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Christiane Schmerl: Und sie bewegen sich doch (Frauenbewegung und Wissenschaft)

Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner, 29.02.2016

Cover Christiane Schmerl: Und sie bewegen sich doch (Frauenbewegung und Wissenschaft) ISBN 978-3-87159-062-7

Christiane Schmerl: Und sie bewegen sich doch. Aus der Begegnung von Frauenbewegung und Wissenschaft. dgvt-Verlag (Tübingen) 2006. 370 Seiten. ISBN 978-3-87159-062-7. 28,00 EUR.

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Thema

Das System der Zweigeschlechtlichkeit, die gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, ihre Komplementarität und Asymmetrie, durchdringt und bestimmt unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln – von der individuellen Ebene über die sozialen Erfahrungen bis in globale Strukturen und die Symbolik unseres Seins. Dies gilt in besonderer Weise für das Feld der Wissenschaft. Als strukturierende Kategorie ist Geschlecht dort ständig präsent, manifestiert sich in wissenschaftlichen Aktivitäten, Ergebnissen und Strukturen und wird in Interaktionen und Dialogen immer wieder aufs Neue reproduziert. Der Wissenschaftsbereich ist damit in besonderer Weise Ausdruck des hartnäckigen kulturellen Normgefüges. Erst mit der zweiten Frauenbewegung wurde begonnen, das Phänomen Geschlecht im Bereich der Wissenschaft zu hinterfragen und in der Folge in den einzelnen Disziplinen – wenn auch nur in einigen – durchzudeklinieren. In einem umfassenden Bogen, von der Urgeschichte bis in die Gegenwart, von globalen Zusammenhängen bis hinein in einzelne Wissenschaftsbiografien widmet sich Christiane Schmerl diesem Phänomen – und dies auf eine hächst anschauliche Weise. Sie bietet damit auf der theoretischen wie auf der konkreten Handlungsebene nicht nur einen differenzierten Einblick in Herkunft und Status quo der Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich, sondern entwickelt auch innovative Ideen und Gedanken für mehr Geschlechterbalance.

Autorinnen

Christiane Schmerl, Prof. Dr. rer. nat., war Hochschullehrerin an der Universität Bielefeld. Sie war Gründungsmitglied und Vorstand im Bielefelder Frauenhaus und im Interdisziplinären Frauenforschungs-Zentrum (IFF) der Universität Bielefeld. Christiane Schmerl sArbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Sozialpsychologie, Sozialisation, Geschlechterpsychologie, Drogenabhängigkeit, Frauen und Medien, Geschlechteranthropologie, Wissenschaftstheorie und -kritik.

Ruth Großmaß, Prof. Dr., Studium der Fächer Philosophie, Germanistik und Pädagogik. Ruth Großmaß war langjährig Mitarbeiterin in der Hochschulberatung (Universität Bielefeld). In dieser Zeit kooperierte sie mit Christiane Schmerl im Lehrforschungsprojekt „Feministische Theorie“. Von 2004 – 2015 war Ruth Großmaß Hochschullehrerin für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Seit 2014 ist sie Studiengangsleiterin des internationalen Masterprogramms „Social Work as a Human Rights Profession“.

Aufbau und Inhalt

Auch wenn Geschlechtsidentität heute nicht mehr als etwas Widerspruchsfreies begriffen werden kann, ist sie in allen Bereichen des Lebensalltags als strukturierende Kategorie präsent (Hagemann-White, 1984). Zurückgeführt wird dies häufig auf genetische Dispositionen und evolutionäre Prägungen. Insbesondere die steinzeitliche Arbeitsteilung der Geschlechter wird dafür immer wieder herangezogen. Mit viel Sorgfalt und entlang quellengestützter Ergebnisse aus Archäologie wie Paläontologie richtet Christiane Schmerl den Blick im ersten Abschnitt des Buches auf diese frühen Konstellationen und kommt zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis. Wenn man entlang der sorgfältig angestellten Überlegungen und Erwägungen der Autorin bedenkt, dass 95% aller Menschen in der prähistorischen Steinzeit lebten, erscheinen 5.000 Jahre patriarchale Gesellschaft auch tatsächlich als vergleichsweise kleine Zeitspanne. Altsteinzeitliche Abbildungen weisen zahlreich darauf hin, dass es viele Jahrtausende gab, in denen „die anderen Fähigkeiten der Frauen noch nicht als etwas zu Beherrschendes, d. h. als etwas zu Kontrollierendes und Auszunutzendes definiert und durchgesetzt waren“ (S. 7 f.) und stattdessen „biologische Vaterschaft als ein unbekanntes bzw. unbedeutendes Phänomen betrachtet wurde“ (S. 19).

