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Thomas Köhler: Freud-Bashing. Vom Wert und Unwert der Anti-Freud-Literatur

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 30.03.2016

Cover Thomas Köhler: Freud-Bashing. Vom Wert und Unwert der Anti-Freud-Literatur ISBN 978-3-8379-2503-6

Thomas Köhler: Freud-Bashing. Vom Wert und Unwert der Anti-Freud-Literatur. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2015. 230 Seiten. ISBN 978-3-8379-2503-6. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Thema

Das Thema ist die Anti-Freud-Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Autor

Der Verfasser (Dr. med., Dr. Phil., Dipl.-Math., Dipl.-Psych,) vertritt zurzeit die Professur für Klinische Psychologie an der Universität der Bundeswehr Hamburg und ist Honorarprofessor an der Fakultät für Psychologie der Universität Hamburg mit den wissenschaftlichen Schwerpunkten der biologischen Grundlagen psychischer Störungen, Psychopharmakologie, sowie Freuds Psychoanalyse.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in verschiedene Unterabschnitte:

  • Vorwort (2 S.),
  • Einleitung und Übersicht (4 S.),
  • Die Anti-Freud-Literatur (92 S.),
  • Prioritätsfragen oder: Hat Freud abgeschrieben (16 S.),
  • Die Rezeption der frühen Psychoanalyse: Darstellung, Kritik und Gegenkritik (26 S.),
  • Freuds Aufgabe der sogenannten Verführungstheorie und die Mutmaßungen über seine Gründe (Masson, Krüll) (26 S.),
  • Zur Kritik und Neuinterpretation der Fallgeschichte vom »Kleinen Hans« (Wolpe, Rachman),
  • Die Psychoanalyse-Kritik Grünbaums, dargestellt anhand seiner Diskussion der Fehlleistungstheorie (8 S.),
  • Literatur (12 S.),
  • Register (5 S.).

Inhalte

Das erste und umfangreichste Kapitel, „Die Anti-Freud-Literatur“, ist untergliedert in

  • ‚Freud-Biografik und frühe kritische Literatur zur Psychoanalyse’ (1 S.),
  • ‚Die Psychoanalyserezeption im Deutschland der NS-Zeit’ (20 S.),
  • ‚Grundtypische Züge der Anti-Freud-Literatur, erläutert an Emil Ludwigs´ Der entzauberte Freud’ (12 S.),
  • ‚Einige Autoren der Anti-Freud-Literatur und kritischen Freud-Biografik: Kretschmer, Fromm, Ellenberger und Sulloway’ (59 S.).

Der Akzent liegt also eindeutig auf Anti-Freud-Literatur und Biografik. Über akribische Textvergleiche arbeitet Köhler Auslassungen, Entstellungen, Verdrehungen, aber möglicherweise auch Missverständnisse (?) heraus, die im Einzelnen nachzuprüfen die Kapazitäten einer Rezension übersteigt. Die Biografik beschäftigte sich kritisch mehr mit dem Boten als mit der Botschaft, was in wissenschaftlicher Literatur eher selten ist, aber bei den frühen Freudschriften verständlich, da sie einerseits gesellschaftlich anstößig waren, insbesondere seine Sexualtheorien, sich andererseits auf sehr persönliche Mitteilungen (z.B. Träume) stützten, die sowohl Interesse und Neugierde weckten, als auch Fragen aufwarfen.

