Renate Elli Horak: Nicht-Stetigkeit und Bildungsbegehren als Momente weiblicher Bildungsbiographien
Rezensiert von Prof. Dr. Anna Maria Riedi, 19.08.2016
Renate Elli Horak: Nicht-Stetigkeit und Bildungsbegehren als Momente weiblicher Bildungsbiographien. Theoretische und qualitativ-empirische Analysen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2016. 268 Seiten. ISBN 978-3-7815-2073-8. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Thema
Lebenserfahrungen von Frauen und Männern gelten der Autorin als Ausgangs- und Orientierungspunkte für die Erwachsenenbildung. Die Publikation analysiert daher weibliche Bildungsbiographien und die (Selbst-)Reflexion der Betroffenen auf ihre Biographien. Daten werden in Gruppendiskussionen und in einem autobiographischen Interview erhoben. Es zeigt sich, dass Nicht-Stetigkeit ein zentrales Moment der Erfahrungen in weiblichen Biographien darstellt. Im Weiteren wird das Material auch auf Fragen des Bildungsbegehrens in weiblichen Biographien untersucht. Damit zielt die Publikation auf weibliche Lebenswirklichkeiten, welche unter anderem gezeichnet sind durch spätes Erst- oder Zweitstudium, schwere Erkrankungen während des Bildungsprozesses, Hochschulkarrieren ehemaliger Hauptschülerinnen, das Leben als Alleinerziehende und weiteren spezifischen Lebensumständen. Das Interesse der Autorin liegt im „Aufspüren und Verstehen von biographischen Suchbewegungen, welche (…) auf ein selbsttätiges Subjekt innerhalb soziokultureller und gesellschaftlich-historischer Kontexte verweisen“ (S. 13). Im Zentrum der Studie steht die Frage, „was Frauen aus der individuellen Sicht auf ihre Biographie als Erfahrung von Nicht-Stetigkeit erinnern und wie sie diese Momente (…) im Rückblick (…) nachträglich wahrnehmen und deuten“ (S. 17).
Autorin
Renate Elli Horak (1963) ist Diplom-Pädagogin und Professorin an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Sie studierte Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der PH Ludwigsburg und absolvierte eine berufsbegleitende Ausbildung zur Supervisorin an einem Institut für analytische Supervision.
Entstehungshintergrund
Die Pädagogische Hochschule Ludwigsburg hat die vorliegende Publikation als Dissertation angenommen. Sie basiert auf einer Studie, welche sich den Bildungsbiografien von Teilnehmerinnen eines Weiterbildungsangebots widmet. Die Autorin wirkte an diesem Weiterbildungsangebot selber als Dozentin mit.
Aufbau
Die Publikation diskutiert im ersten Kapitel Theoriebezüge biographischer Bildungsforschung. Die beiden folgenden Kapitel dienen der theoretischen Annäherung an die Begriffe der Nicht-Stetigkeit (2) sowie des weiblichen Bildungsbegehrens (3). Das vierte Kapitel widmet sich der detaillierten Analyse der Gruppendiskussionen. Anschliessend wird im fünften Kapitel das autobiografische Interview als Einzelfallstudie analysiert. Abschliessend führt das sechste Kapitel die Erkenntnisse zusammen und zeigt ihre Relevanz sowie Perspektiven für die Praxis der Erwachsenenbildung auf.
Inhalt
Das erste Kapitel widmet sich Theoriebezügen biographischer Bildungsforschung, die es der Autorin ermöglichen sollen, ihre Forschungsmethodik und den Forschungsprozess festzulegen. Die Autorin arbeitet dafür zunächst diskursanalytisch zentrale Begriffe und Modelle im Themenfeld Biographie auf: beispielsweise Lebenslauf versus Biographie (Schulze, Böhnisch), Subjektivität und Autobiographie (Oelkers, Schulze), Imaginationsräume (Lacan, Siegmund), Bildung von Repräsentanzen der inneren und äusseren Wirklichkeit (Schäfer) etc. Anschliessend wird der Begriff der Bildung als Selbst-Welt-Verhältnis (Humboldt), als Transformationsprozess (Kokemohr), als Modalisierung der Selbst- und Weltreferenz (Marotzki), als Transformation von Lebensorientierungen (A.-M. Nohl) etc. diskutiert. Ausführlich werden in einem dritten Schritt methodologische Bezugspunkte qualitativer Bildungsforschung referiert. Zunächst werden allgemeine Fragen der Hermeneutik behandelt (Wernet, Schleiermacher, Mollenhauer, Dilthey, Habermas), danach Fragen der spezifisch erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung (Baacke, Schulze) wie auch des Verfahrens der Gruppendiskussionen im Rahmen der dokumentarischen Methode nach Bohnsack sowie der erzählgenerierend-biographischen Interviews (Fatke, Friebertshäuser& Langer). Abschliessend wird das Forschungsdesign (Forschungsmethodik und Forschungsprozess) dargelegt.
