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Oliver Sacks: Dankbarkeit

Rezensiert von Dr. Thomas Kowalczyk, 17.02.2016

Cover Oliver Sacks: Dankbarkeit ISBN 978-3-498-06440-2

Oliver Sacks: Dankbarkeit. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2015. 3. Auflage. 64 Seiten. ISBN 978-3-498-06440-2. D: 8,00 EUR, A: 8,30 EUR, CH: 10,90 sFr.

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Autor und Entstehungshintergrund

Oliver Sacks (1933 – 2015) ist als britischer Neurologe und Schriftsteller weltberühmt. Ein besonderes Merkmal seiner publizistischen Tätigkeit war sein anekdotischer Schreibstil, mit dem er komplexe Krankheitsbilder allgemeinverständlich darstellte. In seinen Worten: „In einer Zeit, als die narrative Medizin schon fast ausgestorben war, entwickelte ich mich fast unbewusst zum Geschichtenerzähler.“ (S.50)

Die im vorliegenden Buch versammelten Essays widmen sich hingegen autobiographischen Themen. Oliver Sacks hat sie in den Jahren 2013 – 2015 geschrieben, in Kenntnis seines nahenden Lebensendes aufgrund einer Krebserkrankung. Die Essays wurden in der New York Times veröffentlicht, der letzte Text Sabbat zwei Wochen vor seinem Tod.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst vier Essays, die entsprechend der o.g. Erstveröffentlichung chronologisch geordnet sind:

  1. Quecksilber
  2. Mein Leben
  3. Mein Periodensystem
  4. Sabbat

Oliver Sacks denkt in diesen Essays „über das Altern, über seine Krankheit, über den nahenden Tod“ nach (S.63) und über seinen Lebensweg. In allen vier Texten drückt Sacks seine Dankbarkeit aus angesichts eines erfüllten 82jährigen Lebens. Die vier Essays unterscheiden sich dennoch sehr.

Quecksilber und Mein Periodensystem thematisieren seine tiefe Verbundenheit mit den exakten Naturwissenschaften. „Seit Kindertagen neige ich dazu, den Verlust – den Verlust nahestehender Menschen – zu bewältigen, indem ich mich auf die nichtmenschliche Welt konzentriere. Als man mich mit sechs Jahren, bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges in ein Internat schickte, wurden die Zahlen zu meinen Freunden. Mit zehn kehrte ich nach London zurück, dort machte ich die Elemente und das Periodensystem zu meinen Gefährten. Mein ganzes Leben hindurch veranlassten mich Kummer und Stress, mich den exakten Naturwissenschaften zuzuwenden…“ (S.34f) „Elemente und Geburtstage sind für mich seit jenen Kindertagen miteinander verknüpft, als ich die Ordnungszahlen der Elemente kennenlernte. Mit elf Jahren konnte ich sagen: „Ich bin Natrium“ (Element 11), und heute, mit neunundsiebzig, bin ich Gold.“ (S.13)

„Vor einem Monat glaubte ich, gesund zu sein, sogar sehr gesund. Mit einundachtzig schwimme ich immer noch eine Meile pro Tag. Aber mein Glück hat mich verlassen – vor einigen Wochen erfuhr ich, dass ich multiple Metastasen in der Leber habe.“ (S.23) So beginnt der wohl bekannteste Essay Mein Leben von Oliver Sacks. Er schrieb diesen Text in wenigen Tagen und ließ ihn kurz vor einer Operation in der New York Times veröffentlichen. Auf diese Weise machte er sein nahendes Lebensende öffentlich.

Viele Autobiographien sind mit Mein Leben überschrieben. Sacks hat sich hier in Inhalt und Überschrift von David Hume inspirieren lassen, dem Philosophen der schottischen Aufklärung. Hume erfuhr im April 1776, dass er unheilbar krank war und schrieb daraufhin an einem einzigen Tag seine (kurze) Biographie My own life (http://www.davidhume.org/texts/mol.html).

„Ich habe das Glück, mehr als achtzig Jahre gelebt zu haben, und die fünfzehn Jahre, die mir über Humes fünfundsechzig hinaus gewährt wurden, waren voller Arbeit und Liebe wie die Jahre davor. … In dieser Zeit habe ich fünf Bücher veröffentlicht und eine Autobiographie abgeschlossen … und mehrere andere Bücher sind fast fertig.“ (S.25)

Oliver Sacks nimmt das nahende Lebensende zum Anlass, noch einmal konzentriert zu arbeiten und mit seiner Welt ins Reine zu kommen. „Plötzlich sehe ich alles viel deutlicher. Mir bleibt keine Zeit mehr für Unwichtiges. Ich muss mich auf mich, meine Arbeit und meine Freunde konzentrieren.“ (S.27) und weiter „Ich kann nicht behaupten, ohne Furcht zu sein. Doch mein vorherrschendes Gefühl ist das der Dankbarkeit.“ (S.29)

Sacks beendet diesen Essay mit einer poetischen Selbstbeschreibung: „Ich habe gelesen und ferne Länder bereist und gedacht und geschrieben. Ich hatte Verkehr mit der Welt, den ganz besonderen Verkehr der Schriftsteller und Leser [in Anlehnung an ein Zitat von Daniel Hawthorne]. Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.“ (S.29)

Stärker als in Mein Leben, erzählt Sacks in seinem letzten Essay Sabbat von seinen schwierigen Momenten im Leben.

