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Anke Wegner, Inci Dirim (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungs­gerechtigkeit

Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 23.05.2016

Cover Anke Wegner, Inci Dirim (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungs­gerechtigkeit ISBN 978-3-8474-0669-3

Anke Wegner, Inci Dirim (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Erkundungen einer didaktischen Perspektive. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 322 Seiten. ISBN 978-3-8474-0669-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,00 sFr.

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Thema

Dieses Buch ist das erste einer geplanten Buchreihe „Mehrsprachigkeit und Bildung“. Diese soll interessierten AutorInnen die Möglichkeit bieten, „didaktische Konzepte zum Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit unter verschiedenen theoretischen Perspektiven [zu] reflektieren“ (S. 10).

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung durch die Herausgeberinnen finden sich als Orientierung die Arbeiten von Krassimir Stojanov, insbesondere seine Aufspaltung von „Bildungsgerechtigkeit“ in „Verteilungs-“, „Teilhabe-“ und „Anerkennungsgerechtigkeit“ und die Auffassung, dass das gegenwärtige Bildungssystem zu herkunftsbezogenen Ungleichheiten führe. Dementsprechend gliedert sich das Buch in 4 Teile, nämlich

  • „I: Einführung: Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit“,
  • „II: Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg“,
  • „III Mehrsprachigkeit und Teilhabe an Schule und Gesellschaft“ und
  • „IV: Mehrsprachigkeit und Anerkennung“.

In Teil I diskutieren Natascha Khakpour und Magdalena Knappik („Anerkennende Mehrsprachigkeitskonzepte als Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit?“) den Begriff der Bildungsgerechtigkeit. Dieser Begriff wird nach Meinung der Autorinnen so vielfältig verwendet, dass er aufgrund chronischer Unterbestimmtheit bedeutungsmäßig „leer“/beliebig wird. Die Autorinnen folgen hier der Argumentation Laclaus, mit der er seinen Begriff des „leeren Signifikanten“ begründet.

Nach der Einführung der Begriffe „Verteilungs-“, „Teilhabe-“ und „Anerkennungsgerechtigkeit“ diskutieren die Autorinnen verschiedene praktische Perspektiven dazu. So meinen sie zur Teilhabegerechtigkeit, dass der aktuellen Konstruktion des „deutschsprachigen Subjekts“ folgende Praxis gegenübergestellt werden sollte: „…, etwa eine auch amtlich multilinguale Gesellschaft, dass es aber spezifischer Bildung bedarf, um eine solche Gesellschaft zu realisieren – also zum Beispiel die Kenntnis mehrerer Migrationssprachen für alle Mitglieder einer Migrationsgesellschaft, prozedurales Wissen über Möglichkeiten des Übersetzens und Verständigens in mehrsprachigen Kontexten sowie ausreichende Ressourcen, die eine Verfügbarkeit von Dolmetscher*innen gewährleisten.“ (S. 33)

Claus Melter schreibt über „Bildungsgerechtigkeit, Diversity und (Mehr-)Sprachigkeit an Hochschulen – Verständnisse und Umsetzungen“. Er meint, dass „positive, unbestimmte“ Begriffe die Bildungspolitik einfach machten und praktische Diskriminierung an Universitäten so übersehen werde. Dem „liberalen“ Ansatz stellt er als bessere Alternative den Ansatz der „radical diversity“ gegenüber.

Hans-Jürgen Krumm kritisiert in „Mehrsprachigkeit als Kapital – eine Einsicht und ihre Konsequenzen für ein bildungsgerechtes Schulwesen“ die derzeitige „English only-Schulsprachenpolitik“ und argumentiert für die Stärkung der sprachlichen Identitäten aller SchülerInnen, auch mit praktischen Beispielen bzw. Vorschlägen.

Sven Oleschko und Zuzanna Lewandowska bieten in „Bildungsgerechtigkeit im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit unter Berücksichtigung sozioemotionaler Ursachen. Diskussion und Vergleich ausgewählter aktueller Erklärungsansätze aus Soziologie, Linguistik und Psychologie“ einen kurzen Überblick.

In Teil II beschreibt Sarah Fornol („Die Bedeutung sprachsensibler Unterrichtsgestaltung im Fachunterricht für bildungssprachliche Kompetenzentwicklung im Primarbereich“) ein Forschungsprojekt zur Bildungssprache von SchülerInnen mit Deutsch als Zweitsprache in Sachfächern.

