Ana Honnacker: Post-säkularer Liberalismus
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 05.08.2016

Ana Honnacker: Post-säkularer Liberalismus. Perspektiven auf Religion und Öffentlichkeit im Anschluss an William James. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 386 Seiten. ISBN 978-3-8487-1972-3. D: 74,00 EUR, A: 76,10 EUR, CH: 105,00 sFr.
Thema
Ausgehend von der Frage, welche Rolle Religion in einer sich modern und liberal verstehenden Gesellschaft heute spielt, geht es der Autorin um das Aufgreifen der Debatte und um den Umgang mit religiösen Perspektiven in der Öffentlichkeit – unter Bezugnahme auf exklusivistische, inklusivistische und vermittelnde systematische Strömungen eines angenommenen weltanschaulichen Pluralismus. Eine auf diese Frage antwortende philosophische Überlegung wird von Honnacker in der politischen Philosophie von William James mit der Begründung gesucht, dass „sein humanistischer Pragmatismus als metaphilosophische Methode zur Befriedung von Streitigkeiten zwischen konfligierenden Zugängen zur Welt“ verstanden werden kann.
Autorin
Ana Honnacker absolvierte das Magisterstudium der Philosophie, Katholischen Theologie und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und arbeitete zunächst als Wissenschaftliche Hilfskraft an der WWU Münster und als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt, ehe sie ab 2011 das der Publikation zugrundeliegende Promotionsprojekt im Fach Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. begann und als Stipendiatin im Rahmen eines Graduiertenkollegs 2014 zum Abschluss brachte. Seither ist sie als Wissenschaftliche Assistentin des Direktors am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover tätig und unterhält Lehrtätigkeiten sowohl an der Uni Münster, wie auch an den Universitäten in Frankfurt, Darmstadt und Hildesheim.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/14 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation im Fach Philosophie angenommen und entstand im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Theologie als Wissenschaft“.
Aufbau
Die Dissertation gliedert sich nach einleitenden Hinweisen in fünf Hauptkapitel auf und findet ihren Abschluss in einem Fazit und Ausblick, gefolgt von einem ausführlichen Literaturverzeichnis. Die jeweiligen Hauptkapitel sind in unterschiedlich zahlreichem Maße mittels zumeist kurzen Einlassungen untergliedert.
Inhalt
Die Autorin greift in ihrer Dissertation die ihrer Ansicht nach in der politischen Philosophie seit gut zwei Jahrzehnten geführte Debatte um den Umgang mit religiösen Perspektiven in der Öffentlichkeit auf, erkennt dabei sowohl exklusivistische wie auch inklusivistische Positionen, sieht umstrittene vermittelnde Ansätze und fragt sich, wie eine partikulare Überzeugung öffentlich vertreten und gerechtfertigt werden kann. Dabei greift sie auf die Philosophie des von 1842 bis 1910 in den USA lebenden und an der Harvard University lehrenden Psychologen und Philosophen William James zurück. Der Bruder des Schriftstellers Henry James gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie als Wissenschaft und als einer der wichtigsten Vertreter und Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus.
Honnacker begründet den Rückgriff auf James unter anderem damit, dass sich „sein humanistischer Pragmatismus als metaphilosophische Methode zur Befriedung von Streitigkeiten zwischen konfligierenden Zugängen zur Welt verstehen [lässt], die zugleich tiefsitzende Differenzen nicht einebnet, sondern dem jeweiligen Eigenrecht der Perspektiven Rechnung trägt“ (S. 14). Hinzu kommt, dass die Autorin bei James eine anspruchsvolle und hochaktuelle Religionstheorie vorzufinden glaubt, welche religiösen Überzeugungen keinen Sonderstatus zuspricht, „sondern ihre Kontinuität zu nicht als religiös gedeuteten Überzeugungen betont“ (S. 15).
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der post-säkularen Grundsituation, indem es auf religionssoziologische Befunde und Theorien zurückgreift, die Säkularisierungsthese darlegt und sich mit der Frage nach einer Post-Säkularität auseinandersetzt. Daraus ergibt sich ihre Erkenntnis, dass heute nicht von einer ausschließlichen Säkularisierung gesprochen werden könne, da Religion weiterhin ein nicht unbedeutendes Phänomen moderner Gesellschaften sein werde.
