Mark Galliker: Ist die Psychologie eine Wissenschaft?
Rezensiert von Dr. Alexander N. Wendt, 24.11.2016

Mark Galliker: Ist die Psychologie eine Wissenschaft? Ihre Krisen und Kontroversen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2015. 230 Seiten. ISBN 978-3-658-09926-8. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 32,00 sFr.
Thema
Auch wenn die experimentelle Psychologie eine junge Wissenschaft ist, weist ihre kaum mehr als ein Jahrhundert lange Geschichte zahlreiche bemerkenswerte Kontroversen vor. Galliker widmet das vorliegende Werk diesen Streitpunkten der allgemeinen Psychologie, um die Frage zu beantworten, welche Stellung die Psychologie unter den Wissenschaften einnimmt. Diese Frage ergibt sich für ihn daraus, dass die aktuelle kognitive Psychologie „sich als naturwissenschaftliche Disziplin“ (S. 215) verstehe und „demzufolge auch an den wissenschaftstheoretischen Standards naturwissenschaftlicher Forschung zu messen“ (ebd.) sei. Gallikers eigenes Interesse ist dabei zunächst, eine neutrale historische Darstellung der Kontroversen zu präsentieren, dann aber im Anschluss auch, vom Standpunkt des Kritischen Rationalismus Stellung zur Lage der Psychologie – insbesondere zeitgenössisch – zu nehmen.
Autor
Mark Galliker studierte Psychologie und Philosophie in Bern und promovierte dort 1975 zur Sprach- und Gedächtnispsychologie. Seine Habilitation schloss er ebenfalls in Bern 1992, woraufhin er dort 2002 auf eine Honorarprofessur am Institut für Psychologie berufen wurde. Seit 2010 leitet er die Module „Sprachpsychologie“ und „Emotion und Motivation“ bei den Universitären Fernstudien Schweiz. Zudem war er zwölf Jahre als Gesprächspsychotherapeut tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachpsychologie, Geschichte der Psychologie und Kulturpsychologie. Als eine Auswahl seiner jüngeren Publikationen veröffentlichte er 2006 „Psychologie der Verständigung: Eine Einführung in die kommunikative Praxis“ und 2009 „Psychologie der Gefühle und Bedürfnisse: Theorien, Erfahrungen, Kompetenzen“ bei Kohlhammer sowie 2013 „Sprachpsychologie“ bei UTB.
Entstehungshintergrund
Gallikers Monographie erscheint bei Springer als großem Veröffentlichungsorgan der deutschen Psychologie. Er ordnet sein Werk in den Kontext anderer Arbeiten zur Geschichte der Psychologie ein, welche sich auf Kontroversen beziehen, die in der vorliegenden Veröffentlichung keine Erwähnung finden, wie etwa Geuter (1985): „Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie“, Gummersbach (1985): „Krise der Psychologie. Zur Aktualität eines traditionellen Themas“ und Schönpflug (2015): „Psychologie im Kontext der Kybernetik und im Kontext des Sozialismus“, aber auch seine eigene vorherige Arbeit wie „Die Dilthey-Ebbinghaus-Kontroverse“ (2010). Demnach konzentriere sich der vorliegende Band „auf Kontroversen der akademischen Psychologie, die sich zumeist als streng empirische Naturwissenschaft versteht“ (S. VII).
Aufbau
Das Werk gliedert sich in sieben Kapitel:
- Ausgangspunkte
- Die Krise der Psychologie
- Klassische Kontroversen des 18. und 19. Jahrhunderts
- Abgrenzungskonflikte im 19. Jahrhundert
- Kontroversen und Existenzkämpfe der Psychologie im 20. Jahrhundert
- Selbstbehauptungsdiskurse im 21, Jahrhundert
- „Psycho-Logik“ und „Psycho-Mythologie“
Dabei folgt die Arbeit einer impliziten Dreigliederung:
- Nach der kurzen Einleitung des ersten Kapitels folgt mit dem Abschnitt zur „Krise der Psychologie“ eine Einführung in die Topoi, die in der gesamten Geschichte der Psychologie präsent sind.
