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Alexander Schnarr: Berufsschullehr­kräfte aus China und ihre professionellen Orientierungen

Rezensiert von Heike Brand, 12.09.2016

Cover Alexander Schnarr: Berufsschullehr­kräfte aus China und ihre professionellen Orientierungen ISBN 978-3-8474-0761-4

Alexander Schnarr: Berufsschullehrkräfte aus China und ihre professionellen Orientierungen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 221 Seiten. ISBN 978-3-8474-0761-4. D: 32,00 EUR, A: 39,10 EUR.

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Thema

Alexander Schnarr verortet sich mit seiner Publikation zur Professionalität von Berufsschullehrkräften jenseits der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurse zu relevanten Kompetenzen oder einschlägigen Problemlagen. Als Forschungsdesiderate werden die Perspektiven der professionellen Akteurinnen und Akteure herausgearbeitet sowie "die Frage danach, wie Lehrkräfte ihren Alltag typischerweise erleben und inwiefern das dafür [in Fort-/ Weiterbildungen, d.V.] Erlernte und noch zu Erlernende an diese Orientierungen auf den Beruf anschlussfähig ist bzw. gemacht werden kann" (S. 1). An diese Forschungslücken schließt Schnarr mit seiner qualitativen Studie zu kollektiven professionsbezogenen Orientierungen chinesischer Berufsschullehrerinnen/ -lehrer an.

Autor und Entstehungshintergrund

Alexander Schnarr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Berufspädagogik/ Didaktik der Arbeitslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen; seine Arbeitsschwerpunkte sind Professionalität/ Professionalisierung beruflichen Bildungspersonals und qualitative Bildungs- und Biographieforschung. Er war in die Konzeptionierung und Durchführung verschiedener Projekte zur akademischen Weiterbildung involviert, bspw. in den "Aufbau eines nationalen Lehrer- und Schulleiterfortbildungssystems für die mittlere und höhere Berufsbildung in der VR China" (vgl. Vita Dr. Alexander Schnarr). Die Thematik seiner Dissertation, der zu rezensierenden Publikation, hat einen unmittelbaren Bezug zu Schnarrs eigenen beruflichen Erfahrungen bzgl. inter-/ transnationaler Weiterbildungsangebote – der Negation von Adressatinnen-/ Adressatenperspektiven und der mangelnden Reflexivität bzgl. kultureller und institutioneller Diversität (vgl. S. 1f.).

Aufbau

Die Monographie umfasst zehn Kapitel und gliedert sich in vier Hauptteile:

  • einen Theorieteil, innerhalb dessen der Gegenstand konturiert sowie theoretisch gerahmt wird und eine Darstellung des Problemrahmens erfolgt (Kap. zwei bis vier),
  • die Darstellung des methodischen Vorgehens (Kap. fünf bis sieben),
  • die Ergebnispräsentation (Kap. acht) und
  • die Verhältnisbestimmung theoretisch und empirisch generierter Ergebnisse (Kap. neun).

Im Einzelnen ist die Publikation folgendermaßen strukturiert:

  1. Einleitung
  2. Professionalität von (Berufsschul-)Lehrkräften als Forschungsgegenstand
  3. Darstellung des Forschungsfeldes
  4. Forschungsleitende Annahmen: Ableitung von Strukturbedingungen professionellen LehrerInnenhandelns in der beruflichen Bildung der VR China
  5. Datenerhebung
  6. Dimensionale Analyse zweier Gruppendikussionen
  7. Datenauswertung
  8. Ergebnisdarstellung
  9. Theoretische Anschlüsse
  10. Abschluss

Inhalt

Mit dem zweiten Kapitel (Professionalität von [Berufsschul-]Lehrkräften als Forschungsgegenstand)wird erstens das der Studie zugrundeliegende Professionalitätsverständnis entwickelt (Kap. 2.1), das im Anschluss an strukturtheoretische und symbolisch-interaktionistische Überlegungen als ein reflexiver Umgang mit den Antinomien/ Paradoxien professionellen Handelns formuliert wird. Aufgrund des besonderen Anforderungsprofils des (chinesischen) Berufsbildungsbereichs (Innovationsdruck, Heterogenität der Adressatinnen/ Adressaten, Kooperationen mit Betrieben usw.) sei zudem von einer verstärkten Wirksamkeit dieser konstitutiven Widersprüche auszugehen. Zweitens werden der Forschungsstand zum LehrerInnenhandeln und zur LehrerInnenprofessionalität im (chinesischen) Berufsbildungskontext dargestellt (Kap. 2.2) und ausgehend davon – drittens - Forschungslücken identifiziert. Neben der Nichtexistenz einschlägiger Studien handelt es sich dabei vor allem um die bisher ausgebliebene empirische Fundierung der Modellvorstellung des professionellen LehrerInnenhandelns nach Helsper. Entsprechend werden – viertens – drei forschungsleitende Fragestellungen entwickelt: (a) zur Rekonstruktion einschlägiger Antinomien, (b) zu darauf bezogenen Gestaltungsmöglichkeiten der Professionellen und (c) zu den Auswirkungen modernisierungsbedingter Veränderungsprozesse auf das professionelle Handeln chinesischer Berufsschullehrerinnen/ -lehrer (Kap. 2.4).

