Regula Julia Leemann, Christian Imdorf u.a. (Hrsg.): Die Organisation von Bildung
Rezensiert von Elisabeth Franzmann, 17.06.2016

Regula Julia Leemann, Christian Imdorf, Justin J. W. Powell, Michael Sertl (Hrsg.): Die Organisation von Bildung. Soziologische Analysen zu Schule, Berufsbildung, Hochschule und Weiterbildung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 320 Seiten. ISBN 978-3-7799-1593-5. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Das Thema Bildung ist in den Sozialwissenschaften ein Dauerbrenner. Neben den primär mit Bildung befassten Erziehungswissenschaften und der Pädagogik ist auch in der Soziologie und der Organisationstheorie Bildung ein zentrales Forschungsfeld. Diese Aufzählung könnte problemlos fortgesetzt werden. Die große Aufmerksamkeit, die dem Thema Bildung seitens der Wissenschaft gewidmet wird, zeigt, dass unterschiedliche fachliche Perspektiven auf diese dauerhaft aktuelle Thematik immer wieder neue Einsichten und Erkenntnisfortschritte zu generieren vermögen. Durch neue, theoretisch fundierte Perspektiven Erkenntnisse über das Bildungssystem, dessen Organisationen in westlichen Ländern wesentliche Stationen eines menschlichen Lebens kennzeichnen und prägen, zu erzielen, ist der Anspruch des von Leemann, Imdorf, Powell und Sertl herausgegebenen, international ausgerichteten Bandes. Durch die Zusammenführung von Bildungssoziologie und Organisationstheorie soll das Erklärungspotential beider erweitert und ein erhellender Beitrag zu organisational strukturierten Bildungsangeboten- und geboten geleitet werden.
Entstehungshintergrund und Aufbau
Der Band ist das Ergebnis der Tagung „Organizing Education. Sociological Approaches, Analyses and Findings“, die von den bildungssoziologischen Sektionen der schweizerischen, deutschen sowie der österreichischen Gesellschaft für Soziologie 2014 in Basel ausgerichtet wurde.
Der Band selbst ist in vier Teile gegliedert, die grob die Etappen des Bildungssystems wiederspiegeln, die im Leben durchlaufen werden. Frühkindliche Bildung und das Lernen im Erwachsenenalter werden zwar erwähnt, in den Beiträgen jedoch ausgespart. Der Fokus liegt damit deutlich auf den bereits differenziert entwickelten „großen“ Bildungsorganisationen Schule, Hochschule und berufliche Bildung. So wird im Anschluss an die Einleitung der Herausgeber*innen im ersten Teil des Buches eine Verhältnisbestimmung der Begriffe Bildung und Organisation vorgenommen und damit das begriffliche Feld, auf dem sich die nachfolgenden Beiträge bewegen, expliziert. Im zweiten Teil steht dann die Organisationseinheit Schule im Vordergrund. Der dritte Teil des Buches widmet sich der Berufs- und Weiterbildung, der vierte Teil schließt mit zum Teil international ausgerichteten Betrachtungen des Hochschulsystems.
Inhalt
Im ersten Teil des Bandes wird das Verhältnis von Organisation und Bildung genauer betrachtet. Eine Verhältnisbestimmung aus einer bildungssoziologischen Perspektive nimmt Moritz Rosenmund in seinem Beitrag vor. Dabei kontestiert er der heutigen bildungssoziologischen Forschung einen Bias hinsichtlich der Schulförmigkeit als häufig einzig und unhinterfragt angenommene Form der Bildungsorganisation (27). Entlang einiger soziologischer Klassiker unternimmt er eine Annäherung an mögliche Verknüpfungen der beiden zentralen Begriffe und stellt fest, dass am Anfang der soziologischen Auseinandersetzung mit Bildung diese als soziale Tatsache betrachtet wurde und erst mit der Zeit Aspekte der Organisationsformen von Bildung in den Vordergrund traten (37). Schließlich kommt Rosenmund zu dem Ergebnis, dass, auch wenn Schule die dominierende Organisationsform von Bildung ist, soziologische Betrachtungen den gesellschaftlichen Kontext nicht ausblenden dürfen (44).