- Die Abschnitte drei bis sechs stellen eine chronologische Darstellung der Psychologiegeschichte anhand ihrer Kontroversen dar.
- Zuletzt erfolgen im letzten Kapitel der Kommentar des Autors und die Einordnung in die Perspektiven der Disziplin.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Zusammenfassung und einige Textpassagen sind durch Abbildungen ergänzt.
Inhalt
Die Einleitung in die Ausgangspunkte im ersten Abschnitt stellt Galliker die allgemeine Sondersituation der Psychologie dar, insofern als es sich um eine Wissenschaft handele, an die große gesellschaftliche Erwartungen herangetragen werden, sie diese aber oftmals nicht einzuhalten vermag. Als Ursache für dieses Missverhältnis bestimmt der Autor einige Eigenschaften der Disziplin, etwa die anhaltende Definitionsfrage des Gegenstandes in der Psychologie oder ihre Auseinandersetzung mit augenscheinlich trivialen Thematiken.
Im zweiten Abschnitt greift der Autor auf den einflussreichen Begriff der „Krise der Psychologie“ zurück, der in der gesamten Geschichte der Disziplin verwendet wurde, um die Problematik ihrer Verfassung anzusprechen. Einerseits sei es wichtig, zu erkennen, welche Eigenschaften der Psychologie krisenhaft sind, und andererseits, zu bestimmen, welche Form der Krise, etwa „Aufbaukrise“ (S. 9) oder eine „Bestands- und Legitimationskrise“ (ebd.), vorliegt. Hierzu lässt Galliker einige historische und zeitgenössische Stimmen zu Wort kommen, so habe Gummersbach (1985) etwa den Begriff der „Legitimationskrise“ etabliert.
Bei dem dritten Abschnitt handelt es sich um den Einstieg in die psychologiehistorische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kontroverse. Indes verortet der Autor diese ersten, klassischen Kontroversen vor den Zeitraum, in dem üblicher Weise von der experimentellen Psychologie gesprochen wird, d. h. den Zeitraum seit Wundts Gründung des ersten psychologischen Experimentallabors in Leipzig. Galliker benennt fünf Kontroversen, die i. d. R. zwischen zwei Positionen mit jeweils einem Hauptvertreter ausgetragen wurden. Es handelt sich um Kontroversen, die ihre Wurzel in philosophischen Grundsatzfragen haben, wie etwa der Monismus vs. Den Dualismus. Dabei führt der Verfasser in die Biographien der Protagonisten und ihre wesentlichen Argumente ein.
Der vierte Abschnitt fällt in den Zeitraum der Gründungsphase der Psychologie, also das 19. Jahrhundert. Galliker stellt drei Kontroversen vor, die diese Zeit ausgezeichnet haben. Es handelt sich dabei um „Abgrenzungskonflikte“, die maßgeblich dadurch ausgezeichnet sind, dass sich die Psychologie in ihnen um ihre disziplinäre Autonomie bemüht. Insbesondere die Kontroverse um den „naturwissenschaftliche[n] versus geisteswissenschaftliche[n] Ansatz“ nimmt dabei für die gesamte Darstellung eine prominente Rolle ein. Über diese methodologischen Grundlagenfragen qualifizieren sich zahlreiche der in der weiteren Geschichte folgenden Kontroversen.
Im fünften Abschnitt, der den größten Umfang einnimmt, handelt Galliker neun Kontroversen des 20. Jahrhunderts und damit des ersten vollständigen Jahrhunderts der experimentellen Psychologie ab. Es handelt sich dabei einerseits um Grundlagenfragen wie den Paradigmenstreit zwischen Behaviorismus und Kognitivismus, andererseits Diskussionen um Teilgegenstände der Disziplin, wie die „Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der egozentrischen Sprache“.