Kapitel 3 (Darstellung des Forschungsfeldes) dient der vertieften Darstellung des Gegenstands, indem zunächst das chinesische (Berufs)Bildungssystem charakterisiert und auf die mittlere Berufsbildung (Facharbeiterschule, Fachmittelschule, Berufsmittelschule Oberstufe [vgl. S. 33]) fokussiert wird. Im Anschluss wird die heterogene chinesische (Berufsschul)LehrerInnenbildung skizziert.

Innerhalb des vierten Kapitels wird ein zentrales sensibilisierendes Konzept für die Studie von Schnarr selbst entwickelt. Mittels eines Transfers des Modells zu Antinomien professionellen LehrerInnenhandelns (Helsper) auf den Gegenstand der Arbeit werden "Strukturbedingungen professionellen LehrerInnenhandelns in der beruflichen Bildung der VR China" innerhalb einer Ebenenstruktur (grundlegende Paradoxien, Widersprüche im Kontext der Organisation des Bildungswesens, schul-/ klassenspezifische Handlungsdilemmata, Modernisierungsparadoxien) systematisierbar.

Im fünften Kapitel wird der Prozess der Datenerhebung detailliert nachvollzogen, so finden methodische und methodologische Reflexionen zu notwendigen sprachlichen Übersetzungsleistungen und zum Wechsel der Erhebungsmethode vom Experteninterview zur Gruppendiskussion (aufgrund der damit verbundenen erhöhten Teilnahmebereitschaft der chinesischen Professionellen) statt.

In Kapitel 6 (Dimensionale Analyse zweier Gruppendiskussionen) wird anhand zweier Fälle der erste Zugriff auf das Material exemplarisch dargestellt. Anschließend werden anhand relevanter Gruppendiskussionsthemen/ -modi erste übergreifende Analysedimensionen kontrastiv entworfen (Lehrerbild, Schülerbild, Veränderung und Reform, gesellschaftliche Stellung von BerufsschullehrerInnen).

In Kapitel 7 (Datenauswertung) werden der Einsatz der dokumentarischen Methode als Analysestrategie begründet und der konkrete Auswertungsprozess samt Modifikationen dargestellt. Innerhalb dieses Abschnitts wird über methodologische Ausführungen deutlich, dass Schnarr den Orientierungsbegriff im Anschluss an die wissenssoziologische Kategorie des Dokumentsinns (i.S. des Modus der Erfahrungsstrukturierung) konzipiert. Mittels des Rückgriffs auf die Kategorie des "konjunktiven Erfahrungsraums" wird nachvollziehbar, dass in der vorliegenden Studie auf gemeinsam geteilte Orientierungen von chinesischen Berufsschullehrerinnen/ -lehrern fokussiert wird.

Kapitel 8 (Ergebnisdarstellung) ist das umfangreichste der gesamten Arbeit und strukturiert sich über zwei Ergebnisebenen – Einzelfallportraits und Resultate der fallübergreifenden vergleichenden (komparativen) Analyse. Innerhalb dreier Einzelfallportraits (Gruppen Tao, Intro, Wasser) werden jeweils fünf bis sieben einzelfallspezifische Orientierungen anhand von Transkriptausschnitten dargestellt. Anschließend werden diese Orientierungen innerhalb analytischer Abstraktionen zusammenfassend konturiert und professions-/ bildungstheoretische Bezüge angedeutet. Ergebnisse der komparativen Analyse sind fünf fallübergreifende Orientierungsrahmen (Forscher-Beforschten-Diskurs, Tradition und Moderne, LehrerIn-SchülerIn-Beziehung, gelingende Unterrichtsarbeit, Fehlstellen und Defizite).

