Thomas Geier, Katrin U. Zaborowski (Hrsg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen
Rezensiert von Tatjana Kasatschenko, 02.06.2016
Thomas Geier, Katrin U. Zaborowski (Hrsg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2016. 220 Seiten. ISBN 978-3-658-03808-3. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 37,50 sFr.
Thema
Die Autor_innen des Bandes der Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ befassen sich in unterschiedlichen Schwerpunkten mit pädagogischen Fragestellungen unter Bedingungen migrationsgesellschaftlicher Realität.
Aufgeteilt ist der Band in sechs thematische Felder:
- Kritische Ein- und Ansätze
- Auflösungen und Grenzziehungen im Ländervergleich
- … in pädagogischen Institutionen
- … in Sprachverhältnissen
- … in der Praxis angehender Lehrkräfte
- … in Religionsverhältnissen
Das Buch setzt sich auf insgesamt 236 Seiten aus elf Beiträgen und einer Einleitung zusammen.
Entstehungshintergrund
Einige der Artikel sind in Anlehnung an die Vorträge der Halleschen Abendgespräche am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB/ Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) im Wintersemester 2012/2013 entstanden. Die Vortragsreihe trägt den gleichnamigen Titel des Bandes, der für die Publikation um weitere Beiträge und Themen ergänzt wurde.
Inhalt und Diskussion
Mecheril / Thomas-Olalde / Melter / Arens / Romaner gehen der Frage nach kritischem Wissen in dominanten Diskursen um Migration nach. Wissen und Macht werden im Sinne Foucaults dabei stets zusammen gedacht. Für die Autor_innen steht die Kritik im Zentrum einer Migrationsforschung, die gegebene Dominanzverhältnisse in den Blick nimmt und analysiert. Zu denken ist Kritik hierbei immer als eine sich selbst der Kritik unterziehende. Eine kritische Migrationsforschung, die gegebene Macht-und Hierarchieverhältnisse eben nicht als gegeben (und versöhnend) annimmt, agiert aus dem kritischen Moment des Willens zum Widerstand immer auch politisch. Denn sie erforscht und liefert Ergebnisse, die in bestehende machtvolle Diskurse einwirken und damit einen Beitrag zur migrationsgesellschaftlichen Realität leisten. Erforscht bzw. analysiert werden nicht nur migrationsgesellschaftliche Herrschaftsstrukturen, sondern auch Prozesse von Subjektivierung unter eben diesen Strukturen von ungleichen Machtverhältnissen. Auch wenn die Autor_innen die kritische Analyse solcher Strukturen in den Fokus rücken, bleibt die Eröffnung von Möglichkeitsräumen für Verschiebungen dieser nicht außer Acht. Mit diesem Artikel ist den Verfasser_innen ein differenzierter und rassismuskritischer Beitrag gelungen.
Aus postkolonialer Perspektive blickt Maria do Mar Castro Varela auf pädagogische Institutionen als machtvolle Instrumente zur Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit, (Selbst-) Bildern und sozialen Zugehörigkeiten. Zur Frage danach, was pädagogische Praxis in der Migrationsgesellschaft also bewirkt, muss zunächst Pädagogik und Bildung selbst unter Kritik gestellt werden. Die Autorin zeichnet die Verschränkungen von Bildung, Macht und (eurozentrischem) Wissen in postkolonialer Perspektive anschaulich nach. Postkoloniale Pädagogik hat mitunter die Aufgabe, – durch Bildung produzierte – Ignoranz zu überwinden. Ignoranz wird dabei verstanden als strukturiert produziertes Nicht-Wissen, das vor der Kritik am (europäischen) Selbstbild schützt. Postkoloniale Pädagogik liefert damit im Sinne Spivaks einen Beitrag zur Dekolonialisierung des Geistes bzw. des Denkens. Dies bedeutet eben auch die Entwicklung einer globalisierten Perspektive und die notwendige Intervention in eine Erziehung, die sich bislang als eine normativ klassenbasierte vollzieht.
