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Ekkehard Martens: Stechfliege Sokrates

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.02.2016

Cover Ekkehard Martens: Stechfliege Sokrates ISBN 978-3-406-68211-7

Ekkehard Martens: Stechfliege Sokrates. Warum gute Philosophie weh tun muss. Verlag C.H. Beck (München) 2015. 208 Seiten. ISBN 978-3-406-68211-7. D: 12,95 EUR, A: 13,40 EUR, CH: 20,50 sFr.

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Wer mit sich und seinem Leben nicht zufrieden ist, sollte philosophieren; wem wohl ist, erst recht!

Diese zweigesichtige Aufforderung verdeutlicht das Dilemma beim Umgang und beim Umdenken über Fragen, die scheinbar ganz leichtfüßig daherkommen und doch nicht selten im sumpfigen, scheinbar unbegehbaren Gelände stattfinden. Es sind die Fragen nach dem „Wer bin ich?“, „Was ist der Sinn meines Lebens?“, „Was ist Wahrheit?“, und es sind die Kantischen Grundfragen: „Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen?“, die Philosophieren zu Lebenslehren machen (vgl. dazu: Jos Schnurer, „Wer philosophiert – lebt!“, 28. 1. 2014, www.socialnet.de/materialien/174.php). Philosophie wird im allgemeinen übersetzt als „Liebe zur Weisheit“, als Nachdenken darüber, was menschliche Existenz ist und wie ein gutes, gelingendes Leben aussehen könnte. Vom britischen Philosophen, Logiker und Aristokraten Bertrand Arthur William Russell (1872 – 1970) stammt der irritierende Spruch: „Wissenschaft ist, was wir wissen, und Philosophie, was wir nicht wissen“. In den Zeiten, in denen scheinbar alles Wissen virtuell und sekundenschnell zur Verfügung steht, und bei denen wir langsam, zögerlich und ungläubig zu ahnen beginnen, dass „wir nichts wissen“, gewinnt die Aufforderung eine immer größere Bedeutung: Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! „Cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“), so drückte der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 – 1650) das Wissen über sich selbst aus, wobei er auswies, dass der Mensch sich seiner Gedanken unmittelbar bewusst sei, während er die Dinge, die von der Außenwelt auf ihn einwirken, nur unmittelbar wahrnehme. Es zeigt sich also bereits in dieser frühen philosophischen Zuordnung, dass unser Bewusstsein Bestandteil unseres Geistes und damit unseres individuellen Daseins ist. „Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert“. In das Stammbuch derjenigen, die nach wie vor der Auffassung sind, dass Wissen etwas ist, was man mit dem „Nürnberger Trichter“ einflößt und abfragbar ist, sei mit Aristoteles gesagt, dass „das Wissen des Warum im umfassenden Sinne und das Wissen vom Wesen einer Sache eng verknüpft“ sind ( W. Detel, in; Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 200ff ).

Die zahlreichen Aufforderungen, wie etwa „Leben lernen“ (Luc Ferry, 2009), das Rätsel des Lebens erkunden (Lawrence LeShan, 2012), die Fälschung der Welt erkennen (Manfred Lütz, 2012), eine humane Bildung verwirklichen (Julian Nida-Rümelin, 2013), Glück lernen (Joachim Münch / Irit Wyrobnik, 2011), philosophische Temperamente erkunden (Peter Sloterdijk, 2009), münden schließlich alle in der Erkenntnis, dass es besser und humaner sei, selbst zu denken, als von anderen Menschen, Institutionen und Ideologien denken zu lassen (Karl Heinz Bohrer, 2011). Dabei weisen zwei scheinbar unterschiedliche, jedoch synonyme und synergetische Zugangsweisen zu möglichen Erfolgen: Da ist die eine Auffassung, dass jeder Mensch ein Philosoph sei (Claus Baumann / Jan Müller / Ruwen Stricker, Hrsg., Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16849.php), und die andere, dass man von Philosophen lernen könne (Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Es soll Menschen geben, die deshalb keinen Urlaub in Schweden verbringen wollen, weil sie dort von Mücken und Stechfliegen gequält werden. Im Gegensatz zu den eher harmlosen Stubenfliegen besitzen die Stomoxys calcitrans einen nach vorne gerichteten, zugespitzten Stechrüssel, mit dem sie von Säugetieren und Menschen Blut saugen, sichdurch schmerzhafte Wunden bilden und Krankheiten übertragen werden können. Es ist also nicht anzuraten, sich in Gegenden aufzuhalten, in denen Stechfliegen leben. Und wie ist es mit Menschen, die provozierend oder selbstsicher von sich behaupten, ihre Haltungen und Handlungen seien mit den zielgerichteten, unermüdlichen, nervigen und schmerzhaften Angriffen einer Stechfliege vergleichbar? Ist es da nicht verständlich, solchen Menschen aus dem Weg zu gehen? Wer begibt sich schon freiwillig, leichtfertig und blauäugig in Gefahr, belästigt zu werden?