Das nächste Kapitel will Modelle religiöser Stimmen in der Öffentlichkeit aufzeigen. Hier werden paradigmatische Positionen und Argumente – ausgehend von denen eines politischen Liberalismus von John Rawls - aufgezeigt, indem gerade darauf eingegangen wird, ehe sich die weiteren Unterkapitel der Strategie der Exklusion einerseits, vermittelnder Modelle und der Inklusionsstrategie andrerseits zuwenden. Dabei werden spezifische Vertreter der jeweiligen Strategie, wie etwa Robert Audi, Jürgen Habermas, Gerald Gaus, bzw. Christina Lafont und Christopher Eberle und deren Positionen aufgezeigt. Die Autorin fasst aus den verschiedenen Strategien und Positionen die wichtigsten Erkenntnisse für ein Modell religiöser Stimmen im öffentlichen Diskurs zusammen, um dann daraus einen eigenen Entwurf zu entwickeln.
In den beiden nachfolgenden Kapiteln konzentriert sich die Arbeit auf die Darstellung der Grundzüge der Philosophie des humanistischen Pragmatismus von William James und dessen Theorie der Religion. Dabei geht es der Autorin erklärtermaßen vor allem darum „die Kernideen seines Denkens fruchtbar zu machen und systematisch“ (S. 17) weiterzuführen.
So wird unter anderem nach einem Hinterfragen der Aktualität der Philosophie von James die heute gültige Relevanz hinterfragt und festgehalten, dass diese in hohem Maße für Anhänger einer empirisch-wissenschaftlichen Weltsicht besteht (vgl. S.138 ff.). Dies bestünde beispielsweise auch darin, dass James eine zunehmende Bedeutung des Materiellen bei gleichzeitiger Verminderung der Bedeutung des Menschen wahrgenommen habe, was sich wiederum auf die Religiosität und das Lebensgefühl auszuwirken vermag. Honnacker erkennt des weiteren in der Zugangsweise zum Phänomen Religion bei James einen Verlust der Beheimatung in Tradition dadurch, dass das Individuum der Religion subjektiv entgegentritt, zum Beispiel kirchliche Autoritäten ablehnt oder Traditionen transformiert und den persönlichen Bedürfnissen angepasst werden, Glaube somit zur individuellen Option wird (vgl. S. 147). Zusammengefasst wird der humanistische Pragmatismus von James als eine Art Gegenentwurf zur Philosophie als akademischer Disziplin, als „public philosophy“ verstanden, die Gültigkeit weit über ein Spezialistentum beansprucht.
Auf einen Nenner gebracht lässt sich der humanistische Pragmatismus bei James nach Ansicht von Honnacker als etwas Ganzheitliches, durch die kontingente Evolutionsgeschichte des Menschen, seinen Wünschen, Ängsten und Interessen, die prägend und beeinflussend wirken und somit auch auf dessen religiöse Überzeugungen Auswirkung haben (vgl. S. 231) verstehen, ja als Vermittlungsversuch zwischen Rationalismus und Empirismus mit dem Anspruch den von ihm diagnostizierten Trend zum Säkularismus Einhalt gebieten zu wollen, begreifen (vgl. S. 232).
Die Autorin geht unter anderem auch auf den „pragmatischen Wahrheitsbegriff“ von James ein, da sie diesen als im Zentrum von dessen Pragmatismus stehend erkennt. „Gerade in seiner Abkehr vom klassischen, statischen Verständnis von Wahrheit als Abbildung der fixierten, objektiven Realität scheint er mir jedoch nicht nur philosophisch provokant, sondern – zumindest vor dem Hintergrund des jamesschen Humanismus – auch angemessen“ (S. 197). Zudem hält Honnacker diesen pragmatischen Wahrheitsbegriff für die Diskussion um die Rechtfertigung religiöser Überzeugungen und deren Wahrheitsanspruch bzw. Wirklichkeitsgehalt für besonders fruchtbar, nicht zuletzt deshalb, weil James postuliert, dass die Vorstellungen des Individuums mit der Wirklichkeit auch dann übereinstimmen müssen, wenn diese konkret oder abstrakt, Tatsachen oder Prinzipien sein mögen. Gerade hierin zeigt sich nach Honnacker die pragmatische Deutung des Wahrheitsbegriffs durch James. Sein sich auch daraus ergebender Humanismus bedeutet eine ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen.
