Klaus Kraimer (Hrsg.): Aus Bildern lernen Band 2. Rekonstruktion und Narrativität
Rezensiert von Prof. Dr. Lisa Niederreiter, 15.04.2016
Klaus Kraimer (Hrsg.): Aus Bildern lernen Band 2. Rekonstruktion und Narrativität. Klaus Münstermann Verlag (Ibbenbüren) 2016. 163 Seiten. ISBN 978-3-943084-32-0. D: 31,00 EUR, A: 31,90 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Mit seinem Band 2 unter dem Motto „Aus Bildern lernen“ setzt Klaus Kraimer, Professor für Theorie, Praxis und Empirie Sozialer Arbeit als Herausgeber die Sammlung von Überlegungen zur (sozialen) Erkenntnisdimension von Bildern in der Tradition der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann fort.
Waren in Band 1 noch eher Beiträge mit einem Schwerpunkt der Rekonstruktion von beispielsweise für die Soziale Arbeit relevanten Phänomenen (familiäre Lebenswelten, Kinderzeichnung, Beispiele aus der Lehre) versammelt, so konzentriert und erweitert Kraimer die vorliegende Publikation um den Aspekt der Narrativität von Bildern in ihrer Bedeutung auch für Forschung.
Aufbau und Inhalt
Nach einem umfänglichen und fundierten Vorwort zu den themenspezifischen Grundlagen der „Sichtbarmachung des Ungesagten“ eröffnet Klaus Kraimer den Band mit einer systematischen Darstellung der Methode der Life-Space-Bild-Intervention als mögliche Handlungsform Sozialer Arbeit. Diese leitet sich unter Einbeziehung von biographischem Bildmaterial vom Life-Space-Interview in der Milieutherapie ab und zeigt sich so überzeugend als professionalisiertes Verfahren der Krisenbewältigung mit Adressat innen in der sozialpädagogischen Praxis. Bildgestützt würde sich hier einerseits eine autonome „Bewährungsdynamik“ installieren, zum anderen sei diese wissenschaftlich abgestützt, weil im Bildmaterial rekonstruierbar.
Den zweiten, mit dem Titel „Kunstwerkanalysen“ überschriebenen Abschnitt des Buches (Kapitel II), eröffnet Kirstin Bromberg mit einem fiktiven Dialog, den sie mit Mary E. Richmond, einer Pionierin Sozialer Arbeit, über ein mit Text versehenes kleines Fotoalbum führt. Dieser „illustrierte Brief“ wird in der Folge als einer bedeutenden langjährigen Freundin von Richmond (Z.D.S.) zugedacht erläutert und in seiner sozialen Funktion analysiert.
Jessica Nitsche beschäftigt sich sodann mit Porträts in Fotografie und Malerei in ihrer Lesbarkeit als „Politiken des Visuellen“, wobei sie vorab mittels Texten und Kindheitsphotographien von Walter Benjamin für historische Vorläufer bzgl. der Rezeption von Bildern in ihrer politischen Dimension vor dem iconic oder pictural turn sensibilisiert. So auch für August Sanders Fotografien von „Menschen des 20. Jahrhunderts“, die Benjamin als „serielle Gesellschaftsporträts“ und als einen „Übungsatlas“ bezeichnet, um ihren Wert als wissenschaftliche Verbildlichung von Zeit deutlich zu machen. Andere systematische Bildersammlungen werden genannt, bevor sich die Autorin den Porträtserien in der Malerei von Marlene Dumas widmet und deren historische, soziale und politische Komponente herausarbeitet. Die Themen und Entstehungsprozesse der Bildserien legen eine kritische kulturelle Kontextualisierung zwingend nahe und machen sie so (als „Anarchive“) zu einem politischen Reflexionsmedium unserer Zeit.
Oliver Schmidtke und Frank Schröder beschließen das Kapitel mit der Analyse einer Schlüsselszene aus Stanley Kubricks Film „Shining“, anhand derer sie die bisher in der Fachliteratur eher vernachlässigten Filmdialoge genauer in den Blick zu nehmen und in eine genaue Beziehung zu den Bildern des Films zu setzen beabsichtigen. Dadurch entstünden – der These der Autoren folgend - Entsprechungen, welche die soziale Realität der Szenen, sowie die Beziehungsstrukturen der Protagonisten/in entschlüsselbarer machen können. Die präzise Analyse ist zwar zwingend und nachvollziehbar, es wird jedoch nicht ganz klar, ob die gewählte Methode bei diesem mit zahlreichen Vor- und Rückblenden spielenden, andeutungsreichen Film den/die Leser/in zur Gänze überzeugen wird.