Das zweite Kapitel bietet ausführliche theoretische Annäherungen an den Begriff der Nicht-Stetigkeit im Blick auf seine biographische Bedeutung. Die Autorin möchte theoretisch bestimmen können, was nicht-stetige Bildungs-Verläufe auszeichnen können. Dazu werden zunächst unterschiedliche Diskurstraditionen aufgezeigt – beispielsweise das fraglos Gegebene und das Problematische nach Schütz & Luckmann, Institutionalisierung des Lebenslaufs und Normalbiographie in der Moderne (Kohli) versus strukturell erzeugte Diskontinuitäten in derselben Moderne (Krüger, Sennet, Hardering). Anschliessend erfolgen ausführliche Überlegungen zu den Konzepten der Krise nach Bollnow und der Stör-Erfahrungen (nichtintegrierbare Erfahrungsanlässe) nach Sloterdijk. Gemäss der Autorin können – müssen aber nicht – beide Konzepte zu Momenten von Lernchancen und Bildung werden. Das Konzept der Nachträglichkeit nach Becker-Schmidt zeigt, wie durch ‚Umschriften‘ Widerspruchserfahrungen zu Lern- und Entwicklungsprozessen führen.
Einen Unterbruch in der Selbstverständlichkeitskette (Schütz&Luckmann) resp. Nicht-Stetigkeit sieht die Autorin auch in sogenannten Übergängen. Übergänge im Sinne von Schwellenerfahrungen (Turner) oder Wendepunkte (Rosenthal) werden von ihr erweitert zu theoretisch-begrifflichen Konzepten neuer Erfahrungen. Diese Erfahrungen können auf kollektiver oder individueller Ebene nicht nur irritierend und verstörend sein und zu Desorientierung führen, sondern auch – oder gerade deshalb – kreative Energien und performative Kräfte erzeugen. Hier wird Desorientierung zur Voraussetzung für Neuorientierung (Fischer-Lichte).
Von diesem Gedanken ausgehend diskutiert die Autorin das Konzept der Spontaneität in Bildungsprozessen nach Bittner sowie Diekmann&Wimmer. Das Konzept der Spontaneität als eine Bewegungsform der Selbst-Welt-Bewegungen schliesst den Bogen zum Selbst-Welt-Verhältnis nach Humboldt, zum pädagogischen Diskurs der Selbsttätigkeit und Bildsamkeit nach Schleiermacher und zum Theorem der Spontaneität als innovativer Kraft mit bildungsbiographischer Relevanz bei A.M. Nohl.
Das dritte Kapitel zielt auf eine theoretische Annäherung an weibliches Bildungsbegehren. Ausgehend von Humboldt, J. Benjamin und Hegel skizziert die Autorin anthropologische Kategorien wie beispielsweise das Streben nach Selbstwirksamkeit/Selbstbehauptung und Anerkennung respektive Autonomie und Bindung. Mit philosophischen und psychoanalytischen Konzepten wird anschliessend der Begriff des Begehrens diskutiert, der sich sowohl auf Selbstwirksamkeit wie auch auf Anerkennung richten kann. Mögliche spezifische Entwicklungsbesonderheiten im Begehren von Mädchen werden zunächst mit S. Freud, Mahler und J. Benjamin in psychoanalytischer Tradition und nachfolgend aus sozialpsychologischer Perspektive (Becker-Schmidt, Flaake) skizziert. Das Paradigma der doppelten Vergesellschaftung von Mädchen (Becker-Schmidt) festigt zum einen deren Vorbereitung sowohl auf männlich konnotierte Erwerbswelt wie auch auf weiblich konnotierten privaten Arbeitsbereich und verweist zum anderen auf das Problem, wonach Ehrgeizträume von Mädchen auch heute noch eher anstössig scheinen. Damit erweitert sich das Forschungsinteresse der Autorin: neben kritischen Lebensmomenten und Wendepunkten tritt das Erleben des Unbehagens im Sinne von Widerspruchserfahrungen zwischen Normallebenslauf und Begehren in den Fokus.
