Sabine Hebenstreit-Müller (Hrsg.): Beobachten und Talente entdecken
Rezensiert von Lorena Rautenberg, 20.05.2016

Sabine Hebenstreit-Müller (Hrsg.): Beobachten und Talente entdecken. Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern in der Grundschule.
Dohrmann Verlag
(Berlin) 2016.
190 Seiten.
ISBN 978-3-938620-38-0.
D: 17,50 EUR,
A: 18,00 EUR.
Pestalozzi-Fröbel-Haus: Beiträge zur pädagogischen Arbeit des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, Band 17.
Thema
Das Buch „Beobachten und Talente entdecken. Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern in der Grundschule“ ist die Darstellung eines Pilotprojekts zwischen Mitarbeiterinnen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH) und Lehrkräften zweier Berliner Grundschulen, in dem eine modifizierte Form der ressourcenorientierten Beobachtung aus dem Elementarbereich, angelehnt an den Early Excellence Ansatz auf die Unterrichtssituation übertragen wurde. Das Buch wertet die Ergebnisse des Pilotprojekts aus und bietet Materialien an, an Hand derer ein ähnliches Projekt auch an anderen Schulen initiiert werden kann.
Herausgeberin
Sabine Hebenstreit-Müller: Sie ist seit 1999 Direktorin des PFH und seit 2009 Honorarprofessorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für den Bereich Kleinkindpädagogik. Seit 2000 wird im Pestalozzi-Fröbel-Haus unter ihrer Federführung das Early-Excellence-Konzept weiter entwickelt.
Entstehungshintergrund
Ende 2012 begannen zwei Berliner Grundschulen in Kooperation mit dem PFH, ressourcenorientiertes Beobachten auch im Unterricht zu erproben und damit auch den Kerngedanken des Early Excellence Ansatzes auf die Schule und den Unterricht zu übertragen. Das gemeinsame Anliegen war es, Schule zu einem Lern- und Lebensort weiterzuentwickeln und neu zu gestalten und auch die Eltern stärker in die Bildungsprozesse ihrer Kinder einzubeziehen. Projektidee war es herauszufinden, ob und was das Beobachten von Stärken und Kompetenzen von Kindern im Unterricht bewirkt, ob es einen Einfluss darauf gibt, wie die pädagogischen Fachkräfte in der Schule die Kinder wahrnehmen und ob eine veränderte Wahrnehmung auch Einfluss hat auf die Beziehung zwischen den Kindern und den Lehrkräften bzw. Erziehern. Auf Basis der Leuvener Engagiertheitsskala arbeiteten insgesamt fünf Lehrer-Erzieher-Tandems/Tridems an einer kontinuierlichen Entwicklung der Beobachtungsinstrumente, tauschten sich mit Ludo Heylen und Ivan Van Gucht aus und unternahmen zwei Studienreisen nach Belgien und in die Niederlande.
Aufbau
In sechs Kapiteln wird der Projektverlauf beschrieben:
- Early Excellence an der Grundschule (Sabine Hebenstreit-Müller). Dieses Kapitel mit dem Untertitel „Der Blick auf das individuelle Kind – wie eine veränderte Sichtweise und Haltung entsteht. Einblicke in ein Pilotprojekt an zwei Berliner Grundschulen“ beschreibt den Projektaufbau und ergänzt diesen in den Anlagen um den Beobachtungsablauf und die eingesetzten Beobachtungsmaterialien.
- Die schulpädagogische Sicht auf Beobachtungskompetenzen (Marianne Horstkemper). In Kapitel zwei mit dem Untertitel „Diagnostische Kompetenz und Professionalisierung in pädagogischen Berufen“ beschreibt Horstkemper, Professorin für Allgemeine Didaktik und empirische Schulforschung, die Leistung des Pilotprojekts für mögliche Entwicklung von Schule und dem Lehrberuf.