Johanna Bleiker, Mirjam Egli Cuenat, Sabine Kutzelmann, Ute Massler, Klaus Peter und Verena Pisall schildern in „Mehrsprachiges Vorlesen der Lehrperson – ein didaktisch-methodisches Design“ ein entsprechendes Deutsch-Englisch-Französisch-Projekt im Bodenseeraum und dessen mögliche Weiterentwicklungen.

Thomas Lainer und Martin Wurzenrainer beschreiben in „Mehrsprachigkeit im Basisbildungsunterricht mit jugendlichen Migrant_innen“ das Projekt MEVIEL in Wien, das sich auf Beratung und Bildungseinstieg von Zuwanderern konzentrierte. Sie argumentieren für die curriculare Verankerung von Mehrsprachigkeit und ihre Berücksichtigung auch in der Benotung. Alle Publikationen zu diesem Projekt – darunter auch ein Curriculum für Weiterbildner – sind unter www.integrationshaus.at/meviel/konferenz/prod.html zu finden.

Melanie David berichtet in „Mehrsprachigkeit im Schulsystem Burkina Fasos – Auflösung oder Stabilisierung von Effekten sozialer Ungleichheit?“ über ein Projekt in Ouagadougou, in dem in bilingualen Klassen neben Französisch auch lokale Sprachen im Unterricht verwendet werden. Da Französisch offensichtlich als Garant sozialen Aufstiegs angesehen wird (Ähnliches kann bezüglich Indianersprachen in Mexico beobachtet werden), steht die Verwendung der indigenen Sprachen aufgrund der Ablehnung durch die gesamte Schulgemeinschaft möglicherweise vor dem Aus.

In Teil III beschreibt Simone Naphegyi in „Leseförderung von Kindern mit Migrationshintergrund unterstützt durch den Aufbau einer schulinternen Lern- und Arbeitsbibliothek mit dem Schwerpunkt Mehrsprachigkeit und Vielfalt“ entsprechende Fördermaßnahmen an einer Schule in Vorarlberg.

Sofia Stratilaki-Klein zeigt in „Migration, Identität und Rekonstruktionen: vom monolingualen Habitus zur Mehrsprachigkeit“ anhand der Sprachbiografien zweier zweisprachiger Schülerinnen (Französisch-Spanisch und Französisch-Italienisch) die Möglichkeit, Sprachen in der Schule funktional für die Lernbiografie zu beurteilen.

Vera Ahamer („‚Sie wird zum Hofer gehen und Regale putzen.‘ Dolmetschen als Variable von sprachlicher Identität und Bildungsgerechtigkeit“) beschreibt begriffliche Zuschreibungen an Jugendliche mit Migrationshintergrund mit hauptsächlich negativer Besetzung, z.B. wenn Kinder für ihre Eltern dolmetschen müssen.

Inci Dirim und Anke Wegner sprechen sich in „Bildungsgerechtigkeit und der Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht“ für das reflexive Zulassen von Sprachmischung und von Gebrauchsweisen/Registern des Deutschen aus, welche sich aus dem Spracherwerbsprozess von MigrantInnen ergeben.

In Teil IV beschreiben Henriette Dausend und Viviane Lohe „Die Studie ‚Fundament mehrsprachiger Unterricht‘ (FuMu) – Was Schülerinnen und Schüler zum Einsatz ihrer Familiensprache im Fremdsprachenunterricht sagen“ die Ergebnisse einer Pilotstudie zu den Einstellungen mehrsprachiger SchülerInnen.

Ann-Birte Krüger schildert in „Die Sprachen aller Schülerinnen und Schüler in die Schule einbeziehen – aber warum?“ die Ergebnisse eines Basler Schulprojekts zur Einbeziehung der „individuellen Sprachrepertoires“ aller SchülerInnen in den Unterricht.

Maria Magdalena Mayr stellt in “Speaking in Two Voices: Mehrsprachige Gedichte im Fremdsprachenunterricht“ die im Rahmen ihrer Dissertation dazu gewonnenen Erkenntnisse vor.

Kerstin Göbel und Lars Schmelter behandeln in „Mehr Sprachen – mehr Gerechtigkeit?“ die Voraussetzungen und Bedingungen für die Berücksichtigung von Migrantensprachen in der Schule und entwickeln entsprechende Vorschläge für den Fremdsprachenunterricht.

Heidi Rösch diskutiert in „Sprachliche Bildung in der Migrationsgesellschaft“ ein-, zwei- und mehrsprachige Bildungsangebote und spricht sich für ein Curriculum „Mehrsprachigkeit“ aus, welches die Mehrsprachigkeit als Unterrichtsfach etablieren könnte.