Der sechste Abschnitt schließt den historischen Teil der Abhandlung mit dem Übergang zu zwei zeitgenössischen Kontroversen, dem „Biologismus-Diskurs“ und dem „Praxis-Diskurs“, ab. Hier handelt es sich weniger um Abhandlungen klar definierter Positionen, die einander so gegenüber gestellt werden, dass historisch nachvollzogen werden kann, welches Lager zuletzt dominiert, denn diese Debatten sind auch momentan virulent. Vielmehr handelt es sich um Skizzen von Thematiken, mit denen sich die theoretische Psychologie gegenwärtig auseinandersetzen kann.
Mit dem letzten Abschnitt nimmt Galliker in 16 Stichpunkten selbst zu den historischen und zeitgenössischen Kontroversen Stellung. Dabei bezieht er oftmals eine vermittelnde Position, die weniger ein Lager befürwortet, als die Bedeutung des Diskurses für die Disziplin eruiert oder die Bedingungen einer Lösung der Kontroverse untersucht. So schreibt er etwa zum sogenannten Operationalisierungsproblem: „Die besondere Art von Operationalisierung, welche die Kognitive Psychologie erfordert, kann als Achillesferse des kognitionspsychologischen Paradigmas bezeichnet werden“ (S. 222). Der Autor kommt somit zu klaren Wertungen, um die Lage der Psychologie auf Grundlage seiner historischen Abhandlung einzuschätzen.
Diskussion
Der Ansatz der Arbeit steht in einer wissenschaftsgeschichtlichen und damit geisteswissenschaftlichen Tradition. Galliker implementiert diverse philosophische Referenzen, um in die historischen Grundlagen der psychologischen Forschung einzuführen. Dabei stellt er entgegen des populären Credos nicht heraus, dass Wundt der Begründer der Psychologie sei. Vielmehr lässt sich in seiner Diktion die Verwendung der Begriffe „experimentelle Psychologie“ und „Psychologie“ voneinander abgrenzen. Die Psychologie als solche weist in ihren Tradition in die Antike und somit an den Anfang der kulturellen Schrifttraditionen zurück, während die experimentelle Psychologie ein spezifischer und historisch junger Zugang zu ihrer Materie ist. Dabei ist ein wichtiges Ergebnis seiner historischen Analyse, dass die „Kognitive Psychologie als Synthese von Rationalismus und Empirismus“ (S. 161) betrachtet werden kann. Dieser Ansatz erlaubt es dem Autor in klarer Struktur die Bezüge zwischen den Kontroversen nachzuvollziehen und somit die historische Entwicklung der Disziplin aufzuzeigen.
Aus diesem Ansatz ergibt sich Gallikers Interessenlage. So avanciert er zum Advokaten der Geschichte der Psychologie gegen „experimentelle Psychologen“ (S. 12), die „die Geschichte der Psychologie eine überflüssige Disziplin“ (ebd.) finden, denn „[f]ür die meisten akademischen Psychologinnen und Psychologen scheint die Methode wichtiger zu sein als der Gegenstand ihrer Wissenschaft“ (S. 3). So zeichnet sich bereits im Ansatz der Arbeit ab, dass der Autor selbst gegenüber einigen Kontroversen keine neutrale Position hat. So konvergiert seine Meinung mit den Philosophen, die im sog. Lehrstuhlstreit anstrebten, „sich vor einer Spezialwissenschaft wie der experimentellen Psychologie zu schützen, die sich ausschließlich methodisch definiere“ (S. 126).
Diese grundsätzliche geisteswissenschaftlich-historische Orientierung ist jedoch lediglich der generelle Ansatz. Im Spezifischen ist Gallikers Position dem kritischen Rationalismus zuzuordnen: „das Ziel der Schrift besteht darin, die akademische Psychologie an ihren Ansprüchen zu messen und diese Disziplin vor dem Hintergrund ihrer Geschichte kritisch-rationalistisch zu untersuchen“ (S. X). Dieses Programm scheint im Verlaufe der Abhandlung wiederholt hervor (z. B. S. 114, S. 153, S. 224). Dabei stellt der Autor seine Überlegungen indessen nicht als Alternative neben die Positionen der jeweiligen Kontroverse, sondern bezieht eine vermittelnde Metaperspektive. Allein, dabei übernimmt er zugleich die Schwachpunkte des kritisch rationalistischen Ansatzes. So zieht sich der Autor in einigen Aspekten auf einen bloß methodenkritischen Standpunkt zurück, der kein eigenes innovatives Potenzial bürgt und somit im gleichen Zug den Wert der Kritik mindert, insofern sie bloß negativ bleibt.