Das vierte Kapitel ist ganz der Darstellung und Analyse der empirischen Erhebung (Gruppendiskussionen) gewidmet. Zunächst erfolgen Hinweise auf Durchführung, Auswertungsmethode und auf die Gruppenzusammensetzung sowie die historisch-gesellschaftliche Kontextualisierung der Teilnehmerinnen. Die Grundlage dieser Studie bilden drei Gruppendiskussionen – und ein erzählgenerierend-biographisches Einzelinterview (siehe Kapitel fünf). Die interviewten Frauen nahmen zwischen 1987 und 1994 an einer Frauenakademie teil (sechssemestriges, wissenschaftsorientiertes, allgemeinbildendes Weiterbildungsangebot der Ulmer Volkshochschule). Die detaillierte Fall- und Diskursbeschreibung bietet vertieften Einblick in das Datenmaterial. Abschliessend werden die Ergebnisse zusammengeführt: Orientierungshorizonte, -muster und -figuren werden herausgebildet und mit Ergebnissen zu Nicht-Stetigkeit versus Stetigkeitsnormen und sozialer Wertschätzung ergänzt. Die Befunde scheinen die theoretischen Konzepte des Begehrens nach Autonomie und Bindung zu bestätigen und zeigen die je individuellen (Spät-)wirkungen der doppelten (weiblichen) Vergesellschaftung, konkret das individuelle Arrangement des Hin und Hers zwischen Erwerbs- und Familienarbeit. Deutlich verbunden mit dieser Nicht-Stetigkeit im Lebenslauf steht das erlebte Unbehagen aufgrund mangelnder Wertschätzung und Unterstützung in der alltäglichen Mehrfachbelastung.
Das fünfte Kapitel ist der Darstellung einer autobiographischen Fallstudie gewidmet. Befragt wurde eine Frau, die nicht an den Gruppeninterviews teilgenommen hatte. Das Forschungsinteresse liegt hier auf der Frage, worauf in diesem Einzelfall „Momente der Nicht-Stetigkeit im gesamten Lebenslauf“ (S. 211) zurückzuführen sind. Die analysierten Momente der Nicht-Stetigkeit werden vorwiegend im Zusammenhang mit Beziehungserfahrungen gedeutet. Das aktuelle Bildungsbegehren wird zweipolig gedeutet: zum einen richtet es sich auf „die Auflösung psychischer Knoten aus der Vergangenheit“ (S. 248) zum anderen auf die Gestaltung „zukünftiger Lebens-Bahnen“ (S. 248).
Im sechsten Kapitel erfolgt eine kurze, abschliessende Zusammenführung und Gesamtwertung der Befunde. Für die Autorin zeigt sich, dass die je individuellen und einzigartigen Selbst-Weltkonstellationen der Befragten unterlegt sind mit einer kollektiven Handlungspraxis, mit kollektiven Formen der Verarbeitung und mit kollektiven Orientierungen. Frauen legen möglicherweise ihre Geschlechtsidentitäten weniger rigide fest als Männer. Gleichwohl können sie sich dem familialen Lebensbereich als zentralem Orientierungsmuster kaum entziehen, selbst wenn sie sich davon kaum wirklich angezogen fühlen. In der Verschränkung der Geschlechter-, Generationen- und Milieutypik erweist sich der Faktor Geschlecht als „eine besondere strukturgebende und statusgebende Kraft gegenüber Alter, Bildung und sozialer Herkunft“ (S. 253).
Für die Erwachsenenbildung empfiehlt die Autorin, dass Frauenbildung immer an Sachthemen angebunden bleiben sollte. Bildung im Sinne der Selbstbildung und damit als Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenspraxis kann nur entlang von Sachthemen in grössere, überindividuelle Zusammenhänge respektive gesellschaftliche Praxen eingeordnet werden. Die kollektive Bedingtheit individueller Umwege und Widersprüche ist in der Auseinandersetzung mit Sachthemen für Frauen erfahrbar.