Dragan Miladinovic führt in „Bildungsgerechtigkeit – Der Begriff ‚Zweitsprache‘ als Barriere?“ eine „rassismuskritische Analyse“ dieses Begriffs durch und kommt zum Schluss, „dass die vom Terminus ausgehende Rassialisierung der Forderung nach Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungsgerechtigkeit nicht standhalten kann.“ (S. 313f)

Diskussion

Wir haben hier ein Buch vor uns, das elf Artikel zu sehr unterschiedlichen Projekten bzw. Fördermaßnahmen enthält, vier, welche das Thema eher allgemein behandeln (Krumm, Oleschko & Lewandowska, Göbel & Schmelter,Rösch), sowie einen zur Universität (Melter). Alle diese Artikel bieten entweder Kurzübersichten zum Thema oder interessante Projektschilderungen. Sie sind informativ und gut lesbar.

Die Einleitung der Herausgeberinnen Wegner & Dirim und die Artikel von Khakpour & Knappik, Dirim & Wegner sowie Miladinovic bieten hingegen schwierigen Lesestoff: Sie basieren auf den Theorien bzw. Annahmen von Stojanov, Foucault, Bourdieu und Laclau und liefern z.T. fragwürdige Ausgangspositionen wie Folgerungen. Das illustriere ich im Folgenden an drei Beispielen.

1. Die Metapher des Monolingualismus als negative Gegenposition zur Mehrsprachigkeit

Im Klappentext finden wir den Begriff der „amtlich deutschsprachigen Staaten“. Diese seien „von dem Spannungsverhältnis der konzeptionellen Einsprachigkeit im Deutschen und der faktischen Mehrsprachigkeit der SchülerInnen gekennzeichnet“. Dazu ist zu sagen: In der Schweiz sind vier Sprachen Amtssprachen (das Rätoromanische nur für Angehörige dieser Volksgruppe), in Luxemburg Deutsch, Französisch und Letzebuergesch; in Österreich sind neben Deutsch mehrere gesprochene Minderheitensprachen zumindest in begrenzten Volksgruppenregionen Amts- und Unterrichtssprachen (Slowenisch, Ungarisch, Kroatisch) und in Deutschland sind Dänisch, Friesisch, Sorbisch und Romanes als nationale Minderheitensprachen, sowie Plattdeutsch als Regionalsprache geschützt (die Behörden müssen Korrespondenz in diesen Sprachen akzeptieren). Auch die Existenz von Dialekten, Regional- und Verkehrsvarianten des Deutschen und der anderen Sprachen bleibt unerwähnt. Damit entsteht der Eindruck, die MigrantInnen stünden einer monolothischen einsprachigen Gesellschaft gegenüber, welche ausschließlich das Standarddeutsche verwendet. Die Darstellung der Herausgeberinnen ist also sehr unangenehm verkürzt und man muss befürchten, dass sie die diesen sprachlichen Situationen entsprechenden Mehrsprachigkeitskonzepte nicht wahrnehmen.

Es mutet noch merkwürdiger an, wenn in der Vorbemerkung zur Buchreihe von den „als ‚deutschsprachige Länder‘ geltenden Staaten“ – die übrigens nicht genannt werden – die Rede ist (S. 9). Nur so glauben die Herausgeberinnen offenbar das negative Gegenstück zur Mehrsprachigkeit, meistens als „Monolingualität“ bezeichnet, klar begründen zu können. Als Hauptanliegen des Buchs bezeichnen sie ja die Herstellung eines Zusammenhangs „zwischen der Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit im Rahmen des monolingualen Bildungssystems und Vorstellungen von Bildungsgerechtigkeit“ (Klappentext). Es wäre der Sachlage wesentlich angemessener, wenn Herausgeberinnen und AutorInnen Regelungen und Forschungsergebnisse zu autochthonen Minderheiten sowie NichtstandardsprecherInnen (auch Angehörige dieser Gruppen unterliegen sozialem Druck bzw. Diskriminierung) heranziehen und ihre geeignete Anwendung auch auf aus Migration entstandene Sprachminderheiten diskutieren würden.