In Logiken von (nationalen) Zugehörigkeitsordnungen analysieren Carsten Keller und Ingrid Tucci in einem deutsch-französischen Vergleich die Handlungsstrategien und Statuspassagen von Migrant_innennachkommen. Im Fokus des Forschungsinteresses stehen zum einen die nationalen Unterschiede auf der Ebene des Diskurses um Ethnizität bei den Professionellen im sozialen Bereich und zum anderen die unterschiedlichen Bedeutungen von Ethnizitätskonstruktionen für die Migrant_innen selbst. Die Autor_innen zeigen mit Einblick in ihre Forschungsergebnisse auf, dass in Deutschland der kulturellen Zugehörigkeit größere Relevanz und Wertigkeit zugeschrieben wird. Ebenso wird auf diese als Argumentationsfigur eher zurückgegriffen. Gemeinsam ist beiden Forschungsorten die eher defizitäre Perspektive auf „Kultur“. Die Autor_innen bewegen sich trotz des eingangs angesprochenen Konstruktionscharakters von Ethnizität in einer eher interkulturellen Perspektive. Dies ist vor allem der Fall, wenn natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsgefühle von den Forscher_innen befragt werden, ohne dass auf die Möglichkeit von hybriden Identitätskonstruktionen und Mehrfachzugehörigkeiten verwiesen wird. Im deutsch-französischen Vergleich scheint die koloniale Vergangenheit Frankreichs als Argumentationsfigur dafür, Migrant_innen assimilatorisch statt per se grenzziehend zu begegnen, naheliegend – allerdings trägt die Verharmlosungstendenz deutscher Kolonialgeschichte, in diesem Kontext durch die explizite Dethematisierung postkolonialer europäischer und damit auch deutscher hierarchischer (Fremd- und) Selbstbilder, dazu bei, eben diese unreflektiert zu lassen.
Zu herkunftsbedingten Grenzziehungen in der Schule schreiben im nächsten Kapitel Birgit zur Nieden und Juliane Karakayali aus einer rassismustheoretischen Perspektive. Machtkritisch legen die Autorinnen ein Rassismusverständnis im Sinne Balibars dar und skizzieren zudem die migrationspolitisch (mit-) initiierte Ungleichbehandlung von Kindern mit Migrationshintergrund (und Nachkommen der Arbeitsmigrant_innen) im Bildungssystem. Die Autorinnen diagnostizieren eine postmigrantische Realität der Gesellschaft und machen ebenso auf die weiterhin bestehende Trennung durch die quantitative Ungleichverteilung von als ‚deutsch‘ und ‚migrantisch‘ geltenden Kindern an Schulen aufmerksam. Die Verfasserinnen verweisen auf strukturelle und institutionelle Faktoren, die in bisherigen Erklärungsversuchen wenig Berücksichtigung finden. Diskursive Argumentationsstränge entlang der Begrifflichkeiten ‚bildungsnah‘ und ‚bildungsfern‘ werden kritisch in den Blick genommen und als postrassistisch identifiziert.
Der Reproduktion und Festigung von Differenzen durch die Praxis des Aufrufens von Differenz widmet sich Nadine Rose im Kontext der Konstruktion von ‚Migrationsanderen‘ (Begrifflichkeit: in Anlehnung an Mecheril). Sie zeichnet die kulturalisierungskritischen Entwicklungen in der Migrationsforschung nach und fokussiert die Frage, wie ‚Migrationsandere‘ in der Institution Schule hervorgebracht werden. Normativität, machtvolle Diskurse und Subjektivierung in Anlehnung an Butler und Foucault führen die Autorin zur Thematisierung von Subjektwerdung unter Bedingungen von Rassismus. Sie wendet den Blick zunächst auf Fremdzuschreibungen und damit auf die Konstruktion zu einem/r ‚Anderen‘. Des Weiteren steht der Umgang mit solchen Markierungen von außen im Vordergrund: Das ‚Sich-Verhalten‘ und (Selbst-) Positionieren zu kulturrassistischen Konstruktionen als Bestandteil von Subjektivierungsprozessen jugendlicher ‚Migrationsanderer‘. Dass die Dominanzgesellschaft und ihre Institutionen – insbesondere die Schule – einen erheblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung eines binären (‚wir‘/‚sie‘, ‚dazugehörig‘ / ‚nicht-dazugehörig‘) und hierarchischen Denkens leisten, wird von der Autorin deutlich in ihrem Beitrag veranschaulicht.