Die entgegengesetzte Perspektive auf Organisation und Bildung nimmt Raimund Hasse, seines Zeichens Organisationstheoretiker, ein, indem er in seinem Beitrag Bildung als Gegenstand der Organisationstheorie betrachtet. Anhand einer Einführung in die organisationstheoretische Tradition und Gegenwart zeigt er, dass Bildungsorganisationen zum Kernrepertoire organisationstheoretischer Forschung und Theorie gehören und dass zentrale Konzepte organisationstheoretischer Ansätze, wie beispielsweise das der losen Kopplung (52ff) durch die Erforschung von Bildungseinrichtungen entwickelt wurden. Wie organisationstheoretische Bildungssoziologie aussehen kann, wird anhand einer Studie zu Schullaufbahnempfehlungen und der Reproduktion sozialer Ungleichheit verdeutlicht (55ff). Im Fazit seines Beitrags zieht Hasse den Schluss, dass Bildung und Schulen schon seit Langem fester Bestand im Kanon organisationstheoretischer Forschungsfelder sind, die thematische Ausrichtung dieser Forschung jedoch noch Potential zur Eröffnung wichtiger, bislang jedoch unterrepräsentierter (bildungssoziologischer) Themen bietet, wie beispielsweise die bereits erwähnte Ungleichheitsperspektive.
Im zweiten Teil des Sammelbandes steht dann die Organisation Schule im Mittelpunkt. Die Beiträge von Frank-Olaf Radkte und Achim Brosziewski beschäftigen sich mit dem Phänomen PISA, das sie vor jeweils unterschiedlichen theoretischen Hintergründen betrachten. Radkte identifiziert am Beispiel von PISA und anderen groß angelegten Vergleichsstudien eine Herausforderung für die Selbstbeschreibung des Erziehungssystems, das sich nun mit ökonomischen Logiken konfrontiert sieht (80, 85). Brosziewski hingegen nimmt eine stärker professionstheoretische Perspektive ein und beschreibt die groß angelegten, vergleichenden Schullleistungsstudien als „Verunsicherungstechnologien“ hinsichtlich des schulischen Lehrbetriebs (89). Judith Hangartner und Carla Jana Svaton ergänzen die organisations- und professionstheoretischen Betrachtungen um Ergebnisse einer Studie, die aus der Sicht des Educational Government-Ansatzes Herausforderungen beleuchtet, die sich aus dem Spannungsverhältnis von Schulautonomie und Bildungsmonitoring für Bildungskommissionen in der Schweiz ergeben.
Die Beiträge von Marcus Emmerich und Maia S. Maier fokussieren soziale Ungleichheit in schulischen Kontexten. Emmerich stellt erste Ergebnisse einer Studie zum Zusammenhang schulischer Differenzierungsprozesse und der (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit vor. Maier hingegen beleuchtet die hinter Übergangsentscheidungen stehenden innerschulischen sense-making-Prozesse vor einem neoinstitutionalistischen Hintergrund.
Der Beitrag von Tobias Röhl bringt zum Abschluss des zweiten Teils eine perspektivische und theoretische Wendung: in Anschluss an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie untersucht Röhl, auf welche Art und Weise materielle Artfakte wie beispielweise Unterrichtsmaterialen aber auch Experimentiergeräte praktisch an schulischen Bildungsprozessen beteiligt sind (180). Dabei verbindet er eine ethnografische Perspektive mit Organisations- und Bildungsforschung.
Die drei Beiträge des dritten Teils des Bandes beschäftigen sich mit der Berufs- und Weiterbildung. Dabei fokussieren sowohl der Beitrag von Christian Imdorf, Esther Berner und Philipp Gonon als auch der Beitrag von Nicolette Seiterle die Berufsausbildung in der Schweiz. Imdorf, Berner und Gonon arbeiten anhand von Fallstudien die Debatte um duale versus vollzeitschulische Ausbildungsmodelle auf, die zur Zeit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführt wurde. Dabei arbeiten sie mit der Theorie der Rechtfertigungsordnungen von Boltanski und Thevénot bzw. von Boltanksi und Chiapello und identifizieren unterschiedliche Kombinationen der staatsbürgerlichen, der marktförmigen und der industriellen Rechtfertigungslogiken in den jeweils gefundenen Kompromissen (203).
Im Mittelpunkt des Beitrags von Seiterle stehen aktuelle Lehrvertragsauflösungsquoten in der Schweiz und das Modell der Lehrbetriebsverbünde, welches als mögliche Lösung zur Senkung der Vertragsauflösungsquoten präsentiert wird (208).
Der dritte Buchteil schließt mit einem Beitrag von Karin Dollhausen, in dem der Wandel des Weiterbildungssektors auf der organisationalen Ebene thematisiert wird (238). Dollhausen kombiniert neoinstitutionalistische Ansätze mit der Educational-Governance-Perspektive und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung von Angeboten im Weiterbildungssektor stark von organisationsspezifischen Pfadabhängigkeiten geprägt wird. Dieser Befund liefert auch die Erklärung dafür, dass es kaum Angleichungserscheinungen innerhalb des Weiterbildungssektors gibt (247).
