Ines-Jacqueline Werkner (Hrsg.): Religion in der Friedens- und Konfliktforschung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.03.2016

Ines-Jacqueline Werkner (Hrsg.): Religion in der Friedens- und Konfliktforschung. Interdisziplinäre Zugänge zu einem multidimensionalen Begriff.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2016.
341 Seiten.
ISBN 978-3-8487-2455-0.
D: 69,00 EUR,
A: 71,00 EUR,
CH: 99,00 sFr.
978-3-8452-6614-5 (PDF), ZeFKo, Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Sonderband 1.
Thema
Religionskritik ist Kirchenkritik ist Glaubenskritik ist Ideologiekritik ist Gesellschaftskritik. Die Rückkehr des Religiösen kann als eines der Phänomene betrachtet werden, die das natürliche wie irritierende Dasein der Menschen auf der Erde bestimmen. Denn ist es nicht so, dass ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen im Sinne des anthropologischen Denkens, als aufgeklärter Mensch die Religion als ein Feld des Individuellen bezeichnen kann, das er im Bewusstsein der Überwindung seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu betrachten in der Lage und fähig ist? (Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13711.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
Die von der Bundesregierung im Jahr 2000 gegründete Deutsche Stiftung Friedensforschung (German Foundation for Peace Research, DSF), mit Sitz in Osnabrück, setzt sich zum Ziel, „das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker fördern. Sie soll mithelfen, Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, dass Krieg, Armut, Hunger, Unterdrückung verhütet, Menschenrechte gewahrt und die internationalen Beziehungen auf die Grundlage des Rechts gestellt werden. Sie soll ferner mithelfen, dass die natürlichen Lebensgrundlagen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowohl genutzt als auch für kommende Generationen erhalten werden“. Die DSF führte im Rahmen des interdisziplinären Forschungsverbundes „Religion und Konflikt“ einen Workshop zum Thema „Der Begriff der Religion in der Friedens- und Konfliktforschung und dessen Operationalisierung“ an der Evangelischen Akademie in Villigst durch.
Die Herausgeberin des aus der Veranstaltung hervorgegangenen Sammelbandes, die wissenschaftliche Mitarbeiterin von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST) und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Ines-Jacqueline Werkner, legt den Tagungsband vor, der auf den folgenden Leitfragen basiert:
- Was wäre ein für die Friedens- und Konfliktforschung – unter Berücksichtigung der Besonderheiten von außerhalb der christlichen Tradition stehenden Religionen – geeigneter Begriff von Religion?
- Was ist das spezifisch Religiöse? Wie lässt es sich bestimmen? Welche Kriterien lassen sich finden, um religiöse von nicht-religiösen Symbolsystemen zu unterscheiden?
- Kann Religion als gesondertes Phänomen betrachtet und analysiert werden oder muss Religion notwendig in umfassendere kulturelle bzw. zivilisatorische Konzepte eingebunden werden?
Aufbau und Inhalt
Der Forschungsband wird in zwei Kapitel gegliedert.
- Im ersten werden theoretische Zugänge vorgenommen und Kontroversen diskutiert;
- und im zweiten wird der Religionsbegriff in der empirischen Forschung thematisiert.
Zehn Autorinnen und Autoren beteiligen sich an dem wissenschaftlichen, interdisziplinären Diskurs.
Ines Jacqueline Werkner führt in die ambivalenten Fragestellungen und Herausforderungen mit der Aufforderung ein, dass „theoretische und empirische Ansätze zum Friedens- und Gewaltpotential von Religionen sowie ethische Fragen nach Krieg und Frieden sich auf einen Religionsbegriff stützen müssen, der der Verschiedenheit der Religionen gerecht wird“, wie auch der, dass im wissenschaftlichen Diskurs „nicht nach dem religiösen, sondern dem kulturellen bzw. zivilisatorischen Friedens- und Gewaltpotential zu fragen (sei), womit die Bedeutung der Religion für das Konfliktgeschehen zwar nicht negiert, aber zumindest relativiert werden würde".
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Claudia Baumgart-Ochse, fragt mit ihrem Beitrag „Substanziell, funktional oder gar nicht?“ mit einem Literaturüberblick über den Religionsbegriff in der Friedens- und Konfliktforschung. Sie zeigt auf, dass die Schwierigkeit, Religion sowohl qualitativ als auch quantitativ zu definieren, im wissenschaftlichen Diskurs ganz verschiedene Zugangs- und Zugriffsformen bewirkt, weil anstelle von grundsätzlichen Fragestellungen zum Religionsbegriff Subkategorien eingeführt werden. Sie verweist darauf, „wie wichtig es ist, einen Religionsbegriff zu verwenden, der sowohl die gewünschte Unterscheidungsleistung zu anderen sozialen Phänomenen erbringt, als auch reisefähig (nämlich in dem Sinne, „wer und aus welchen machtpolitischen Interessen heraus bestimmte Zuschreibungen wie religiös/nicht-religiös, autoritativ vornimmt oder bestimmte religiöse Inhalte und Praktiken erlaubt oder verbietet“, JS) ist“.