Ausgehend hiervon referiert Honnacker im vierten Kapitel das eigentliche Religionsverständnis bei James und zitiert: „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen“ (S. 233), dabei eine erste vorsichtige, wenn auch weit gefasste, auf religiöse Erfahrung bzw. das Gefühl des Individuums abzielende Definition erkennend. Eine Deutung zu finden, wie aus religiöser Erfahrung bei James ausgedrückte religiöse Überzeugung wird, erscheint der Autorin als problematisch, da er beispielsweise zum einen nicht für religiöse Überzeugungen aufgrund rationaler Überlegungen eintritt, zum anderen aber auch die Annahme jener religiösen Überzeugungen ablehnt, welche nicht aus vernunftorientierter Überlegung resultieren (vgl. S. 255).
Im abschließenden Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit dem Beitrag von William James zu einem post-säkularen Liberalismus, indem sie den Versuch unternimmt, aus dem (rekonstruierten) Denken und der wissenschaftlichen Debattenlage sowohl gesellschaftstheoretische wie auch politikphilosophische Ansatzpunkte und Überlegungen zu finden und zu analysieren, um dann daraus Schlüsse bzw. Konsequenzen für das religiöse Bekenntnis ziehen zu können, welche wiederum abschließend zu einem skizzierten Entwurf einer pragmatisch verfassten Theologie, „die eine wichtige Scharnierstelle zwischen religiösem Individuum und öffentlichem Diskurs einnehmen könnte“ (S. 292) Verwendung finden.
Diskussion
Die vorliegende aus besagter Dissertation resultierende Publikation ist zunächst nicht als Exegese des philosophischen Denkens von William James zu verstehen. Die Autorin betont immer wieder, dass es sich bei James nicht um ein geschlossenes Gedankengebäude oder religionsphilosophisches Werk handelt, sondern dass es sich um eine Rekonstruktion seines humanistischen Pragmatismus und seiner Religionstheorie handelt, die wohl als Desiderat aus den verschiedensten Schriften und der wissenschaftlichen Debatte verstanden werden muss. Dass die Autorin sodann aus diesen Rekonstruktionen eigene Perspektiven entwickelt, die sich also im Anschluss daran ergeben (könnten), macht erst den eigentlichen Sinn der Publikation aus.
Dabei geht die Autorin äußerst akribisch vor, verwissenschaftlicht im wahren Zweck einer Dissertation ihre Überlegungen, um dann zu einer Art Neuinterpretation des (religions)philosophischen Denkens von James in all dem Für und Wider, das sich auch aus der wissenschaftlichen Debatte bisher ergeben hat, zu gelangen. Honnacker arbeitet mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch und fachwissenschaftlichem Niveau, wenngleich dabei hin und wieder Abstriche bei der Verständlichkeit dann konstatiert werden können, wenn didaktische Grundsätze stärker ins Kalkül gezogen werden müssten. So könnte man eine dem jeweiligen Kapitel angehängte zusammenfassende Darlegung durchaus als vertiefenden Erkenntnisgewinn anmahnen.
Fazit
Die Arbeit von Ana Honnacker darf als für den religionsphilosophisch orientierten Interessenten dann als bedeutsam gelten, wenn es ihm um das Erfassen von der Frage nach der heutigen Rolle von Religion und dem Bekenntnis zu ihr im öffentlichen Raum geht, wenn es um die Umsetzung von religiösen Überzeugungen in einer liberalen Demokratie auch unter der prägenden Ausgestaltung derselben aufgrund post-säkularer Entwicklungen geht, oder wenn es einfach nur darum geht, einen zumindest in der gegenwärtigen philosophischen Welt kaum mehr bekannten, wenn auch für die Religionsphilosophie nicht unbedeutenden Denker wieder zu beleben und neu zu erfahren.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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