Der vierte und am stärksten international ausgerichtete Teil des Bandes widmet sich schließlich dem Hochschulsektor und den akademischen Laufbahnen. Der erste Beitrag dieses letzten Teils beschäftigt sich mit mit dem schweizerischen Hochschulsektor. Stefan Denzler analysiert die fortschreitende interne Profilbildung innerhalb des ohnehin schon heterogenen Sektors (252), die durch die Herausbildung und Profilierung pädagogischer Hochschulen weiter in Bewegung gerät. Marta A. Shaw und Marta Lenartowitz widmen sich dem Thema der Universitätsleitbilder. Sie bearbeiten in ihrem Beitrag das Spannungsfeld, das sich zwischen dem nach wie vor nicht antiquierten humboldtschen Leitbild, neuen Universitätsleitbildern und den Herausforderungen aktueller Hochschulreformen in Europa auftut. Der Beitrag von Mikhail Sokolov fokussiert Universitäten im post-sowjetischen Russland und testet anhand dieser den Resource-Dependence-Ansatz, der die Entstehung intraorganisationaler Machtpositionen auf den Zugriff bzw. den Einfluss auf die Verwendung ökonomischer Ressourcen in der Organisation zurückführt (287). Der Beitrag von Karin Doolan, Iva Košutić und Valerija Barada beleuchtet unter der Schwerpunktsetzung sozialer Ungleichheit den Einfluss, den institutionelle Settings auf die Erfahrungen von Studierenden haben. Schließlich verschieben Jörg Schwarz und Franziska Teichmann in ihrem Beitrag die im vierten Teil des Buches versammelten Blickrichtungen auf akademische Bildung noch einmal in Richtung der wissenschaftlichen Laufbahnen. Sie untersuchten institutionelle Kontexte, innerhalb derer sich Nachwuchswissenschaftler*innen begegnen, und beleuchten deren begrenzende und zugleich handlungsermöglichende Funktionen als Handlungs-, Sinn- und Deutungsmuster und deren prägende Wirkungen auf akademische Laufbahnen (339).
Diskussion
Der Band bietet eine gelungene Zusammenschau aktueller organisationstheoretischer Forschungen zum Thema Bildungsorganisationen. Der theoretisch stärkste Teil ist der erste, der die Verhältnisbestimmung von Bildungs- und Organisationstheorien vornimmt und ein konzeptionelles Fundament für die folgenden Beiträge liefert, auf das sie sich – was sicher auch dem Format „Tagung“ geschuldet ist – leider kaum beziehen. Einzig die – obwohl als Kapitulation der Theorie vor der Realität angelegte – Gleichsetzung von Bildung mit Schule, die sich im Beitrag von Rosenmund findet (44), verweist die Lesenden auf bildungstheoretische Leerstellen, die mit der vorwiegend organisationstheoretischen Betrachtung von Bildungsorganisationen einhergehen. So steht in dem Band, wie es der Titel „Die Organisation von Bildung“ auch nahelegt, die organisationale Betrachtung von Bildungseinrichtungen im Vordergrund. Eine konzeptionelle Annäherung von Bildungs- und Organisationstheorien, wie im ersten Teil des Buches angedeutet, bleibt jedoch, abgesehen von diesen beiden Beiträgen, aus.
Fazit
In dem Band „Die Organisation von Bildung“ sind aktuelle Beiträge zu vorwiegend organisationstheoretischen Studien und Projekten versammelt. Das abgedeckte Themenspektrum erstreckt sich von einer allgemeineren theoretischen Verortung von Bildungs- und Organisationstheorie über schulische Bildung, Berufs- und Weiterbildung sowie Hochschulbildung und akademische Laufbahnen. Bildungseinrichtungen treten als Organisationen auf, deren Traditionen, vergangene und gegenwärtige Entwicklungen, sowie deren Einfluss auf das Handeln individueller Akteure aus verschiedenen theoretischen Perspektiven erforscht werden. Damit bietet der Band einerseits einen guten Einblick in die Diversität der aktuellen organisationstheoretischen Bildungsforschung, andererseits auch einen Überblick über zum Teil innovative theoretische und empirische Herangehensweisen, die Organisationstheorie mit gewinnbringend mit anderen Ansätzen kombinieren und neue Einsichten ermöglichen.
Rezension von
Elisabeth Franzmann
Friedrich-Schiller-Universität
Institut für Erziehungswissenschaft
Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung
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Es gibt 2 Rezensionen von Elisabeth Franzmann.
Zitiervorschlag
Elisabeth Franzmann. Rezension vom 17.06.2016 zu:
Regula Julia Leemann, Christian Imdorf, Justin J. W. Powell, Michael Sertl (Hrsg.): Die Organisation von Bildung. Soziologische Analysen zu Schule, Berufsbildung, Hochschule und Weiterbildung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2016.
ISBN 978-3-7799-1593-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20420.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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