Der Religionssoziologe von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, Detlef Pollack, unternimmt mit seiner Frage „Was ist Religion“ eine kritische Diskussion und schlägt Lösungsansätze vor. Dabei verweist er auf die verschiedenen, beim wissenschaftlichen Arbeiten gebräuchlichen Definitionsmethoden, wie der substanziellen, der funktionalistischen und der diskurstheoretischen Begriffsbildungen. Er entwickelt daraus die „funktional-substanzielle Religionsdefinition“, indem er eine Vermittlung zwischen den immanenten und transparenten religiösen Sinnformen vornimmt: „Die inhaltliche Bestimmung von Religion besteht … nicht nur darin, dass ein von der Immanenz unterschiedener Bereich der Transparenz eröffnet wird, sondern auch darin, dass dieser Bereich des Unzugänglichen kommunikativ zugänglich, anschaulich, fassbar, verstehbar gemacht wird und damit alltagsweltliche Relevanz erhält“.
Der Religionswissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität, Wilhelm Gräb, gibt mit seinem Beitrag „Religion als Dimension von Kultur“ Hinweise auf einen kulturhermeneutischen Begriff der Religion. Mit seiner Analyse rekurriert er zum einen auf den historisch-philosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs, wie er sich etwa bei Johann G. Herder und Ernst Cassirer darstellt, und zum anderen im kulturellen Pluralismus, wie er sich z. B. bei Clifford Geertz zeigt. Er entwickelt daraus sein Plädoyer für eine kultur- und religionssensible Friedens- und Konfliktforschung und formuliert dieses in sechs Thesen: Es bedarf eines „weiten“ Kulturbegriffs – Berücksichtigung der religiösen Traditionen – Kulturelle und weltanschauliche Identitäten bilden Gemeinsames – Interkulturelles Verständnis – „Sakrale“ Bedeutung der Menschenrechte (vgl. dazu: Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 201, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php) – Konfliktbewältigung durch Symbolkompetenz.
Der Leiter des Wiener International Center for Interreligious and Intercultual Dialogue, Karsten Lehmann, vergleicht mit seinem Beitrag „Komplexität und Dynamik des Verhältnisses zwischen Religionen, Frieden und Konflikt“ verschiedene (deutschsprachige) Forschungsperspektiven der kulturwissenschaftlichen Religionskonzeption in der Friedens- und Konfliktforschung miteinander. In drei Forschungssträngen identifiziert er bei den Auseinandersetzungen um Religion und Konflikt Übereinstimmungen, die für eine Konzeptualisierung des Religionsbegriffs nützlich sind: Bedeutung des traditionellen Säkularisierungsparadigmas für die interdisziplinären Forschungsdebatten – Das Augenmerk auf die Rolle von Religionen bei der Genese von intra- und internationalen Konflikten – Bedeutung und Möglichkeiten von Religionen für die Herstellung von Frieden. Für Friedens- und Konfliktforschung ist wichtig zu erkennen: „Religion an sich (kursiv, JS) ist weder friedfertig noch konfliktträchtig. Vielmehr können religiöse Traditionsbildungen zur Legitimation ganz unterschiedlicher Handlungen herangezogen werden“.
Mariano Barbato von der Babes-Bolyai-Universität in Klausenburg/Rumänien und Privatdozent beim Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik der Universität Passau, reflektiert mit seinem Beitrag „Konstruktionen der Religion“ auftretende und wirksame Krisensituationen bei internationalen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. „Religiöse Weltanschauungen sind zunächst wie säkulare historisch gewachsene Bedeutungs- und Symbolsysteme, die in die Konvergenz der Welt durch jenseitige Vorstellungen diesseitigen Sinn stiften“. Für eine politikwissenschaftliche Friedens- und Konfliktforschung zeigen sich dabei Herausforderungen, wie von den „politischen (Welt-)Religionen“ ausgehende religiöse Verhaltensweisen der Menschen erkannt, analysiert und für individuelles und gesellschaftliches, soziales Denken und Handeln demokratisch und zivilgesellschaftlich wirksam gemacht werden kann.
Das zweite Kapitel beginnt der Leipziger Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel mit dem Beitrag: „Mehrdimensional, aber nicht unfassbar: Religionsbestimmung in der Friedens- und Konfliktforschung“. Er geht davon aus, dass sich dafür eine substantielle, auf eine imaginäre Transzendenz bezogene Begrifflichkeit besser als eine funktionalistische eignet. Diese Überzeugung gründet er auf drei Annahmen: Es ist eine Begriffskonzeption notwendig, die den Gegenstand so exakt wie möglich kategorisch benennt und empirisch operationalisierbar macht – Die Vielfalt des religiösen Feldes muss berücksichtigt werden – Eine deutliche Unterscheidung zwischen religiösen und politischen Inhalten muss vorgenommen werden. Mit der Unterscheidung von Religion und Religiosität werden gleichzeitig die Differenzen zwischen den religiösen und kulturellen Kontexten erkennbar: „Die Trennung von Religiosität, Religion, Religionen, religiösen Akteuren, Glaubenssystemen und religiösen Institutionen von ihren Wirkungen und Effekten ermöglicht die Bestimmung von Wirkungsanalysen und Mechanismen“.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter beim Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität in Potsdam, Michael Haußig, setzt sich mit seinem Beitrag „Religion in den Religionen“ mit den ungeklärten und individuell benutzten objektsprachlichen, exklusivistischen und komparatistischen Begriffen von Religion auseinander und schlägt einen allgemein anerkannten Begriff vor. Als Maßstab könnte dabei dienen, „inwieweit miteinander kommuniziert wird und auf welchen Referenzrahmen man sich dabei bezieht“.
