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Dieter Grimm: Europa ja - aber welches?

Rezensiert von Dr. iur. Marcus Kreutz, 12.08.2016

Cover Dieter Grimm: Europa ja - aber welches? ISBN 978-3-406-68869-0

Dieter Grimm: Europa ja - aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. Verlag C.H. Beck (München) 2016. 280 Seiten. ISBN 978-3-406-68869-0. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 30,50 sFr.

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Brexit, Bregret und die Zukunft Europas

Spätestens seitdem die Bevölkerung Großbritanniens am 23.06.2016 mehrheitlich dafür votiert hat, die Europäische Union zu verlassen, sind die Fliehkräfte innerhalb der Union in grellem Licht sichtbar geworden. Doch wer bereit war, genauer hinzusehen, konnte schon davor erkennen, dass es mit der aus Brüssel viel beschworenen Einigkeit zwischen den noch 28 Mitgliedstaaten nicht weit her war. Viele osteuropäische Mitgliedstaaten waren und sind nicht bereit, bei der Flüchtlingskrise Solidarität zu zeigen. Zahlreiche südeuropäische Länder haben Schwierigkeiten damit, die Austeritätspolitik umzusetzen, die ganz maßgeblich durch Deutschland initiiert wurde und auch von dem ökonomisch potentesten Land eingefordert wird. Schließlich sei an die Euro-Rettung erinnert, welche sich ganz maßgeblich mit Schicksal Griechenlands verbindet. Dass bei solch umstürzenden und grundlegenden Ereignissen neue Wortschöpfungen – auch und gerade fremder Zunge – Eingang in die deutsche Sprache finden, ist kein Wunder. Immerhin haben wir es hier mit einem internationalen und grenzüberschreitenden Vorgang zu tun.

Oft liest man in der ausländischen Press, dass gerade Deutschland, welches in den letzten Jahren wegen seiner ökonomischen Stärke auch politisch ein immer größeres Gewicht innerhalb der Europäischen Union bekommen hat, zu stark auf die Einhaltung der Regeln des europäischen Primärrechts pocht, also zu wenig Flexibilität beim Umgang mit juristischen Klauseln zeigt. Allein daran kam man jedoch die politischen und institutionellen Fliehkräfte, die bei der EU auszumachen sind, nicht alleine festmachen. Vielmehr wird in den jetzigen Krisenzeiten deutlich, dass die einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen besitzen, die durch den Anschluss an ein föderales Völkerrechtssubjekt nicht automatisch im Laufe der Zeit nivelliert werden. Hinzu kommt ganz maßgeblich, dass die europäischen Institutionen mit zahlreichen strukturellen und unter demokratietheoretischen Vorzeichen problematischen Phänomenen zu kämpfen haben.

Das hier zu vorzustellende Buch von Dieter Grimm, einem der renommiertesten Verfassungsrechtler, die die Bundesrepublik Deutschland vorzuweisen hat, hat sich mit ganz eingehend mit diesen und anderen europarechtlichen Fragestellungen beschäftigt.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die in den letzten Jahren an anderen Stellen publiziert wurden. Zu nennen sind insoweit z.B. der „Merkur“, der „Leviathan“ oder die FAZ. Vor allem aber wurden die meisten Beiträge in juristischen Sammelbänden veröffentlicht, die sich mit Fragen des Europarechts beschäftigen.

Autor

Professor em. Dr. Dieter Grimm war Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt zudem an der Yale Law School in den USA. IN den Jahren 1987 bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht. 2001 bis 2007 war er Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

Aufbau

Das Buch enthält insgesamt zwölf Beiträge, bei denen es sich um die folgenden handelt, wobei ein Vorwort in die Thematik einführt:

  1. Europa ja – aber welches?
  2. Auf der Suche nach Akzeptanz – Über Legitimationsprobleme und Legitimationsressourcen der Europäischen Union
  3. Souveränität in der Europäischen Union
  4. Zum Stand der demokratischen Legitimation der Europäischen Union nach Lissabon
  5. Die demokratischen Kosten der Konstitutionalisierung – Der Fall Europa
  6. Die Ursachen des europäischen Demokratiedefizits werden an der falschen Stelle gesucht
  7. Die Notwendigkeit europäisierter Wahlen und Parteien
  8. Zur Bedeutung nationaler Verfassungen in einem vereinten Europa
  9. Die Rolle der Parlamente in der Europäischen Union
  10. Die Rolle der nationalen Verfassungsgerichte in der europäischen Demokratie
  11. Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union – Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
  12. Nicht Pragmatismus, sondern Prinzipienorientierung benötigt Europa

Ein ausführliches Stichwortverzeichnis schließt den Band ab.

