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Claudia Dellori: Die absolute Metapher ‚lebenslanges Lernen‘

Rezensiert von Prof. Dr. Erich Schäfer, 10.05.2016

Cover Claudia Dellori: Die absolute Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ ISBN 978-3-658-10959-2

Claudia Dellori: Die absolute Metapher ‚lebenslanges Lernen‘. Eine Argumentationsanalyse. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 240 Seiten. ISBN 978-3-658-10959-2. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 42,50 sFr.

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Autorin

Claudia Dellori ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Entstehungshintergrund

Bei der Publikation handelt es sich um die erheblich gekürzte Fassung der Dissertation der Autorin, die an der Goethe-Universität Frankfurt vorgelegt wurde. Der Studie ist ein Geleitwort von Jochen Kade vorangestellt.

Das Buch ist in der Reihe „Theorie und Empirie Lebenslangen Lernens“, herausgegeben von Christiane Hof, Jochen Kade, Harm Kuper, Sigrid Nolda, Burkhard Schäffer und Wolfgang Seitter, erschienen. Der Anspruch der Bände dieser Reihe, die im Springer Verlag in Wiesbaden verlegt werden, ist es, ein Publikationsforum für Nachwuchswissenschaftler*innen mit innovativen Themen und Forschungsansätzen zu bieten. Der Reihe liegt ein umfassendes Verständnis des Lebenslangen Lernens zugrunde.

Thema

In der Studie wird das bildungspolitische Postulat ‚Lebenslanges Lernen‘ empirisch hinterfragt, indem Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus dem Elementarbereich, dem Sekundarbereich I, der Erwachsenenbildung sowie der Bildungspolitik zu ihrem Verständnis des lebenslangen Lernens, dessen Bedeutung für das eigene berufliche Handeln sowie die bildungsbereichsübergreifende Umsetzung befragt werden.

Aufbau und Inhalt

Die Studie gliedert sich in neun Kapitel.

Nachdem in der Einleitung das Anliegen und der Aufbau der Arbeit vorgestellt werden, ist im zweiten sehr kompakten Kapitel der Blick auf das Konstrukt ‚lebenslanges Lernen‘ gerichtet. Es wird aus bildungspolitischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive beleuchtet und nach der bildungsbereichsübergreifenden Umsetzung gefragt.

Im dritten Kapitel stellt die Autorin ausführlich ihr Forschungsdesign vor. Die forschungsleitende Fragestellung ist die folgende: „Wie wird das Wissen über die bildungsbereichsübergreifende Umsetzung lebenslangen Lernens von Bildungsexpertinnen und -experten aus verschiedenen Bildungsbereichen (…) sowie Entscheidungsträgerinnen und -trägern aus der Bildungspolitik ausgehandelt, kodifiziert und tradiert, welche Schwerpunkte werden dabei gesetzt, bei welchen gibt es Konsens und bei welchen unterschiedliche Haltungen und Positionen?“ (S. 33). Die Autorin entfaltet hier ihre innovative Auswertungsmethodologie, die aus einer Kombination von wissenssoziologischer Diskursforschung, Grounded Theory und konversationsanalytischer Argumentationsanalyse besteht.

Gegenstand des vierten Kapitels ist die Vorstellung der Vorgehensweise bei der Datenerhebung und der Datenauswertung der 20 Expert*inn*eninterviews, die in zwei Wellen von Januar bis September 2005 und im Jahre 2008 stattfanden.

In den Kapiteln 5 und 6 werden exemplarisch zwei Fallportraits, ein sehr ausführliches aus dem Bereich der Erwachsenenbildung und ein Kurzporträt aus dem Sekundarbereich I vorgestellt, um der/dem Leser*in einen Einblick in die methodische Vorgehensweise zu vermitteln.

Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Konzept und der empirischen Dimensionalisierung der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘. Die Autorin greift das Konzept der absoluten Metapher von Blumenberg auf. Absolute Metaphern bezeichnen eine besondere Form der Metaphern, nämlich solche „Phänomene, die nicht begrifflich, sondern nur metaphorisch zu erfassen sind“ (S. 155). Absolute Metaphern haben eine pragmatische Funktion, sie geben Auskunft darüber, wie etwas gesehen oder gebraucht werden soll. Vor diesem Hintergrund verfügen absolute Metaphern auch über eine Geschichte, die sie transportieren. Sie können auch als ‚Symbole‘ oder ‚Bilder‘ bezeichnet werden, die allerdings keine Abbilder darstellen. De Haan hatte bereits 1991 den Begriff des ‚lebenslangen Lernens‘ als absolute Metapher klassifiziert. Die Verfasserin argumentiert mit de Haan, dass aufgrund der Unbestimmbarkeit von ‚Leben‘ und ‚Zeit‘ „das Lernen im Kontext der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ von einem Mittel zur Lebensbewältigung zu einem Bestandteil der Lebensbewältigung wird“ (S. 158). Die absolute Metapher ‚Lebenslanges Lernen‘, so ein erstes Ergebnis der empirischen Auswertung der Expertinnen- und Experteninterviews, zeichnet sich durch eine theoretische Unbestimmbarkeit aus; diese dokumentiert sich in unterschiedlichen Typisierungen, der Austauschbarkeit der metaphorischen Anteile, diachronen Veränderungen der Bedeutung sowie unterschiedlichen Bedeutungskontexten des lebenslangen Lernens. Trotzdem hat die Metapher eine Orientierungsfunktion in pädagogischen Handlungsfeldern. Die Leistung der Verfasserin besteht im Folgenden darin, die (Be)deutungshorizonte und -kontexte der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ aus dem empirischen Material zu entfalten. Im Einzelnen werden die folgenden sechs Bedeutungskontexte identifiziert:

  • Lernen als anthropologischer Bestandteil,
  • pädagogische Förderung der Habitualisierung lebenslangen Lernens,
  • Lernkontexte des lebenslangen Lernens,
  • lebenslanges Lernen als persönliche berufliche und allgemeine Weiterbildung,
  • lebenslanges Lernen als Bewältigungsstrategie potentieller beruflicher Diskontinuitäten und
  • lebenslanges Lernen als Reformstrategie des Erziehungs- und Bildungssystems.

Im achten Kapitel werden kontextgebunden Definitionsversuche im Umgang mit der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ herausgearbeitet. Die Autorin verlässt damit die Einzelfallanalyse und wendet sich der Theoriegenerierung zu. Die empirische Analyse wird anhand jener Textstellen durchgeführt, die entstanden sind, als die Interviewten aufgefordert wurden, sich zur im bildungspolitischen Diskurs geforderten bildungsbereichsübergreifenden Umsetzung des lebenslangen Lernens in ihrem jeweiligen beruflichen Handlungsfeld zu äußern. Es werden drei Definitionsversuche rekonstruiert:

  • Kontinuierliche pädagogische Förderung der Lernkompetenz im Lebenslauf,
  • parallele Inklusion der Lernenden in Einrichtungen mehrerer Bildungsbereiche des Bildungssystems sowie
  • Reform einzelner Bildungsbereiche und dazugehöriger Organisationen.

Wie die Analyse zeigt, fußen die Definitionsversuche auf jeweils unterschiedlichen Bedeutungskontexten (s.o.): Die handlungsrelevante kontextuelle Bedingung zur Formulierung des Definitionsversuchs „Kontinuierliche pädagogische Förderung der Lernkompetenz im Lebenslauf“ stellt der Bedeutungskontext „pädagogische Förderung der Habitualisierung lebenslangen Lernens“ dar. Wenngleich dieser Definitionsversuch bei sämtlichen Expert*inn*engruppen zu finden ist, vertreten ihn alle aus dem Elementarbereich und dem Sekundarbereich I.

Die handlungsrelevante kontextuelle Bedingung zur Formulierung des Definitionsversuchs „parallele Inklusion der Lernenden in Einrichtungen mehrerer Bildungsbereiche des Bildungssystems“ stellt der Bedeutungskontext „lebenslanges Lernen als Bewältigungsstrategie potentieller beruflicher Diskontinuitäten“ dar. Dieser Definitionsversuch wird häufig auf die berufliche Aus- und Weiterbildung bezogen.

Die handlungsrelevante kontextuelle Bedingung zur Formulierung des Definitionsversuchs „Reform einzelner Bildungsbereiche und dazugehöriger Organisationen“ stellt der Bedeutungskontext „lebenslanges Lernen als Reformstrategie des Erziehungs- und Bildungssystems“ dar. Dieser Definitionsversuch wird häufig von Vertreter*innen der beruflichen Bildung und der Bildungspolitik formuliert.