2. Soziologisch-metaphorische Fachsprache

Wir finden in den vier genannten Buchteilen eine soziologische Fachsprache, deren VerwenderInnen nur den Eindruck von Genauigkeit zu erzeugen versuchen, deren Begriffe (etwa „Kultivierung der Subjektautonomie“) aber genauso allgemein bzw. definitorisch unklar sind wie die mittels dieses Registers kritisierten (etwa „Bildungsgerechtigkeit“), weil – wie bei vielen Abstrakta – ihre je speziellere Bedeutung nur aus ihren verschiedenen Anwendungen bzw. Kontexten erkennbar wird. Die Autorinnen übersehen dabei, dass in der jüngeren Sprachphilosophie bereits seit Wittgenstein angenommen wird, dass die jeweils konkrete Bedeutung eines Begriffs nur über seinen jeweiligen Kontext konstituiert wird; leer im Wortsinn (also: ohne Bedeutung) ist er trotzdem nicht, sonst könnte er diskursiv überhaupt nicht mehr eingesetzt werden, da er keine kognitive Basis mehr hätte.

Dieselbe abgehobene Fachsprache findet sich in den von Herausgeberinnen und manchen AutorInnen vielfach zitierten Arbeiten von Krassimir Stojanov. Wer würde denn leugnen wollen, dass „Bildung“ – aus einer speziellen (Diskurs-)Perspektive – letztendlich auf die Entwicklung autonomer Persönlichkeiten abzielen solle? Herausgeberinnen und AutorInnen verhalten sich so, als ob diese Interpretation von Bildung eine Errungenschaft des 21. Jahrhunderts wäre. Die Frage ist nur: Wie geht das praktisch am Besten? Oder ist vielleicht die Frage so schon falsch gestellt? Aber solche metasprachliche bzw. metadiskursive Fragen werden im vorliegenden Buch nicht gestellt. Stojanovs Aufgliederung der Diskurse über Bildungsgerechtigkeit in Diskurse über „Verteilungs-“, „Teilhabe-“ und „Anerkennungsgerechtigkeit“ löst die Fragen der Praxis nicht, sie zeigt nur die vielen Facetten des ersten Begriffs. Die dazugehörige Fragestellung wird von den Herausgeberinnen zitiert: „erstens, ob und inwiefern die Kultivierung der Subjektautonomie bei allen Heranwachsenden wirklich als Ziel der Bildungsinstitutionen fungiert, und zweitens, wie diese Institutionen beschaffen sein sollen, damit sie die Formen von Sozialbeziehungen gewährleisten können, die für die Entwicklung der Subjektautonomie notwendig sind.“ (Stojanov 2011: 17, zitiert auf S. 13 der Einleitung der Herausgeberinnen). Hier fällt mir als Reaktion nur ein: „Ja, eh.“

3. Die Konstruktion des Gegensatzes „Deutsch“ vs. „*Deutsch“

Obwohl sich die Autorinnen auf die radikale Vorstellung von Laclau und Mouffe berufen, nach der alle Begriffe bzw. Kategorien sich allein aus Diskursen ergeben und daher inhärent instabil sind, versuchen sie einen stabilen Dualismus zwischen „*Deutsch“ und „Deutsch“ herzustellen: „*Deutsch ist in diesem Beitrag mit einem Sternchen markiert, um darauf hinzuweisen, dass die regulierende (Ein- und Ausschlüsse legitimierende) Funktion der *deutschen Sprache dann zum Tragen kommt, wenn diese Sprache als „native-Speaker-Variante“ oder als „normativ-korrektes Deutsch … konzeptionalisiert wird. Deutsch ohne Sternchen wäre das Konzept einer Sprache mit einer Bandbreite an Registern, Varianten, Abweichungen und Neuschöpfungen mit dem primären Ziel der Kommunikation. Wenn Sprache zum Regulativ wird, wird jedoch eine verengte Sprachauffassung eines „normativ-korrekten Deutsch“ zugrundegelegt, die keine Abweichungen von einer schriftsprachlichen Norm kennt und SprecherInnen in „native speaker/MuttersprachlerInnen“ und „nicht-MuttersprachlerInnen einteilt, wobei in dieser Auffassung „native speaker“ gleichbedeutend mit „normativ-korrekt“ konzeptionalisiert wird.“ (S. 31). Dazu ist Kritik von zwei Seiten nötig: Aus allen möglichen sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Positionen inklusive einer konstruktiv-realistischen Sichtweise ist die einzige Form des Auftretens einer lebenden Sprache die von den Autorinnen zweitgenannte. Der Scheinbegriff „*Deutsch“ weist lediglich darauf hin, dass Sprache durch Einzelne oder Gruppen auch als identitätsstiftender Faktor verwendet und so auch gegen andere Gruppen gewendet werden kann. Dass die identitätsstiftende Funktion einer Sprache nur mittels Rückgriffs auf ihre schriftliche Standardnorm eingesetzt werden kann, ist völliger Unsinn, was z.B. ein Blick in Fußballstadien beweist. Dass als „Nichtstandard“ angesehen Formen derselben Sprache, wie Dialekte oder Soziolekte zur Stigmatisierung und Diskriminierung ihrer VerwenderInnen führen können, wissen wir aus der Soziolinguistik seit Langem. Die entsprechenden Forschungsergebnisse scheinen den Autorinnen aber unbekannt zu sein, weil sie sich ausschließlich auf den Gegensatz zwischen „Deutschen“ und „MigrantInnen“ beziehen.