Der antike griechischePhilosoph Sokrates (470 – 399 v. Chr.) ging den Athenern auf die Nerven; mit seinen dauernden Mahnungen und Anklagen, dass sie immer nur danach strebten, möglichst viel Geld, Ansehen und Macht zu erringen, das Wertvollste am niedrigsten und das Minderwertige am höchsten einschätzten, anstatt sich um Vernunft, Wahrheit und eine gute Seele zu kümmern. Diese Klagen stammen nicht aus dem Jahr 2016, sondern wurden vor zweieinhalbtausend Jahren erhoben! Und was taten die Athener? Sie verurteilten ihn zum Tode! Der Hamburger Philosoph, Ethiker und Altsprachler Ekkehard Martens ist der Ansicht, dass jeder Mensch in allen seinen Lebensphasen in der Lage ist, grundsätzlich über seine Lebenssituationen und Verhaltensweisen nachzudenken. Er plädiert dafür, das Philosophieren schon früh zu lernen und Erfahrungen mit dem Nachdenken über sich und die Welt zu machen (vgl. dazu auch: Barbara Brüning, Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in Theorie und Praxis, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18378.php). In seiner etwas anderen Geschichte der Philosophie greift Martens das Bild von der Stechfliege auf, das Sokrates als Argument bei seinen Mitbürgern benutzte, sie immer wieder anzustacheln, damit sie ihr Leben ändern und ein „gutes Leben“ führen sollten. Diese Mahnungen und Aufforderungen taten weh, wie sie auch heute denjenigen schmerzen, die an ein humanes Menschsein glauben. Die Buchgestalter setzen auf die Titelseite des Buches „Stechfliege Sokrates“ auf die Stirn einer Sokrates-Büste (wie man sie in Museen, Amtsstuben und auf öffentlichen Plätzen sehen kann) ein Insekt, das erkennbar zum Stich ansetzt. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass Philosophieren ein anstrengendes, schmerzhaftes Unterfangen ist, selbst zu denken, als „Provokation, das Leben und die Welt zum Besseren zu verändern“.

Aufbau und Inhalt

Die Einführung in die Philosophie enthält historische, anthropologische, kulturelle, geisteswissenschaftliche und literarische Elemente, mit denen aufgezeigt wird, „wie Philosophie jeden Einzelnen und jede Zeit auf eine schmerzhafte Probe des (intellektuellen, JS) Denkens stellen kann, jedes Mal von neuem und auf eine andere Weise“. Das Buch enthält elf Kapitel, die als Fragen formuliert und anhand von Beispielen mögliche Antworten, aber auch neue Fragen diskutiert werden:

  1. Warum wollen wir überhaupt frei sein? – Der gewaltige Stein des Sisyphos
  2. Was ist uns im Leben wichtig? – Die Stechfliege Sokrates
  3. Können wir die Wirklichkeit erkennen? – Platons Höhlengefangene
  4. Können wir glücklich leben? – Epikurs Sturm der Seele
  5. Was kann uns trösten? – Boethius´ Seelenärztin
  6. Welche Gewissheit können wir erreichen? – René Descartes´ Traum am Kamin
  7. Wie viel Gier brauchen wir? – Bernard Mandevilles Bienenfabel
  8. Was ist der Mensch? – Immanuel Kants bestirnter Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir
  9. Ist die Wissenschaft der Maßstab von allem? – Martin Heideggers blühender Baum
  10. Wozu brauchen wir Urteilskraft? – Hannah Arendts Denken ohne Geländer
  11. Wem kann Philosophie heute noch wehtun? – Harry C. Frankfurts Bullshit und Philosophie in der Öffentlichkeit.

Symbole helfen Denken! Etwa wenn wir das Schicksal des Königssohns Sisyphos aus der griechischen Mythologie anschauen, der gezwungen war, immer wieder einen gewaltigen Stein den Berg hinauftransportieren zu müssen, der kurz vor dem Ziel immer wieder zurück rollte. Die Spekulationen und Vermutungen darüber, ob der Mann ein unglücklicher, ein zaghafter, fremdbestimmter, vielleicht sogar zwanghafter Mensch oder gar ein glücklicher Mensch (Albert Camus) gewesen sei, durchziehen die ganze Philosophiegeschichte; ob uns Sokrates mit seinen Dialogen etwas zu sagen habe; was Platons Höhlengleichnis über Wirklichkeit, Wahrheit, Sein und Schein zum Ausdruck bringe; wie Schmerz und Lust unser Leben bestimmen; wie es gelingen könne, „Suggestivität und negative Auswirkung eines geschlossenen Denkrahmens“ zu überwinden; wie wir sowohl Gewissheiten des Lebens erkennen, als sie auch kritisch bedenken können; was Gier in uns positiv bewirkt und negativ mit uns macht; wie wir uns als moralische Lebewesen verstehen und human leben können; wie wir unser Verhältnis zu wissenschaftlichen Erkenntnissen einrichten können; wie es möglich sein kann, selbständiges, freies und unabhängiges Denken zu erreichen. Und zum Schluss: Wie wir uns des Dilemmas bewusst werden können, dass „Wahrheit die Erfindung eines Lügners“ sei (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php), und gleichzeitig den Anspruch nach Autonomie und Individualität erheben und leben können. Martens wird auch hier bei Sokrates fündig: „Wissen ist eine möglichst begründete, und das heißt bewährte wahre Meinung“.

Fazit

Die vielfältigen Bezüge zu Philosophen und Philosophien, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gewissermaßen die Menschen gereizt, gepiekst und aufgefordert haben, den eigenen Verstand zu benutzen, wenn es darum geht, über existentielle und elementare Fragen des Lebens nachzudenken, bieten uns die Möglichkeiten an, unser Denken und Handeln immer wieder auf den Prüfstand von Werden, Sein und Vergehen zu stellen; immer mit dem Ziel und der Hoffnung auf ein humaneres, freieres Leben. Mit dem Bild der „Stechfliege“ sind die Chancen dafür nicht schlecht gewählt, dass es im individuellen und gesellschaftlichen, lokalen und globalen Leben der Menschen auf der Erde gelingen möge, aufgeklärt zu denken (vgl. dazu auch: Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20253.php).

Man kann sich gut vorstellen, das Taschenbuch aus der Reihe C.H.Beck Paperback jungen Menschen an die Hand zu geben; genau so wie Freunden, die auf den Weg sind hin zu dem, was als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt; wie auch denjenigen, die zaudern, vielleicht sogar resignieren, unsicher sind und nicht wissen, wohin sie gehen wollen und sollen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1665 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.02.2016 zu: Ekkehard Martens: Stechfliege Sokrates. Warum gute Philosophie weh tun muss. Verlag C.H. Beck (München) 2015. ISBN 978-3-406-68211-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20342.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.


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