- Wohlbefinden und Engagiertheit beobachten. Dieses Kapitel teilt sich in drei Unterkapitel: Unter der Überschrift „Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit“ (Ludo Heylen, Ferre Laevers) beschreiben die Autoren wesentliche Indikatoren für Wohlbefinden und Engagiertheit und stellen die Entstehungsbedingungen vor. Im Teil „Scanning von Engagiertheit und Wohlbefinden in Berlin – Was pädagogische Fachkräfte daraus lernen können“ (Ludo Heylen, Ivan Van Gucht,) werden die Ergebnisse der Ausgangsbeobachtungen in den beiden Pilotschulen dargestellt. Der Abschnitt „Wir gucken jetzt: Wie machen wir es besser für das Kind – Ergebnisse der Projektauswertung“ (Marc Schulz, Kaja Kesselhuth) stellt die Phasen des Projekts von der Entwicklung und Durchführung der Beobachtung über die Feedbackgespräche bis hin zum Entwickeln und Durchführen eines individuellen Angebots dar.
- Talente im Rampenlicht. In insgesamt acht Beiträgen beschreiben die Autorinnen und Autoren Ilse Aerden, Joost Maes, Ivan Van Gucht, Ludo Heylen und Daisy Boonen die Bedeutsamkeit des Entdeckens von Talenten der Kinder, um deren Engagiertheit und Wohlbefinden zu fördern. Das Kapitel gibt in Auszügen aus der Broschüre „Talenten in de Kijker“ (Talente im Rampenlicht) Einblicke in die Arbeit mit dem Talente-Archipel.
- Von der Insel zum Archipel - Talente-Arbeit in den Berliner Pilotschulen. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren Ludo Heylen, Ivan Van Gucht, Markus Renner, Marc Schulz, Kaja Kesselhut stellen vor, wie der Leuvener Ansatz der Talente-Archipele für die Berliner Grundschulen modifiziert wurde und mit welchen Erfahrungswerten diese Methode im Alltag der Berliner Grundschulen umgesetzt wurde.
- Ein Konzept wird in lebendige Praxis verwandelt. Im letzten Kapitel des Buches skizzieren Kaja Kesselhut und Marc Schulz zusammenfassend den Projektverlauf.
Das Buch schließt mit der Vorstellung der Tandems / Tridems aus den beteiligten Grundschulen, der Vorstellung der Autorinnen und Autoren und einem Anhang mit einem Einblick in die Tagung am PFH zum Thema „Was macht einen guten Pädagogen aus?“ auf der über das Pilotprojekt berichtet wurde. Da im Buch aus paritätischen Gründen zum Zweck der besseren Lesbarkeit zwischen der männlichen und der weiblichen Form gewechselt wird, wurde diese Setzung auch in der Rezension übernommen.
Zu 1. Early Excellence an der Grundschule
Das erste Kapitel hat den Untertitel „Der Blick auf das individuelle Kind – wie ein veränderte Sichtweise und Haltung entsteht. Einblicke in ein Pilotprojekt an zwei Berliner Grundschulen“ und stammt aus der Feder von Sabine Hebenstreit-Müller. Aus der Anwendung des Early Excellence Ansatzes im Elementarbereich gibt es die Erfahrung, dass ein Beobachtungsverfahren, das durch einen positiven Blick und eine respektvolle Haltung gegenüber den Kindern geprägt ist, die Beziehung von Erzieherinnen zum Kind wesentlich beeinflusst und die Bildungsverläufe der Kinder prägt. Kinder im Grundschulalter wollen lernen. Das Vertrauen zum Lehrer und die Beziehung zur Lehrkraft sind ein wesentlicher Motivationsfaktor für die Kinder. Das in diesem Buch vorgestellte Pilotprojekt überträgt die ressourcenorientierte Beobachtung aus dem Elementarbereich auf die Unterrichtssituation und wird von Erziehern und Lehrern gemeinsam durchgeführt. Beide Seiten beobachten die Kinder und tauschen sich über ihre Beobachtungen aus. Die Leuvener Engagiertheitsscala