Dem Potenzial zur Produktion von Ungleichheit widmen sich Melanie Kuhn und Miriam Mai in ihrer Forschung zum Sprachstandserhebungsverfahren Delfin4, das in NRW an allen Kindern im Vorschulalter durchgeführt wird. Die Autorinnen stellen zwischen landes- und kommunalpolitischer Ebene eine Diskrepanz des Anspruchs fest: während einerseits durchweg alle Kinder, ungeachtet ihrer Ein- oder Mehrsprachigkeit, getestet werden sollen, wird andererseits eine ethnische Unterscheidungspraktik formuliert. Dieser Umstand führt die Autorinnen zum einen zu der Frage, welche Auswirkungen dies auf die konkrete Praxis der Erhebung hat, zum anderen, welchen Stellenwert das Erhebungsverfahren für die Differenzierungsprozesse in Institutionen entlang der Kategorie ‚Ethnizität‘ aufweist. In ihren Untersuchungen stoßen sie auf eine ‚Mogelpraxis‘ der Professionellen, die bei einem Schüler mit ‚deutscher Familiensprache‘ angewendet wird, um die Testergebnisse nach oben hin zu korrigieren. Im vergleichenden Fall mit einem Schüler, der vorher der Kategorie ‚zweisprachig mit deutsch‘ zugeordnet wurde, werden solche Strategien seitens der Erhebenden nicht angewendet. Mit den daraus resultierenden, unterschiedlich bewerteten Sprachstandergebnissen wird eine konsequenzreiche bzw. langfristige Ungleichheit produziert, die anhand der ethnisch differenzierenden Praxis des eingreifenden ‚Mogelns‘ erfolgt.
Zum Einbezug der Mehrsprachigkeit im Unterricht schreiben Birgit Springsits und Inci Dirim und Fragen in machtkritischer Perspektive nach Subjektivierungsprozesse von Schüler_innen mit Migrationshintergrund. Vor dem Hintergrund eines oftmals betonten engen Verhältnisses von Sprache und Identität machen die Autorinnen darauf aufmerksam, Diskurse und die symbolische Funktionalität von Sprache als machtvolle im Prozess der Subjektivierung zu begreifen. Sie greifen Identitätsbildung im Sinne Foucaults als eine Form der Macht auf und verweisen darauf, machtvolle Diskurse und den Rekurs auf Sprache(n) mitzudenken, statt Sprache auf rein individualisierender Ebene als identitätsbildend zu begreifen. Sie fragen zudem nach den angebotenen Subjektpositionen für unterschiedliche Schüler_innen entlang von zugeschriebenen ‚(Sprach-)Identitäten‘.
Anhand einer Forschung zur frühkindlichen Sprachförderung in der Schweiz zeigen Argyro Panagiotopoulou und Maria Kassis, wie normative Vorstellungen hinsichtlich der situativen Verwendung von ‚richtiger‘ (Bildungs-)Sprache und der Forderung nach Einsprachigkeit die mehrsprachige Realität der Kinder weder berücksichtigen noch anerkennen. Die Autorinnen zeigen anhand der Praxis der Sprachförderung, wie Kinder im Grundschulalter vor konstruierte Problemlagen, dem Zwang zur Einsprachigkeit und damit unberücksichtigtem realen (Mehr-) Sprachenleben unterworfen sind. Vor dem Hintergrund, dass sowohl die Kinder als auch die Lehrpersonen, die für die ‚Hochdeutschförderung‘ eingesetzt sind, einen mehrsprachigen Alltag leben, wird die dominante Vorstellung von Monolingualität und einer einzigen Bildungssprache nachvollziehbar von den Autorinnen als ‚Abwehr der Bedrohung‘ durch Multilingualität veranschaulicht.