Die Blickrichtung – auch gestützt durch aktuelle vergleichenden Ethnologie – ist aktuell betrachtet keineswegs gegenstandslos: „Wenn matristische Gesellschaften existiert haben bzw. existieren, dann erhält allein die Denkmöglichkeit einer solchen gesellschaftlichen Organisationsform eine gedankliche Sprengkraft, die unsere vorhandenen (und dominanten) patriarchalen Systeme in ihrer Selbstverständlichkeit, ihrer Arroganz und ihrer scheinbaren Unüberwindlichkeit und Unausweichlichkeit nicht nur theoretisch in Frage stellt“ (S. 17), argumentiert die Autorin. Als noch bedeutsamer kann jedoch angesehen werden: Die kulturhistorische Betrachtung vorpatriarchaler Gesellschaften zeigt modellhaft auf, dass „es einen anderen zivilisatorischen und kulturell elaborierten Umgang mit Macht gegeben hat“ (S. 8). Dieser Umstand ist häufig als Gegenargument gegen die Existenz anders strukturierter Gesellschaften genutzt worden. Christiane Schmerl trifft daher die aufklärende Feststellung: „Die offensichtliche Tatsache, dass es so verstandene Matriarchate nicht gab und nicht gibt, ist nun gerade nicht ‚das‘ Gegenargument gegen feministisches Infragestellen von Andozentrismus, sondern viel eher eine Art von Bestätigung jener These, dass Matriarchate gerade nicht nach dem männlichen Schema von ‚Herrschaft‘ funktionier(t)en“ (S. 24, Herv. i. O.).

Christiane Schmerl beschäftigt sich daraufhin mit den bestehenden Hypothesen zum Übergang von matristisch zu patristisch organisierten Gesellschaften, also dem Weg zur systematischen Ausbeutung und Kontrolle der Fähigkeiten von Frauen, allen voran der Gebärfähigkeit. Sie zeigt auf, dass das Patriarchat als heutzutage dominierende und scheinbar naturgegebene Familienform das Ergebnis eines historisch langen perfektionierten Prozesses ist. Die damals bereits zugrundeliegenden Motive der Bemächtigung der Ressourcen von Frauen sind bis heute auf allen Ebenen aufzufinden – von der globalen Wirtschaft bis hinein in das innerpsychische Erleben einzelner Individuen – meist sogar zu Ungunsten beider Geschlechter, auf jeden Fall aber des weiblichen Geschlechts. Zur Aufrechterhaltung und Verteidigung patriarchaler Familienformen hat sich ein weitverzweigtes Netz an Legitimationen gebildet – vor allen in Religion, Wissenschaft, Recht und Kunst, welches Denkstrukturen wie Erkenntnisproduktion unserer Zivilisation durchtränkt. Diese Denkstrukturen prägen unser Dasein bis hinein in die Biologie. Christiane Schmerl merkt dazu lakonisch an: „Je weiter sich ich die Skelettfunde in die Uhrzeit zurückdatieren lassen, desto weniger lassen sich die Geschlechter nach Größe und Robustheit des Körperbaus unterscheiden“ (S. 31).

Das Patriarchat liegt also „keineswegs in der Natur ‚des Menschen und seiner Frau‘“, konstatiert Christiane Schmerl mit einer Anspielung auf eine beliebte Sprachfloskel der klassischen Ethnologie. „Die beschriebenen Maßnahmen haben alle die gemeinsame Funktion, die Erfindung der sozialen Vaterschaft des Mannes zu etablieren, aufrecht zu erhalten, zu sichern und als natürliche auszugeben“ (S. 41). An vielen Beispielen – Umgang mit dem Frauenkörper, der Gebärfähigkeit etc. – wird dies im vorliegenden Buch veranschaulicht. Auslöser für Veränderungen waren vor allem die beiden Frauenbewegungen und am Rande auch andere Gleichberechtigungsbewegungen. So erscheint z. B. das von den Frauen erkämpfte Recht auf Bildung, Berufstätigkeit und ökonomische Unabhängigkeit als wichtiger Schritt zu mehr Eigenständigkeit im Nachhinein betrachtet nicht als „die automatische Folge des Gleichberechtigungsparagraphen von 1949, sondern das Ergebnis seiner systematischen Einklagung und Anmahnung über Jahre hinweg, inklusive vieler Gesetzesinitiativen und -änderungen im Dunstkreis der zweiten Frauenbewegung“ (S. 80; Herv. i. O.). Jeder Schritt musste hart erkämpft werden. Dennoch resümiert Christiane Schmerl: „Die Vorstellungen über ‚richtiges‘ Verhalten, Handeln und Leben von Frauen (und Männern) haben sich grundlegend gewandelt“ (S. 82).