Greifbar werden die fallspezifischen Orientierungen und fallübergreifenden Orientierungsrahmen über deren Einordnung in den Forschungsstand – Kapitel 9 (Theoretische Anschlüsse). Schnarr modifiziert erstens Helspers Modell der professionellen Antinomien des LehrerInnenhandelns, indem er die übergreifenden Orientierungsrahmen und die Antinomien ins Verhältnis setzt. Antinomien, so Schnarr, fänden innerhalb der Orientierungsrahmen eine Konkretisierung. Anhand der Ausführungen wird deutlich, dass die spezifische Wahrnehmung von und der Umgang mit konstitutiven Antinomien in den Orientierungsrahmen systematisch angelegt scheint. So wird bspw. der Bezug von der "Näheantinomie" (Ambivalenz von Nähe – Distanz [Helsper]) und dem Orientierungsrahmen "SchülerIn-LehrerIn-Beziehung" (ExpertIn vs. quasi-familiale AnsprechpartnerIn [Schnarr]) erörtert (vgl. S. 193f.). Zweitens werden kurze, "holzschnittartige[]" (S. 201) bildungstheoretische Bezüge hergestellt.

Diskussion

Ausgangspunkt dieser Arbeit sind Erfahrungen des Autors zu Prozessen des internationalen Transfers von (Berufs)Bildungsstrukturen/ -strategien und seiner damit verbundenen Kritik an fehlender Adressatinnen-/ Adressatenbezogenheit und mangelnder Berücksichtigung heterogener Rahmenbedingungen. Mit seiner qualitativen Studie zu professionellen Orientierungen chinesischer Berufsschullehrerinnen/ -lehrer macht er einen Schritt zurück zu den Perspektiven von (Weiterbildungs)Adressatinnen/ -adressaten und damit einen entscheidenden Schritt hin zu einer kritisch-reflexiven Perspektive auf (internationale) Policy Transfers.

Mit Blick auf die Gliederung der Arbeit fällt auf, dass zentrale Elemente der Konturierung des Gegenstands (Kap. 3.1 und 3.2) erst nach der Entwicklung der Forschungfragen (Kap. 2.4) thematisiert werden. Möglicherweise steht diese Strukturierungsvariante jedoch im Zusammenhang mit der besseren Anschlussfähigkeit des darauf folgenden – anspruchsvollen – Transfers des Antinomien-Modells (Helsper) auf den Gegenstand der Arbeit (Kap. 4).

Hinsichtlich der Ergebnisdarstellungen hätten Hinweise auf die Strukturierung der Einzelfallportraits zu Beginn des entsprechenden Kapitels (vgl. S. 99) deren Lesbarkeit sicherlich gedient. Das Portrait des ersten Falles endet mit einer zusammenfassenden Grafik der rekonstruierten Orientierungen (vgl. S. 122); um den fallübergreifenden Vergleich transparenter und nachvollziehbarer zu gestalten, wäre es sinnvoll gewesen, auch für die beiden anderen Fallportraits entsprechende Grafiken zu erarbeiten.

Fazit

In seiner qualitativen Studie zu professionellen Orientierungen chinesischer Berufsschullehrerinnen/ -lehrern sind für Alexander Schnarr die Forschungsfragen zu einschlägigen Antinomien/ Widersprüchen, daraufbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten und Auswirkungen modernisierungsbedingter Veränderungsprozesse leitend. Mittels des Transfers des Modells professioneller Antinomien (Helsper) auf den eigenen Gegenstand wird erstens ein „sensibilisierendes Konzept zu den Strukturbedingungen in der beruflichen Bildung der VR China“ theoretisch generiert. Über die eigentliche qualitative Untersuchung wird in einem zweiten Schritt ein „Modell zu professionellen Antinomien und Orientierungen in der chinesischen Berufsbildung“ entworfen, das empirisch fundiert ist.

Relevant ist die vorliegende Studie einerseits sicherlich für Leserinnen/ Leser mit Interesse an den Gegenständen Berufsbildung/ chinesische Berufsbildung, Erwachsenenbildung oder Policy Transfer. Darüber hinaus ist sie auch für qualitativ Forschende sehr gewinnbringend, u.a. aufgrund der Reflexionen zum Umgang mit fremdsprachigem Datenmaterial (Erhebung/ Auswertung).

Rezension von
Heike Brand
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Institut 1 – Bildung, Beruf und Medien; Bereich Erziehungswissenschaft; Professur Pädagogik und Medienbildung
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Es gibt 2 Rezensionen von Heike Brand.

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Zitiervorschlag
Heike Brand. Rezension vom 12.09.2016 zu: Alexander Schnarr: Berufsschullehrkräfte aus China und ihre professionellen Orientierungen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. ISBN 978-3-8474-0761-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20441.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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