Kapitel III ist der Fotografie und Fotodokumentation gewidmet. Sandra Hahn eröffnet diesen letzten Teil des Bandes mit kenntnisreichen Überlegungen zur Fotografie als vermeintlichem Abbild von Realität. Die Autorin sensibilisiert für die Konstruiertheit von Fotografien als mit bedingt von Handlungssituationen und sozialen Interaktionen, genauso wie für ihre Funktion der Inszenierung von Information in den Massenmedien. Insofern spielen bei der Decodierung von Fotos Herkunft und Kontext ihrer Entstehung eine bedeutsame Rolle, zudem ist die Betrachterabhängigkeit jeder Entschlüsselung wichtig und zwar in thematischem wie ästhetischem Sinne. Die Berücksichtigung all dieser Aspekte inclusive der Ergebnisse aus der neueren Hirnforschung muss erfolgen, um eine gültige Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit in ihren Sinnstrukturen zu ermöglichen.
Klaus Münstermann und Heidi Neulinger berichten in der Folge von einem Foto- und Ausstellungsprojekt für Pflegekinder als mögliche Interventionsform in der Kinder-und Jugendhilfe. Anläßlich der Vorstellung von drei Kindern und Jugendlichen mit jeweils zwei nach ihren Ideen erstellten und von ihnen ausgewählten Portraitfotografien nehmen die Autoren/in erste vorsichtige Interpretationen vor und loten das Projekt in einer möglichen systematischen Weiterentwicklung als sozialpädagogische Methode aus.
Den letzten Beitrag des Bandes (Kapitel IV) liefert Jan Zychlinski mit einem Plädoyer für die Fotografie als soziales Dokument und methodischen Ansatz Sozialer Arbeit am Beispiel der Diskurse zum sozialen Raum. Vorab umreißt der Autor die bisher (zu) eingeschränkte Nutzung der Fotografie in der Sozialen Arbeit primär als Medium von Aktivierung, von Kommunikation und Generierung von spezifischer Information. Er zeichnet dabei ein überzeugendes Bild von einem weit größeren Potential der Fotografie als Instrument sozialwissenschaftlicher Praxis und Forschung. Am Beispiel der ebenso weitgehend noch zu unspezifisch verhandelten Sozialraumdebatte – epochenmäßig fallen der „spatial und der pictural turn beinahe zusammen“ – plädiert Zychlinski für Möglichkeiten eines substantiellen Zeigens von Räumen über die Fotografie, welche Wissen und Kenntnis zu transportieren vermögen, die nicht oder nur bedingt in Sprache fassbar sind. Mit sozial dokumentarischen Bildern und der Beschreibung eines sozialraumorientierten Foto-Workshops von Studierenden der Sozialen Arbeit in Bern exemplifiziert und erläutert er seinen weit über die Sozialraumerkundung hinausgehenden Ansatz und vermittelt so einen Eindruck seines emanzipatorisch wirkenden Zugangs.
Den Abschluss der Publikation bildet mit Kapitel V ein von Klaus Kraimer und Lena Altmeyer erstelltes, fundiertes und damit sehr hilfreiches Glossar zu den wichtigsten themenspezifischen Fachbegriffen und Fachdiskursen in diesem Feld, das mit weiterführenden Quellen ausgestattet ist.
Diskussion und Fazit
Diese facettenreiche Publikation löst in der Darstellung unterschiedlicher systematischer Einsichtnahmen in Bilder ihren Anspruch auf die Vermittlung ihrer großen Bedeutung für die Entschlüsselung sozialen Sinns ein. Wie für einen Herausgeberband nicht untypisch, sind die einzelnen Beiträge thematisch wie methodisch uneinheitlich, einige firmieren – Vignetten ähnlich – als Beispiele angewandter Analyse (Kirstin Bromberg und Oliver Schmidtke/Frank Schröder). Andere geben in ihrer Umfänglichkeit Einblicke in die theoretischen Begründungen eines so neu gefassten Bildbegriffs (z.B. Sandra Hahn und Jessica Nitsche) und eröffnen nachvollziehbare Perspektiven und Projektentwicklungen auf den Ebenen der Intervention und Forschung in Sozialwissenschaften und Sozialer Arbeit (Klaus Kraimer und Jan Zychlinski). Dabei werden Handlungsformen Sozialer Arbeit umfänglicher bedient als systematische Überlegungen zum Bild als Methode der Forschung. Insofern ist der Band sicherlich lesenswert für Studierende, Lehrende und professionell Tätige in den Feldern Sozialer Arbeit, (Medien)Bildung und (ästhetischer) Erziehung. Doch auch Forschende im Kontext von Sozial- und Kulturwissenschaften und Künstler/innen in Zusammenhang mit partizipatorischen Projekten werden von dieser Publikation profitieren.
Rezension von
Prof. Dr. Lisa Niederreiter
Kunst- und Sonderpädagigin, Kunsttherapeutin, Künstlerin
Professorin an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
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Es gibt 9 Rezensionen von Lisa Niederreiter.
Zitiervorschlag
Lisa Niederreiter. Rezension vom 15.04.2016 zu:
Klaus Kraimer (Hrsg.): Aus Bildern lernen Band 2. Rekonstruktion und Narrativität. Klaus Münstermann Verlag
(Ibbenbüren) 2016.
ISBN 978-3-943084-32-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20354.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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