Die Eltern von Oliver Sacks waren Ärzte und orthodoxe Juden. Das jüdisch-orthodoxe Leben prägte die Kindheit und Jugend von Sacks und seinen drei Brüdern in Cricklewood, einer Gemeinde im Nordosten von London. Sacks löste sich schon mit der Bar Mizwa 1946 sukzessive vom Judentum. „Die rituellen Pflichten eines jüdischen Erwachsenen machte ich mir nicht mehr zu eigen…“ (S.47) Der Bruch mit dem Judentum wurde stark unterstützt durch die Reaktion der Mutter auf Sacks´ stillem Bekenntnis zu seiner Homosexualität. Seine Mutter reagierte mit den Worten „Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, du wärest nie geboren. … ihr vernichtendes Urteil flößte mir eine tiefe Abneigung gegen jegliche Form religiöser Engstirnigkeit und Grausamkeit ein.“ (S.48f)

Seine Wiederbegegnung mit seinem Cousin Robert John Aumann (Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2005), einem streng orthodoxen Juden half Sacks, sich mit dem Judentum zu versöhnen. Am 100. Geburtstag seiner Cousine Marjorie in Jerusalem erschien Sacks mit seinem Lebensgefährten Billy. „ … aber Billy wurde herzlich willkommen geheißen. Wie grundlegend die Einstellung sich selbst bei orthodoxen Juden gewandelt hatte, zeigte sich, als Robert John Billy und mich einlud, am Freitagabendmahl im Kreis seiner Familie teilzunehmen.“ (S.55)

Fazit und Diskussion

Oliver Sacks beendete seine (ausführliche) Autobiographie On the Move – Mein Leben (vgl. die Rezension) im Dezember 2014, bevor er erfuhr, dass sich ein Melanom, das neun Jahre zuvor in einem Auge entstanden war, zu einem metastasierenden Krebs entwickelt hat, der ihm nur noch wenig Zeit zum Leben ließ. Die hier gesammelten vier Essays, bis auf Quecksilber, der bereits 2013 verfasst wurde, schließen daher die kleine autobiographische Lücke bis zu seinem Tod 2015.

Oliver Sacks schreibt im vorliegenden Buch über sein Leben, noch viel mehr aber über seine Gedanken zum Leben, insbesondere über das Altern, Krankheit und den nahenden Tod. Die vier Essays unterscheiden sich. In Quecksilber und Mein Periodensystem beschreibt er seine tiefe Verbundenheit mit den exakten Naturwissenschaften. In Mein Leben (inspiriert von My Own Life, David Hume´s kurzer Autobiographie) liefert er eine Kurzbiographie im Bewusstsein des nahen Lebensendes. In Sabbat, dem letztveröffentlichten Text (zwei Wochen vor seinem Tod), widmet sich Sacks seiner orthodox-jüdischen Herkunft, seinem Bruch mit dem Elternhaus und der Versöhnung mit Familie und religiöser Herkunft.

Oliver Sacks schrieb diese Essays im Angesicht seines nahenden Lebensendes und in Würdigung der Lebensqualität des Alters. Die Texte sind in einem leichtfüßigen und dennoch ernsten Erzählstil verfasst. Sie sind geschrieben für einen Sommerabend, einen Sonntagmorgen, einen Herbstnachmittag, um sich selbst Gedanken über das Leben zu machen.

Eine große Dankbarkeit, zugleich der Buchtitel, für ein erfülltes und langes Leben, ist das verbindende Gefühl, dass Sacks in allen Texten zum Ausdruck bringt. In Quecksilber beschreibt er dieses Gefühl generationsübergreifend: „Mein Vater, der vierundneunzig wurde, sagte häufig, die Zeit zwischen achtzig und neunzig sei das schönste Jahrzehnt seines Lebens gewesen. Er empfand – ähnlich wie ich heute – keine Verengung, sondern eine Ausweitung seines geistigen Horizonts. Man blickt auf ein langes Leben zurück – nicht nur auf das eigene, sondern auch das anderer.“ (S.19)

Rezension von
Dr. Thomas Kowalczyk
Geschäftsführer COMES e.V., Berlin
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Es gibt 22 Rezensionen von Thomas Kowalczyk.

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ISSN 2190-9245