile Durkheim heran, „eine Menge Zustände, die in uns etwas anderes ausdrücken als uns selbst, nämlich die Gesellschaft. Sie sind die lebendige und wirkende Gesellschaft in uns… Sie ist außer uns und hüllt uns ein; sie ist aber auch in uns, und ein ganzer Teil unserer Natur ist mit ihr identisch“. Die Konsequenzen zeigen sich in der Bewertung der Moralität als gesellschaftsrelevante, ethisch und moralisch gefestigte, theistischen oder atheistischen Persönlichkeitsentwicklung.
Fazit
Mit dem Ziel einer „anthropologischen Aufklärung“ und gegen „anthropologische Ignoranz“ breitet Johannes Schwarte in seiner Analyse zur „Plastizität des Menschen“ die Bandbreite des wissenschaftlichen, anthropologischen Diskurses aus. Die Forderung, eine anthropologische Grundbildung und Aufklärung müsse integraler Bestandteil einer elementaren Grundbildung und Erziehung sein, wäre in das gesellschaftliche Tagebuch zu schreiben. „Es geht dabei um Erkenntnisse über den Geburtszustand des Menschen, über die Ergebnisoffenheit und ‚Riskanz‘ des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses sowie über die gesellschaftliche Bedingtheit dieses Prozesses; ferner um Erkenntnisse der Bindungsforschung über die Bedeutung einer stabilen Mutter-(Vater? JS)Kind-Beziehung, um Erkenntnisse der Hirnforschung über die Plastizität des Gehirns und die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu sowie schließlich um Erkenntnisse der Moralisationsforschung über den Prozess der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisisationsprozesses“. Mit dem Plädoyer für eine Dynamisierung des christlichen Menschenbildes formuliert der Autor schließlich einen „Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie“, mit dem Ziel: „Der menschliche Mensch in einer humanen, der menschlichen Würde angemessenen Gesellschaft“.
Dass dabei Ideologie- und Gesellschaftskritik unabdingbare Positionierungen notwendig machen, wird in der Analyse deutlich; dass dazu freilich auch Glaubens- und Religionskritik gehören, kommt nach Meinung des Rezensenten zu kurz (siehe dazu: „Das Sicherste ist der Zweifel“, 24. 5. 2016, www.sozial.de/Schnurers Beiträge).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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