Diskussion
Das Buch-Cover weist auf einen äusserst breit angelegten Anspruch: „Die Autorin nutzt ihr empirisches Material zu vertieften, theoriegeleiteten Interpretationen in Hinsicht auf philosophisch-pädagogische, sozialphänomenologische, biographietheoretische, psychoanalytische und geschlechtertheoretische Deutungsebenen weiblicher Lebens- und Bildungsverläufe“. Was sich hier wie ein Studium generale in Kurzform anpreist, kann durchaus auch in der Publikation gefunden werden. Die theoretischen Annäherungen an mögliche Interpretationskonzepte für das empirisch erhobene Material benötigen in quantitativer Hinsicht die ersten 160 Seiten der Publikation, die empirischen Daten, deren Analyse und Interpretation werden auf den nachfolgenden 100 Seiten abgehandelt. In qualitativer Hinsicht bieten die theoretischen Annäherungen insbesondere aus philosophischer, pädagogischer und psychoanalytischer Sicht ein kurzes, sehr gehaltvolles Repetitorium zentraler disziplinärer Konzepte. Der Autorin gelingt es dabei aber nicht nur additiv die Konzepte vorzustellen, sondern sie immer im Blick auf ihre Fragestellung – respektive auf die Weiterentwicklung und Differenzierung ihrer Fragestellung – zu verdichten.
Das empirische Material wird anhand der ersten Gruppendiskussion ausführlich vorgestellt und interpretiert. Einzelne Befunde werden mit dem Material aus den anderen Gruppendiskussionen ergänzt. Die Einzelfallstudie wird ebenso ausführlich vorgestellt. Dem Format (Dissertation) geschuldet sind sehr weitgehende Informationen aus den Memos der Interviewerin, eine akribische Darstellung der einzelnen Analyseschritte und deren theoretischer Fundierung sowie formale Kennzeichnung und Unterscheidung von Transkriptionen, Hinweisen zum Diskursverlauf und Interpretationen. Dies alles dient einer tatsächlichen Nachvollziehbarkeit. Die Publikation wird so selber zu einer interessanten Fallstudie und zum Lehrmaterial für Forschungsmethodenseminare. Wer hingegen an einer kompakten Übersicht über die Befunde der Studie interessiert ist, überspringt die Kapitel vier und fünf mit Vorteil.
Fazit
Ausgangspunkt für die These der Nicht-Stetigkeit bildet in dieser Publikation die von O.F. Bollnow (1965) beschriebenen, unsteten Vorgängen im menschlichen Lebenslauf (z.B. die Krise), welche bildende Wirkungen haben können. Ergänzend dazu steht das Phänomen der Liminalität resp. das Erleben von Übergängen und von Wendepunkten im weiblichen Lebenslauf. Im Verlauf der Datenanalyse bildete sich für die Autorin zunehmend das Erleben von Unbehagen als zentrales Moment heraus – ein Unbehagen sowohl im Rahmen sozial und gesellschaftlich vorgegebener Normen des weiblichen Lebenslaufs als auch in Form psychischer Dynamiken der Ambivalenz im Erleben und Handeln, z.B. ambivalente Wünsche hinsichtlich der Lebensgestaltung. In Anlehnung an Schütz&Luckmann (1991) und Liesner&Wimmer (2005) geht die Studie davon aus, dass der Unterbruch der Selbstverständlichkeitskette (durch Krise, Übergänge, Wendepunkte etc.) Menschen sowohl zu neuen Auslegungs- und Deutungsprozessen animiert als auch zu Resignation führen kann. Die Analyse des empirischen Materials (Gruppendiskussionen und Fallanalyse mit Teilnehmerinnen einer Frauenakademie) zeigt im Wesentlichen, dass Nicht-Stetigkeiten sehr unterschiedlich erlebt werden diese aber durchaus kollektiv geformt scheinen. Für Angebote der Erwachsenenbildung empfiehlt es sich, nahe an Sachthemen zu arbeiten, um das Bildungsangebot mit den Bildungsinteressen und -zielen der Frauen in bestmögliche Übereinstimmung zu bringen.
Rezension von
Prof. Dr. Anna Maria Riedi
Sozialwissenschafterin, BFH Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Anna Maria Riedi. Rezension vom 19.08.2016 zu:
Renate Elli Horak: Nicht-Stetigkeit und Bildungsbegehren als Momente weiblicher Bildungsbiographien. Theoretische und qualitativ-empirische Analysen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2016.
ISBN 978-3-7815-2073-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20404.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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