Dennoch behält der Autor recht damit, dass „[d]ie Intention der vorliegenden Arbeit“ (S. 243) missverstanden würde, „wenn ihr unterstellt würde, dass sie die Bedeutung der Psychologie in unserer Zeit leugnen möchte“ (ebd.). Zwar kritisiert Galliker die zeitgenössische Psychologie aus diversen Richtungen wie die „Anpassung der europäischen Psychologie an die hegemoniale amerikanische Psychologie in den 60er-Jahren“ (S. 216), „[v]iele Ergebnisse psychologischer Untersuchungen […] müssen als trivial bezeichnet werden“ (S. 6.) oder seine Befürwortung der „Aufhebung der Trennung zwischen Theorie und Praxis“ (S. 14).
Ein fruchtbarer Gesichtspunkt für die Diskussion der Veröffentlichung ist der Vergleich mit dem im Vorjahr veröffentlichten Werk von Fahrenberg (2015), „Theoretische Psychologie“ (vgl. die Rezension), das gleichfalls den Ansatz über den Begriff der Kontroverse wählt. Andererseits wählt Fahrenberg eine andere Struktur der Vorstellung der Psychologiegeschichte, nämlich die Ordnung nach Denkrichtungen und Autoren anstelle von Gallikers chronologischer Darstellung. Dem Gegenstande nach gibt es zwischen beiden Werken Überschneidungen, doch selten so, dass sich die Perspektiven decken. Diverse Kontroversen, die Galliker abdeckt, finden bei Fahrenberg keine Erwähnung und umgekehrt. Insgesamt handelt es sich um einen anderen Schwerpunkt, denn Fahrenberg entwickelt die Psychologiegeschichte breiter und kompendiatisch mit einem Fokus auf die Protagonisten, während Galliker die Diskurse in den Mittelpunkt stellt. Somit handelt es sich insgesamt um eine komplementäre Lektüre, die gerade aus dem von beiden Autoren begrüßten Metaperspektive auf die Kontroversen anstelle der bloßen Stellungnahme innerhalb dieser empfehlenswert wird, denn Gallikers kritisch rationalistischer Ansatz steht Fahrenbergs Affiliation zu Wundt gegenüber. Dennoch gelingt es beiden Werken kaum, die statistischen Verfahren in ihrer zeitgenössischen Bedeutung zu reflektieren. Beide Autoren bleiben abstrakt und distanziert. So schreibt Galliker von der „Invasion der Mathematik in das psychologische Denken und Urteilen“ (S. 237).
Fazit
Galliker kartographiert die Geschichte der Psychologie anhand der Meilensteine ihrer Kontroversen. In einer chronologischen Abhandlung leitet er die großen Themen der Disziplin aus ihren philosophischen Ursprüngen ab. Der Kommentar, den er im Anschluss an seine historische Darstellung anfügt, folgt einem kritisch rationalistischen Ansatz, der zwischen den Positionen der einzelnen Kontroversen vermittelt, ohne dabei auf eine klare eigene Position zu verzichten. Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte Lektüre für diejenigen, die die Hintergründe der Psychologie zu verstehen suchen.
Rezension von
Dr. Alexander N. Wendt
Dr./M.Sc. (Psychologie), M.A. (Philosophie)
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Es gibt 30 Rezensionen von Alexander N. Wendt.
Zitiervorschlag
Alexander N. Wendt. Rezension vom 24.11.2016 zu:
Mark Galliker: Ist die Psychologie eine Wissenschaft? Ihre Krisen und Kontroversen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2015.
ISBN 978-3-658-09926-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20430.php, Datum des Zugriffs 25.03.2023.
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