Die zweite kritische Bemerkung bezieht sich auf den theoretischen Standpunkt der Autorinnen: Beruft man sich auf Laclau und Mouffe, so übernimmt man die Annahme eines unauflösbaren Gegensatzes zwischen einer Gruppe mit einer (diskurs-)bestimmten Identität und allen anderen: Weil aufgrund der diskursiven Instabilität aller sprachlichen Elemente niemand seine Identität letztgültig fixieren kann, muss er/sie einen Gegensatz zwischen sich bzw. seiner Gruppe und „den Anderen“ konstruieren. Die absolute Abgrenzung zu diesen „Anderen“ ist also der Ersatz für die eigene unvollständige Identität. In diese theoretisch-analytische Falle der Herstellung eines unbegründeten Gegensatzes gehen nun die Autorinnen selbst, indem sie einen – noch dazu wissenschaftlich unangemessenen – Gegensatz zwischen „*Deutsch“ und „Deutsch“ (auch zwischen – offensichtlich „bösen“ – „*Deutschkenntnissen“ und – offensichtlich „guten“ „Deutschkenntnissen“) herstellen.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dass über Menschen bestimmter Herkunft kulturelle Stereotype vorhanden sind, dass ihnen aufgrund ihrer Herkunftssprache(n) oder -varietät(en) und ihres sozialen oder ethnischen Hintergrunds falsche, z.T. diskriminierende Eigenschaften zugeschrieben werden, ist seit Jahrzehnten bekannt. Die formulierten Probleme und Lösungsdiskussionen sind spätestens nach den pädagogischen Reformansätzen von Glöckel oder Korczak bis Freire bekannt. Dass wir alle diese falschen Vorstellungen und Diskriminierungen über Bildung und kulturellen Kontakt abbauen sollten, ist weitgehend akzeptiert. Hier wird hingegen so getan, als wären die Probleme gerade erst entdeckt worden und man müsste nun alle Lösungsmöglichkeiten neu erfinden (es gibt im Buch überhaupt keine historischen Vergleiche). Der Versuch, mithilfe radikaler postmoderner Theorien, ausschließlich geltende Beschreibungen und Erklärungen zu entwickeln, muss aber scheitern, weil diese Theorien in ihrer Absolutheit keinen Ausweg aus den von ihnen angenommenen Macht- und Diskursverhältnissen bieten. Aus ihnen können auch keine sinnvollen sozialen, politischen oder didaktisch-methodischen Lösungsstrategien abgeleitet werden. Man schwurbelt sich von einer theoretischen soziologisch-pädagogischen Position oder Interpretation zur nächsten und gestaltet das textlich als scheinbar zusammenhängende und widerspruchsfreie Argumentationen. Ohne jede sprachliche Distanz zu den angewandten Theorien wird auf Basis eines oft radikalen Dualismus eine Metapher von Welt und Bildung erzeugt, von der aus kein wirklicher Erkenntnisgewinn für die Gestaltung zwei- oder mehrsprachigen Unterrichts zu erreichen ist. Das ist meines Erachtens ein Beispiel dafür, dass soziologische Fachsprache mit ihrer großen Menge an Spezialwörtern und Metaphern dann keinen Dialog über die Praxis auslösen kann, wenn sie nicht mit Realitätsbezug bzw. praktischen Beispielen illustriert wird.

Fazit

Ein Buch, das man zur Hand nehmen sollte, wenn man sich mittels allgemeiner Kurzinformationen und Projektberichten über das Thema informieren will; die postmodernen theoretischen Teile kann man entweder ignorieren oder sich an ihnen argumentativ reiben.

Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 23.05.2016 zu: Anke Wegner, Inci Dirim (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit. Erkundungen einer didaktischen Perspektive. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. ISBN 978-3-8474-0669-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20309.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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