André Heinz: Kollektive Interessenorganisation in der sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Christa Paulini, 24.11.2016

André Heinz: Kollektive Interessenorganisation in der sozialen Arbeit. Ursachen geringer berufspolitischer Organisation. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 87 Seiten. ISBN 978-3-658-10513-6. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 32,00 sFr.
Thema
Der Autor untersucht aus soziologischer Perspektive warum die kollektive Interessensorganisation in der Sozialen Arbeit so gering ausfällt und fragt nach den Ursachen der niedrigen berufspolitischen Organisation. Ausgangspunkt ist für ihn dabei die zunehmende Prekarisierung in der Sozialen Arbeit, die weder bei Studierenden noch bei Berufskräften Proteste auslöst. Zur Lösung dieser Frage greift er u.a. auf die Forschung zu sozialen Bewegungen zurück.
Autor und Entstehungshintergrund
André Heinz studierte Soziale Arbeit (Bachelor) an der Alice-Salomon Hochschule in Berlin und Master „Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialmanagement“ an der Evangelischen Hochschule in Berlin (2013-2014). Seit seinem Abschluss ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Lehrbeauftragte tätig (Alice-Salomon-Hochschule, Institut DGB-Index Gute Arbeit). Er promoviert an der Freien Universität Berlin und forscht zur „Flexibilisierung im Erwerbsleben von Beschäftigten in sozialen Berufen und Collective Action Problems: Datenerhebung und Projektion“.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel geht der Autor auf den Widerspruch zwischen zunehmender Prekarisierung von SozialarbeiterInnen und den fehlenden Protesten sowohl von Studierenden als auch von Arbeitsleistungserbringer – so bezeichnet der die Berufskräfte – ein. Bisher wurden allgemein die Heterogenität der Berufsfelder, die Feminisierung, der fehlende Habitus oder auch die hohen Arbeitsbelastung als Ursachen vermutet. Er formuliert die These, dass die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Verhältnisse in der Sozialen Arbeit einerseits Anlass zu Protesten und Demonstrationen geben und andererseits die Herausbildung einer sozialen Bewegung auf vielfältige Art und Weise verhindern (S.19). Dazu vergleicht er die „theoretischen Paradigmen der Soziologie der sozialen Bewegungen mit den empirischen Daten zu den Verhältnissen in der Sozialen Arbeit“ (S.19).
Im zweiten Kapitel behandelt der Autor die Verbindung Soziale Bewegung und Soziale Arbeit und stellt fest, dass diese das Aufgreifen gesellschaftlicher Widersprüche und sozialer Probleme gemeinsam hatten, es jedoch trotz dieser Gemeinsamkeiten auch Distanzierungen u.a. aus Teilen der Arbeiterbewegung gab. Danach stellt er die Entwicklungsursprünge der Sozialen Arbeit dar, geht näher auf Soziale Bewegungen speziell ab der Nachkriegszeit ein und bringt anschließend der LeserIn die Paradigmen der Bewegungsforschung (u.a. Structural Strain Ansatz, Collective Identity Ansatz, Framing Ansatz) näher. Das Kapitel schließt mit einer Faktorenübersicht über die dargestellten theoretischen Erkenntnisse.