Neben der überaus sorgfältigen und genauen Arbeit des Autors an den Texten, deren Ergebnisse beim Lesen anstrengend und durch die Fülle der Belege auch manchmal ermüdend sind, provozieren die Belege aber auch vom Autor unbeantwortete Fragen nach den zugrunde liegenden Affekten, die sich sowohl gegen die Botschaft, als auch gegen den Boten richteten. Diese haben ihre Wurzeln nicht nur in einem naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsverständnis, sondern auch in den religiös oder bürgerlich geprägten Vorurteilen gegenüber sexueller Aufklärung, und insbesondere der kindlichen Sexualität. Mit Widerständen war also zu rechnen, und Freud selbst war der letzte, der damit nicht gerechnet hatte. Als Kind seiner Zeit, und introspektiv, war er auch selbst mit ihnen vertraut. Das wachsende Interesse (s.a. auch die 2. Auflage der ‚Traumdeutung’) zeigt jedoch auch eine zunehmende Anerkennung. Zudem ist der Gegenstand selbst, das Seelenleben, kein religiös, philosophisch oder weltanschaulich neutraler Gegenstand. Affekte aus solchen Quellen sind zu trennen von denen, wo Kollegen und Laien – es werden nur Männer erwähnt – Freud seinen späteren Erfolg neiden, ihn in einen kleinlichen Konkurrenzstreit um Prioritäten verwickeln.

Auch Freud stand ‚Auf den Schultern von Riesen’ (Merton 1965/1980), d.h. in einer naturwissenschaftlich Tradition von genauer Beobachtung, Beschreibung, Hypothesen- und Theoriebildung, gleichzeitig aber auch in einer durch Jahrhunderte geprägten hermeneutischen jüdischen Überlieferung, die sich nicht nur im Religiösen, sondern auch im Witz, in Traumdeutungen und auch im Alltagsleben gegen einen kulturell geprägten Antisemitismus bewährt und den Blick geschärft hatte. Das umfang- und materialreiche Kapitel unter diesem Aspekt zu lesen, ist eine interessante Erfahrung, die aber der Leser selbst leisten muss.

Die Prioritätsfrage reißt heute keinen mehr vom Hocker, da längst geklärt ist, dass es Vorläufer gegeben hat, nicht zuletzt seine Braut (s.a. die Brautbriefe), und dennoch keiner vor ihm das unbewusste Seelenleben mit den wissenschaftlichen Mitteln der Hypothesen- und Theoriebildung untersucht hat.

Dass die Verführungstheorie besonders anstößig war in einer Zeit bürgerlich enger Sexualmoral, zeigt die Rezeption von einem Extrem ins Andere: Erst wurde Freud vorgeworfen die Phantasien für Realität zu halten, dann die Realität für Phantasie und dabei übersehen, dass beides seelische Auswirkungen hat und Missverständnisse nicht ausgeschlossen sind, wie die lesenswerte Arbeit von Ferenczi ‚Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und die Sprache der Leidenschaft’ (1932) zeigt.

Bei Masson und Krüll richtet sich die Kritik nicht gegen die Botschaft, über die man diskutieren könnte, sondern wieder gegen den Boten, wobei auch die Frage ist, welche persönlichen Affekte dabei im Spiel sind.

Die umfangreiche Literatur über den ‚Kleinen Hans’ und den ‚Wolfsmann’ zeigt, dass Texte grundsätzlich zur Interpretation anregen, zumal solche, die bereits eine Interpretation vorlegen und trotzdem eine andere Lesart zulassen. Solche Diskussionen kennt jede psychoanalytische Fallvorstellung, wobei die von Gadamer (1960) aufgestellten Kriterien gerade auch dann nicht eingehalten werden, wenn Affekte im Spiel sind (neidische, besserwisserische, rivalisierende und überkritische).

Fazit

Das Buch ist schwer zu lesen, die Fülle des akribisch zusammengetragenen Materials ist für einen normalen Leser nicht nachprüfbar. Hier muss er dem Autor vertrauen. Es wird aber überdeutlich klar, dass bei den genannten Freud-Kritikern mitunter heftige Affekte im Spiel sind, die zu Missverständnissen, Entstellungen und Verdrehungen führen und den Boten anstelle der (ungeliebten?) Botschaft angreifen. Einer solchen Analyse hat sich der Autor allerdings konsequent entzogen. Gerade aber in der Anregung darüber nachzudenken liegt für mich als Leser der Gewinn dieses ansonsten mühsam zu lesenden Buches. Es bietet reichlich Stoff für ein psychologisches, psychoanalytisches oder hermeneutisches Seminar.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 129 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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ISSN 2190-9245