Der Leiter des Forschungsschwerpunkts „Gewalt und Sicherheit“ beim German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg, Matthias Basedau, formuliert „Ideen, Identitäten und Institutionen“, indem er nach dem Spezifisch „Religiösen“ in der Friedens- und Konfliktforschung fragt und in sozialwissenschaftlichen Analysen Religion als Weltanschauung definiert, „deren spezifisch religiöses Element die transzendente Welterklärung und Sinnstiftung ist“. Für die Friedens- und Konfliktforschung ergibt sich dabei die Notwendigkeit, nach der „Entwicklung von Strategien der Konfliktbearbeitung und -prävention ( ) die empirische Identifizierung der Wirkung religiöser Faktoren relativ zu anderen, allgemeinen Kontextbedingungen“ zu schauen.
Alexander De Juan, ebenfalls von GIGA, fragt nach den „Auswirkungen von Gewalt auf Religion“ und stellt alternative Perspektiven auf innerstaatliche „religiöse Konflikte“ zur Diskussion. Die Daten der empirischen Studie werden ergänzt durch Befunde mit einem Fallbeispiel aus Nigeria, die besagen, „dass Gewalt Merkmale des Religiösen und somit möglicherweise auch ihre gesellschaftliche und politische Rolle beeinflussen kann“. Weil Religion im Zusammenhang mit innerstaatlichen Gewaltkonflikten niemals nur Subjekt, sondern immer auch Objekt ist, kommt es darauf an zu analysieren, ob die Glaubensgemeinschaft institutionell und funktional in der Lage ist, sich zu verändern. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen ergeben, „dass es wenig Sinn ergibt, Religion als Ganzes zu untersuchen“, sondern sich bei der Analyse auf einzelne Aspekte zu konzentrieren.
Der Bielefelder Religionssoziologe und Theologe Heinrich-Wilhelm Schäfer beschließt den Sammelband, indem er mit einem praxeologischen Religionsbegriff agiert und mit seinem Beitrag „Teuflische Konflikte: Religiöse Akteure und Transzendenz“ darauf verweist, dass „das spezifisch Religiöse aus der von religiösen Akteuren selbst konstruierten Relation zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und inhaltlich bestimmter religiöser Transzendenz“ zu betrachten sei. Für die Konfliktforschung ergibt sich daraus, dass für die Analyse und Wertung von religiös aufgeladenen Konfliktsituationen „die Andersartigkeit von Transzendenz im Unterschied zur erfahrenen Welt von größter Bedeutung (ist). Um die religiöse Deutung von Welt wirksam werden zu lassen, reicht es nicht aus, dass die religiösen Inhalte auf entsprechende Bedürfnisse treffen. Es ist ebenso wichtig, dass sie … hinreichend unterschiedlich sind von weltlichen Angelegenheiten und Akteuren“.
Für den wünschenswerten internationalen und interkulturellen Diskurs zur Friedens- und Konfliktforschung ist es hilfreich und zielführend, dass am Ende des Sammelbandes die einzelnen interdisziplinären Beiträge als Abstracts auch in englischer Sprache zusammengefasst werden.
Fazit
Die Bilanz, die die Arbeitsgemeinschaft AFK als Sonderband 1 der Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung vorlegt, ist nicht nur eine Reaktion auf das zunehmende, wissenschaftliche Interesse an den Forschungsaktivitäten, sondern nimmt auch die wissenschaftliche Debatte um die Rolle von Religion und Weltanschauungen in lokalen und globalen Gewaltkonflikten auf. Dass dabei nicht ausschließlich (und möglicherweise sogar nicht zuvorderst) nach den religiösen, sondern den kulturellen und/oder zivilisatorischen Friedens- und Gewaltpotentialen zu fragen sei, wird von den Autorinnen und Autoren in differenzierter, fachbezogener und -übergreifender Weise artikuliert. Es sind interdisziplinäre, vor allem politikwissenschaftliche, (religions-)soziologische, religionswissenschaftliche und theologische Herausforderungen, die einen interreligiösen Dialog (auch) über Begriffsfindung und -anwendung von „Religion“ sinnvoll, notwendig und nützlich machen.
Die Preisgestaltung des Sammelbandes dürfte es eher nicht wahrscheinlich machen, dass das Buch auf den Schreibtischen von Theologen, Sozialwissenschaftlern und Pädagogen liegt; es sollte aber in den Bibliotheken zur Verfügung stehen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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