Das akribische Vorgehen entlang von Einzelereignissen und Quellen – bis hin zum „Redstockings Manifesto“ (S. 93) – setzt sich im zweiten Abschnitt des Buches zum Thema ‚wissenschaftliche Wissensproduktion‘ fort. Mit dem Zugang von Frauen zu Bildung, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Arbeitsformen, so Christiane Schmerl, wurde eine nachhaltige Trendwende eingeläutet. Mit der Eroberung des Wissenschaftsraumes durch Frauen wurde deutlich, dass „Wissenschaft kein geschützter ideologiefreier Raum ist, sondern in ihren Verwendungszwecken, wie in ihren Fort- und Rückschritten eng in gesellschaftliche Prozesse eingebunden ist“ (S. 11). Patriarchale Strukturen laufen in diesen Gefilden zu Hochformen auf. Am Beispiel geschlechtsspezifischer Sozialisation und darin insbesondere der bis heute immer wieder geschlechtstypisch unterstellten Aggression zeigt Christiane Schmerl die typischen androzentrischen Verhaftungen des traditionellen Wissenschaftsbetriebs auf und setzt eine sorgfältige Analyse erarbeiteter Forschungsergebnisse dagegen. Biologistische und verkürzte Ursachenforschung muss dabei in nahezu allen Bereichen ‚angeborener Unterschiede‘ gesellschaftlich konstruierten Bildern weichen, die sich bei tieferer Beschäftigung sämtlicher lange beschworener ‚essenzieller‘ Unterschiedlichkeiten beraubt sehen. Aggression bedarf offenbar vielmehr einer differenzierten sozialwissenschaftlicher Untersuchung. Das gilt ebenso für Intelligenzdifferenzen und auch für die Sexualität, der Christiane Schmerl ein höchst humoristisches eigenes Kapitel widmet, was sie nicht davon abhält, das ernsthafte Ziel der Einsicht in die „Kulturbedürftigkeit menschlicher Sexualität“ (S. 252; Herv. i. O.) konsequent zu verfolgen.

Insbesondere „die geschlechtsvergleichende Aggressionsforschung, ihre stufenweisen (selbst-)kritischen Fortschritte sind ein Lehrstück selbstaufklärerischen Geschlechterwissenschaft über das ‚Wesen‘ von Geschlechterfragen und den ihnen abzutrotzenden Erkenntnis- und Anwendungswert“ (S. 10). Die gesammelten Erkenntnisse erforderten jedoch den Einsatz von Frauen auf der ganzen Linie. Christiane Schmerl bemerkt dazu: „Programmatisch … hieß dieses Vorgehen für die WissenschaftlerInnen innerhalb der Frauenbewegung …: Skepsis und Kritikfähigkeit gegenüber den herrschenden Traditionen der eigenen Disziplin; eigene Forschungsfragen; eigene Empirie, die nicht nur von den männlich geprägten wissenschaftlichen Vorgaben ausgeht; Suche nach und reflektierter Einsatz von wissenschaftlichen Methoden, die den Lebensbedingungen des ‚zweiten Geschlechts‘ angemessen Rechnung tragen; Reflexionen des eigenen Standards bei der Analyse von Erkenntnissen“ (S. 94; Herv. i. O.). Ein ordentliches Programm! Viele Frauen aber haben es absolviert – zum Nutzen einer Reihe überraschender Erkenntnisse. Im dritten und vierten Abschnitt des Buches werden diese von der Sozialisationsforschung bis zum Frauengesundheitsbereich aufgegriffen.