Im dritten Kapitel geht es um die sozioökonomischen Verhältnisse aus Sicht der Paradigmen. Zuerst stellt der Autor die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung anhand von Umsatzentwicklung im Sozialwesen, demografischer Wandel und ehrenamtlichen Engagement vor. Die Situation der Unternehmen werden anhand von Umsatz, Gewinn, Gewerbeanmeldungen und Insolvenzen näher erläutert. Die Situation der ArbeitsleistungserbringerInnen ist gekennzeichnet durch die Heterogenität der Arbeitsbereiche, das ein zentrales Problem bei der Herausbildung der kollektiven Identität bildet. Im weiteren Teil des Kapitels gibt der Autor eine Übersicht über die Anzahl der Beschäftigten, Lohnunterschiede (Gender Pay Gap), unbezahlte Arbeit nach Geschlecht und Branchen, Krankheitstage etc. Das Kapitel schließt mit Daten zur Situation von Studierenden der Sozialen Arbeit – aber auch der Studiengänge Kindheits-, Heil- und Religionspädagogik – die vom Berliner „Netzwerk Prekäres Praktikum“ an den drei Berliner Hochschulen für Soziale Arbeit 2013 durchgeführt wurde. Der Autor betont, dass das Praktikumssemester „eine besondere Bedeutung in der Berufssozialisation resp. Sekundärsozialisation“ (S.72) hat, denn damit wird „eine wichtige Voraussetzung zur Duldung und Akzeptanz von prekären Arbeitsbedingungen bereits im Studium geschaffen, da jeder zukünftige Arbeitsplatz eine ökonomische Verbesserung darstellen wird, egal wie unangemessen die Arbeitsbedingungen sein werden“ (S.72).
Im vierten Kapitel diskutiert der Autor die Ergebnisse aus Sicht der vorgestellten Paradigmen der Bewegungsforschung und zeigt in der abschließenden Faktorenübersicht auf, dass die kollektive Identität durch viele Faktoren belastet wird (Heterogenität der Berufsfelder, ehrenamtliche Tätigkeit, mangelnde gesellschaftliche Anerkennung / Gehalt, negatives Berufsbild und zunehmende Ökonomisierung). Er benennt die Stärkung der kollektiven Identität als Ansatzpunkt und sieht hier die Hochschulen für Soziale Arbeit in der Verantwortung. Zur Stärkung der kollektiven Identität würde sich die Thematisierung der Bewegungsforschung besonders eignen.
Zielgruppen
Die Benennung der Zielgruppe fällt schwer. Für Studierende und Lehrende in der Sozialen Arbeit kann dieses Buch Anregungen vermitteln, sich über die Paradigmen der Bewegungsforschung in Verbindung mit ihren eigenen Beruf zu befassen und darüber zu reflektieren.
Fazit
Der Titel macht neugierig, die Ausführungen sind teilweise spannend (Ergebnisse zur Lage der Studierenden im Praktikum, Daten zur Beschäftigungssituation etc.), teilweise oberflächlich (Entwicklungsursprünge der Sozialen Arbeit), teilweise herausfordernd und befremdend (Paradigmen der Bewegungsforschung). Die Zuweisung der Verantwortlichkeit zur Ausbildung und Stärkung der kollektiven Identität fordert die Hochschulen für Soziale Arbeit heraus. Die Idee, dies alleine durch die Thematisierung der Bewegungsforschung zu erreichen ist nicht nachvollziehbar. Hier vermisse ich beim Autor die Einbeziehung von Forschungsergebnissen zur Entwicklung der professionellen Identität z.B. im Studium (u.a. Ebert 2012, Becker-Lenz u.a. 2012, Harmsen 2014).
Literatur
- Becker-Lenz, Roland; Busse, Roland; Ehlert, Gudrun; Müller-Hermann, Silke (Hrsg.) (2012): Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule, Wissen, Kompetenz, Habitus und Identität im Studium Sozialer Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
- Ebert, Jürgen (2012): Erwerb eines professionellen Habitus im Studium der sozialen Arbeit. Olms, Hildesheim
- Harmsen, Thomas (2014): Professionelle Identität im Bachelorstudium Soziale Arbeit Konstruktionsprinzipien, Aneignungsformen und hochschuldidaktische Herausforderunge, Springer Fachmedien, Wiesbaden
Rezension von
Prof. Dr. Christa Paulini
HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
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Zitiervorschlag
Christa Paulini. Rezension vom 24.11.2016 zu:
André Heinz: Kollektive Interessenorganisation in der sozialen Arbeit. Ursachen geringer berufspolitischer Organisation. Springer VS
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-10513-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20467.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
Urheberrecht
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