Das Datenmaterial wird von der Autorin im Folgenden daraufhin analysiert, welche weiteren Bedingungskontexte des Definitionsversuches aus handlungsrelevanten kontextuellen Bedingungen, der Sprecherposition sowie diskursiven Praktiken resultieren.

Im neunten Kapitel zieht die Verfasserin ein resümierendes Fazit und fokussiert nochmals auf die ihrer Meinung nach zentralen Erkenntnisse der Studie.

Diskussion

Metaphern haben in der Pädagogik eine lange Tradition und sind Bestandteil pädagogischen Denkens. Verwendet werden u.a. organische, technische, mäeutische, architektonische Metaphern sowie Licht-, Boden- und Fließmetaphern. Es gibt „Schnellstraßen, Saumpfade und Sackgassen des Lernens“ so der Titel einer Publikation über Metaphern von Schödlbauer/Paffrath/Michl aus dem Jahre 1999.

Das große Verdienst dieser Studie sehe ich darin, dass Expert*inn*en verschiedener Bereiche des Bildungs- und Erziehungssystems zur bildungsbereichsübergreifenden Umsetzung lebenslangen Lernens befragt und die Ergebnisse einer komparativen Analyse unterzogen werden. Durch diesen Ansatz gelingt es der Autorin zum einen eine empirische Dimensionalisierung der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ vorzunehmen und andererseits kontextgebundene Definitionsversuche zu identifizieren.

Über die absolute Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ erschließt die Autorin auf kreative Weise ein äußerst komplexes Feld, das sie aus der Perspektive der Expert*innen aus Theorie und Praxis verschiedener Bildungsbereichs beleuchtet.

Die Verwendung von pädagogischen Metaphern ist nicht ohne einen Frame, einen Deutungsrahmen möglich. Dass dieser durchaus mit didaktisch-methodischen Implikationen bei pädagogisch tätigen Menschen verbunden ist, hat Sabine Marsch (2009) in ihrer an der FU Berlin vorgelegten Dissertation am Beispiel von Lehrern eindrucksvoll nachgewiesen. Es stellt sich deshalb die Frage, welche praktischen Konsequenzen für das pädagogische Handeln die unterschiedlichen Definitionsversuche der absoluten Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ für Erwachsenenbildner*innen haben können. Hierauf kann die Studie keine Antwort geben, da dies nicht Gegenstand der Untersuchung war. Am Ende ihrer Studie spricht die Autorin diese Frage aber noch an, wenn sie vor den negativen Folgen einer Habitualisierung der absoluten Metapher ‚lebenslangen Lernens‘ warnt. Sie fürchtet eine „Verschleierung oder Simplifizierung komplexer Wirklichkeiten von Erziehung und Bildung“ (S. 224). Deshalb plädiert die Verfasserin auch für einen pädagogischen Lernbegriff, der Lernen als Erfahrung versteht.

Neben den erwähnten zentralen Ergebnissen der Studie auf wissenstheoretischer Ebene reklamiert die Verfasserin zu Recht noch ein Ergebnis auf der methodologischen Ebene, nämlich die Weiterentwicklung des Argumentationsschemas von Fritz Schütze und dessen Anwendung im Rahmen der Auswertung der Expert*inn*eninterviews.

Fazit

Die hier vorgelegte Studie von Frau Dellorie ist für Expert*inn*en unterschiedlicher Bildungsbereiche von großem Interesse und Gewinn, weil sie die Möglichkeit bietet, die eigenen zum Teil auch impliziten Definitionsversuche und Dimensionalisierungen kritisch zu reflektieren. Aber auch für alle jene, die sich mehr für methodologisch komplexe Forschungsdesigns interessieren, wird ein guter Einblick in die Forschungswerkstatt geboten. Für bildungspolitisch Interessierte kann es von Interesse sein, noch nicht hinreichend ausgeleuchtete Dimensionen der Metapher ‚lebenslanges Lernen‘ zu akzentuieren.

Rezension von
Prof. Dr. Erich Schäfer
Studiengangsleiter des berufsbegleitenden Masterstudienganges Coaching und Führung an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena
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Es gibt 8 Rezensionen von Erich Schäfer.

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Zitiervorschlag
Erich Schäfer. Rezension vom 10.05.2016 zu: Claudia Dellori: Die absolute Metapher ‚lebenslanges Lernen‘. Eine Argumentationsanalyse. Springer VS (Wiesbaden) 2016. ISBN 978-3-658-10959-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20466.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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