Nach der Aufschlüsselung des Wissenschaftsbereichs wendet sich Christiane Schmerl im fünften Abschnitt im Sinne einer Analyse abermals tieferliegenden Strukturen zu. Unter dem Titel „Im Frauenzoo: Aufklärung über Fabelwesen“ entlarvt Christaine Schmerl uralte und bis heute gültige Geschlechtskonstruktionen und Bilder der Frau als abhängiges Objekt des Mannes. Heutzutage vor allem in Werbung und virtuellen Medien reproduziert, zementieren diese Bilder Vorstellungen von Mädchen und Frauen, die von Männern wie Frauen bis hinein in Gewaltverhältnisse reproduziert werden. Christiane Schmerl bemerkt dazu: „Genausowenig wie ein Zoo über ‚die Natur‘ der dort präsentierten Tiere etwas verrät …, sondern nur bestimmte Anschauungsbilder liefert, genauso wenig sagt die Frauen-Menagerie der Werber etwas über die Realität und die Verschiedenheit von wirklichen Menschenfrauen aus. Der Trick besteht darin, dies unsichtbar zu machen (und zu halten)“ (S. 284). Wie aber auf diese Flut von Bildern mit Gegenbildern antworten? Christiane Schmerl wählt daür einen kreativen Weg. Sie skizziert Biografien von Frauen und Männern, genauer: von Paaren – von damals wie heute – und zeigt damit eine große Variationsbreite (an Wegen und Irrwegen) auf. „Ähnliche wie auch unterschiedliche Strukturen bei diesen kreativen Paaren werden freigelegt und auf ihre Wirksamkeit für ein modernes Geschlechterverhältnis befragt, das – jenseits des einsamen Genies und seiner Muse – für beide Partner inspirierende Arbeitskonstellationen erschafft sowie gleichzeitig eine tragfähige begeisternde Partnerschaft ermöglicht“ (S. 13; Herv. i. O.). Der sechste Abschnitt schließt das Buch auf diese Weise mit einer fachlich wie persönlich hoffnungsvollen Perspektive. Auch hier zeigt sich der unumstößliche Grundsatz der Frauenbewegung: Das Private ist politisch!

Diskussion

Das Buch bietet neben dem großen und systematischen Bogen der Wissenschaft und Forschung durch, für und mit Frauen eine Reihe hervorragend recherchierter Details aus Theorie, Praxis und Forschung der Geschlechterthematik, die sich in einer Rezension keinesfalls umfassend darstellen lassen. Es stellt daher auch eine Fundgrube je eigener Anknüpfungspunkte auf dem langen Weg der Frauen in die Wissenschaft und in der Wissenschaft dar. Neben den sorgfältig rechrechierten Fakten hat das Buch dadurch auch ein Potenzial von Selbstverortung und Selbstvergewisserung für Frauen, die in irgendeiner Form – sei es in der Wissenschaft, jedoch auch in der Praxis – an dem Geschehen teilgehabt haben. Und ich würde hinzufügen: Auch für Männer, die, wie Christiane Schmerl das gekonnt ausdrückt, patriarchale „Mechanismen in Theorie und Praxis nicht mehr oder noch nie nötig hatten“ (S. 90). Dieser selbstreflexive Aspekt führt jedoch noch zu einer weiteren von der Autorin herausgearbeiteten Perspektive, die nicht nur für die feministische Bewegung, sondern vor allem für Wissenschaft und Forschung allgemein Bedeutung besitzt: In den Ausführungen von Christiane Schmerl wird deutlich, dass das Hinterfragen und Verändern des Wissenschaftsbetriebs und seiner Inhalte keineswegs mit der bloßen Aufdeckung differenter Inhalte zu androzentristisch geprägten Wissenschaftszweigen und Ergebnissen getan ist.

Der Anspruch auf Veränderung kann vielmehr nur vor dem Hintergrund einer anderen Grundhaltung und eines anderen Wissenschaftsverständnisses umfassend umgesetzt werden. In dieser dialogisch geprägten Haltung von Wissenschaft „ergibt sich, dass bei gleichen Erkenntnis- und Veränderungsinteressen Austauschprozesse über die sich überschneidenden Perspektiven möglich sind, die das Bild an Tiefenschärfe und Dreidimensionalität gewinnen lassen und die andererseits perspektivische Verkürzungen und optische Täuschungen eliminieren können“ (S. 109). Dieser Anspruch bedeutet auch, „Forschungsinhalte und Forschungsmethoden als Einheit zu verstehen, die vorhandenen Ziele und Motive der Forschenden offen zu legen und zu reflektieren, statt sie zu ignorieren, wegzuretuschieren oder abzustreiten“ (S. 106). Zur Herstellung dieses ‚dialogischen Wissenschaftsprinzips‘ erweist sich daher auch der Bezug zur – sonst häufig eliminierten – Praxis als erkenntnisförderndes Element. Christiane Schmerl zeigt dies an den Erfolgen der ersten und zweiten Frauenbewegung in Deutschland wie England auf, die auf vielen Ebenen fruchtbar geworden sind – man denke nur an die Debatte rund um das Thema Gewalt im sozialen Nahraum –, sich eventuell aber noch fruchtbarer hätten entfalten können, wenn solche Dialoge und Diskurse noch besser gelungen wären.