Ausgewählte Inhalte

Das Buch besticht durch eine tief beeindruckende Übersicht in europarechtliche Probleme und Fragestellungen, die sich jedoch nicht in rein juristischen Ausführungen erschöpfen. Die Thematik erfordert ohnehin ein tiefes Eindringen in kultur- und mentalitätsbezogene Themen, die der Autor meisterhaft und auf einem extrem hohen Abstraktionsniveau behandelt. Wegen der mannigfachen Aspekte, die der Thematik innewohnen und der Autor behandelt, sei an dieser Stelle nur auf wenige Punkte gesondert eingegangen.

Bereits im ersten Beitrag („Europa ja – aber welches?“) greift Grimm zu deutlichen und eindringlichen Worten. So führt er aus, dass in der Verselbstständigung der exekutiven und judikativen Organen von den politischen Organen der EU und von dem Willen der Mitgliedstaaten das eigentliche Demokratieproblem der EU zu erblicken sei (S. 21). Ein solches Verdikt dürfte von einem Juristen am wenigsten erwartet worden sein. Man fühlt unwillkürlich an den berühmten Satz Konrad Adenauers zum deutschen Bundesverfassungsgericht erinnert, den dieser 1952 tat, als dass Gericht die Wiederbewaffnungspläne zu stoppen drohte („Dat ham wir uns so nich vorjestellt.“). Grimm vertritt also die These, dass sich Exekutive und Judikative die Macht, die die Mitgliedstaaten nicht oder wenigstens zu spät ausüben wollten, an sich gerissen haben, um mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln die Integration der Europäischen Union voranzutreiben.

Grimm bietet aber auch nach diesem negativen Befund eine Arznei an, von der er meint, die Demokratiedefizite der EU zumindest teilweise heilen zu können. Er favorisiert eine Repolitisierung derjenigen Entscheidungen, die beträchtliche politische Implikationen haben. Das Mittel dafür sei die Rückführung der konstitutionalisierten Verträge auf verfassungsfunktional notwendige Maß (S. 45). Allerdings führt Grimm leider nicht weiter aus, welche Bereiche insoweit das verfassungsfunktional notwendige Maß genau ausmachen.

In dem Beitrag „Souveränität in der Europäischen Union“ (S. 49 ff.) gibt der Autor zunächst einen – um diesen Begriff hier zu verwenden – souveränen Überblick über die verschiedenen in Geschichte und Gegenwart verwendeten Souveränitätsbegriffe, um sodann festzustellen, dass es dem Bundesverfassungsgericht nicht leichtfalle, der Übertragung von Hoheitsrechten durch Festlegung von Grenzen Einhalt zu gebieten. Er führt insoweit aus, dass durch den Umstand, dass Kompetenzübertragungen zumeist immer nur Schritt für Schritt erfolgen, die Richter in Karlsruhe sich vor der äußerst diffizilen Aufgabe gestellt sehen, genau den kritischen Moment auszumachen, bei dem ein judikatives Einschreiten geboten ist (S. 65). Man fühlt sich hier an das sog. Sorites-Paradoxon erinnert.

Fazit

Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Sammlung der Aufsätze Grimms äußerst lesenswert ist. Jedem Europapolitiker und jedem Bürger, dem das Schicksal der Europäischen Union am Herzen liegt, kann die Lektüre nur dringend empfohlen werden. Statt jetzt in den Sommerferien einen Krimi oder ähnliche leichte Lektüre am Strand zur Hand zu nehmen, sollte man lieber dieses Buch einem genauen Studium unterziehen. Denn die europäische Krise ist noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil: Die schwierigsten Zeiten kommen auf den europäischen Staatenverbund erst noch zu. Dann aber sollte man aber mit den tiefgründigen, gehaltvollen und erhellenden Überlegungen Grimms vertraut sein.

Rezension von
Dr. iur. Marcus Kreutz
LL.M., Rechtsanwalt. Justiziar des Bundesverbandes Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. in Köln
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Es gibt 266 Rezensionen von Marcus Kreutz.

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Zitiervorschlag
Marcus Kreutz. Rezension vom 12.08.2016 zu: Dieter Grimm: Europa ja - aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. Verlag C.H. Beck (München) 2016. ISBN 978-3-406-68869-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20475.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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