Auch im nächsten Beitrag von Argyro Panagiotopoulou und Lisa Rosen steht das Thema Sprache im Vordergrund. Die Autorinnen untersuchen, wie angehende Lehrkräfte mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit diese im schulischen Kontext reflektieren sowie zwischen eigenen Erfahrungen und dem perspektivischen (Selbst-) Verständnis als Professionelle unterscheiden. Sprache zeigt sich in den Ergebnissen als Abgrenzungsmechanismus, der vermieden werden muss – vor allem seitens der Lehramtsstudierenden mit Migrationshintergrund gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, insofern sie nicht die deutsche Sprache für den Kommunikationsweg verwenden. Die Autorinnen zeigen anhand der Analyse von Interviews auf, wie durch die scheinbare und imaginierte Umkehrung von Machtverhältnissen mehrsprachige Lehramtsstudierende und Minderheitsangehörige in ihrer Wahrnehmung als – die Mehrheitsangehörigen – potentiell ausgrenzend konstruiert werden. Die Verfasserinnen zeichnen die durch biographische Erfahrungen bedingte Reflexion über den Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit der Studierenden auf interessante Weise nach. Näher einzugehen bzw. stärker zu kritisieren wäre die machtvolle und sozial vermittelte ‚Schuld‘- und Täterkonstruktion in ihrer gesellschaftsstrukturierenden Funktionalität, wenn Ausgrenzungen und Benachteiligungen von Migrant_innen seitens der Dominanzgesellschaft nicht nur ausgeblendet und dethematisiert, sondern zu ihrer eigenen (mit imaginierter Macht ausgestatteten) ‚(Selbst-) Verantwortung‘ gar verkehrt werden.
Aysun Doğmuş fragt im vorletzten Beitrag des Bandes nach der subjektiven Bedeutung der Differenzkategorie ‚Migrationshintergrund‘ für Lehramtsstudierende im Referendariat als einen konjunktiven Erfahrungsraum. In kritischer Weise werden die eigene Rolle und Position, dominante Wissensbestände und Normalitätsvorstellungen auch seitens der Forschenden bei der Forschung um Professionalisierungsprozesse „Migrationsanderer“ berücksichtigt. Anschaulich macht die Autorin auf das unausgesprochene, dennoch auf beiden Seiten vorhandene Wissen um die Konstruktion als Migrantin und ‚Andere‘ aufmerksam. Entlang dieses Wissens um die Differenzmarkierung werden Handlungsmuster als Strategien erst sichtbar und plausibel.
Das von der Erziehungswissenschaft bislang kaum beachtete Bildungsnetzwerk der „Gülen-Bewegung“ nehmen Thomas Geier und Magnus Frank im letzten Beitrag des Bandes in den Blick. Sie fragen danach, wie Bildung im „Hizmet“ vermittelt und welcher Stellenwert ihr beigemessen wird. Im Fokus der Analyse steht die Praxis im „sohbet“, einem wöchentlich stattfindenden religiös-islamischen Gesprächskreis. Anhand zweier Fallportraits zeigen die Autoren den Einfluss der Teilhabe am „sohbet“ für (bildungs-) biographische Verläufe junger muslimischer Erwachsener auf.
Fazit
Der Band bietet ein breites Spektrum an unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten und Zugängen in der Entwicklung einer Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. Zahlreiche Studien der Bildungsforschung geben einen guten Einblick in die pädagogische Praxis und ihren Beitrag zur (Re-) Produktion sowie dem Versuch einer Transformation diskursiver und struktureller Grenzziehungen. Eine durchaus differenzierte und (rassismus-) kritische Einleitung führt in die interessanten Themen und Untersuchungen von migrationsbedingten Grenzziehungen und Auflösungen ein.
Rezension von
Tatjana Kasatschenko
M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik der TU Darmstadt
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Zitiervorschlag
Tatjana Kasatschenko. Rezension vom 02.06.2016 zu:
Thomas Geier, Katrin U. Zaborowski (Hrsg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-03808-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20396.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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