Auch aktuell ist es demnach immer wieder nützlich, sich einer dialogischen Streitkultur und Wissensfindung zu bedienen: Wenn z. B. im Ringen um die Differenzhypothese, Gleichheitshypothese und Konstruktionshypothese, die alle jeweils Vor- und Nachteile aufweisen, fruchtbare Konvergenzen und Divergenzen entstehen. Auf Basis dieser Überlegungen fügt die Autorin diesen drei Herangehensweisen noch ein vierte hinzu, die „dafür plädiert, von den derzeit zwei Geschlechtern, wie sie das breite Alltagsverständnis unserer Kultur vorgibt, zunächst zwar auszugehen, die aber auf die interne Erweiterung von Variationsbreite und Heterogenität beider Geschlechterbilder setzt“ (S. 177) – im Sinne eines Einlassens auf „plurale Identitäten“ (Perko, 2007; ursprünglich Arendt, 2002). Christiane Schmerl belegt diese These mit fünf illustrativen Beispielen aus der Geschichte und Literatur, wodurch eine große Zahl von Anknüpfungspunkten für eine breite LeserInnenschaft ermöglicht wird.

Fazit

Das Hinterfragen, Durchschauen und Aufdecken der Zusammenhänge in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und der zugehörigen Konstruktionen bot und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für den weiteren „Umbau der alten patriarchalen Familienformen“ (S. 8). Übertragen auf die soeben angesprochene Variationsbreite des ‚vierten Weges‘, den Christiane Schmerl vorschlägt, – im Sinne einer Heterogenität von Geschlechterbildern – würde dies die Entwicklung von „menschlichen Eigenschaften für beide Geschlechter“ (S. 177; Herv. i. O.) bedeuten. Dies allein ist jedoch noch nicht genug: „Nur wenn diese Lebensformen sich als ebenso angesehen und selbstverständlich behaupten können, werden auch die ideologischen Denkbarrieren zum Schutz der patriarchalen Familienformen in Wissenschaft, Kunst, Recht und Politik als überflüssig entfallen“ (S. 57). Konsequent zu Ende gedacht bedeuten diese Überlegungen jedoch im Resultat auch den Abschied von der feministischen Gesellschaftstheorie. Christiane Schmerls Vorgehen eröffnet auf diese Weise stetig neue Perspektivwechsel, die auch den eigenen Standort „als … neutralen, objektiven hinterfragen“ (Rommelspacher & Wachendorfer, 2008, 1344). „Das Projekt einer feministischen Gesellschaftstheorie kann dann nur das schrittweise Vorwärtsgehen im Begreifen sozialer Prozesse bedeuten“ (S. 126), sagt Christiane Schmerl. In jedem Falle aber hat sie mit diesem Buch einen gewaltigen Schritt in diese Richtung gemacht.

Literatur

  • Arendt, Hannah (2002). Denktagebuch 1950-1973. 2 Bände. München: Piper.
  • Hagemann-White, Carol (1984). Sozialisation: Weiblich – männlich? (Reihe: Alltag und Biografie von Mädchen, Bd. 1). Opladen: Leske + Budrich.
  • Perko, Gudrun (2007). Queer-Theorien: Dekonstruktion von Identitätspolitiken und das Modell der Pluralität. Philosophie der Psychologie – e-journal, 3(1 [Nr. 7]), Art. 7. Online verfügbar: http://www.jp.philo.at/texte/PerkoG1.pdf [31.08.2015].
  • Rommelspacher, Birgit & Wachendorfer, Ursula (2008). Interkulturelle Therapie. In Matthias Hermer & Bernd Röhrle (Hrsg.), Handbuch der therapeutischen Beziehung. Band 2: Spezieller Teil (S. 1337-1360). Tübingen: dgvt.

Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner
Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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Es gibt 23 Rezensionen von Silke Birgitta Gahleitner.

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ISSN 2190-9245