wurde in Schulen erprobt und entwickelt, so wurde diese zur Grundlage der Beobachtungen dieses Projekts. Bereits vor Projektbeginn bestand eine Kooperation in Tandems / Tridems zwischen einer Lehrkraft der Grundschulen und einer pädagogischen Fachkraft; fünf dieser Tandems / Tridems führten das Projekt durch. Die Tandems/ Tridems wurden speziell für die Anwendung des Beobachtungsverfahrens geschult. In regelmäßigen Abständen gab es Reflexionstreffen, in denen die bisherigen Erfahrungen ausgewertet und die eigene Praxis überprüft wurde. Die Transkripte dieser Treffen wurden dann weiter in einer wissenschaftlichen Analyse ausgewertet. Durch den Einsatz der Beobachtungsmaterialien wurden rasch neue Sichtweisen auf die Kinder entwickelt, sowohl bei den Lehrkräften wie auch den pädagogischen Fachkräften. Als Antwort auf die Frage, wie aus den Beobachtungen resultierend eine individuelle Förderung der Kinder umgesetzt werden könnte (ähnlich dem individuellen Angebot, das im Elementarbereich aus den Beobachtungen resultiert) wurden verschiedene Wege ausprobiert.
Zu 2. Die schulpädagogische Sicht auf Beobachtungskompetenzen.
Das Kapitel hat den Untertitel „Diagnostische Kompetenz und Professionalisierung in pädagogischen Berufen“. Marianne Horstkemper, selbst Professorin für empirische Schulforschung, beschreibt darin die Leistung dieses Pilotprojekts als innovative Entwicklung einer ressourcenorientierten Diagnostik weg von dem defizitären Blick (Was kann ein Kind noch nicht?) hin zu der positiven Beobachtung seiner Interessen und Stärken (Was tut ein Kind von sich aus und mit einer hohen inneren Beteiligung?). Diese Beobachtung dient als Grundlage, um Lerngelegenheiten anzubieten, die ein Kind zum Lernen herausfordern. Weiterhin stellt Marianne Horstkemper dar, dass die Professionalisierung und Schulentwicklung durch interprofessionelle Kooperation fortschreiten. Eltern wünschen sich gerade auch im Ganztagsschulbereich eine stärkere individuelle Förderung ihrer Kinder und eine stärkere inhaltliche Verknüpfung von Schule und außerschulischen Kontexten. An genau diesen beiden Punkten setzt der Early Excellence Ansatz an. Dadurch, dass die eigene Tätigkeit beobachtbar und reflektierbar gemacht wird, findet eine Professionalisierung des Lehrberufs statt, die laut Baumert bisher in dieser Form noch aussteht. Auf dieser Basis findet dann eine Verknüpfung der unterrichtlichen mit den außerunterrichtlichen Angeboten statt, in der die enge Kooperation von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften einen Austausch über den Erfolg individueller Lerngelegenheiten und eine Fortführung der Interessen des Kindes in beiden Kontexten ermöglicht.
Zu 3. Wohlbefinden und Engagiertheit beobachten.
Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit (Ludo Heylen, Ferre Laevers) Die Autoren beschreiben vier Ziele, an denen der Erfolg von Schule gemessen werden soll. So soll Schule dazu beitragen, dass Kinder sich zu sozial-emotional stabilen Persönlichkeiten entwickeln, dass sie sich mit anderen verbunden fühlen und offen und respektvoll handeln, dass sie ihren Wissensdrang und ihre Neugierde erhalten bzw. sogar ausbauen und viertens dass sie das Vertrauen entwickeln, dass Probleme gelöst werden können und sie die Kompetenz dazu besitzen. Um diese Ziele zu erreichen, sind Wohlbefinden und Engagiertheit unerlässlich. Um Kinder verstehen und erkennen zu können, ob sie sich wirklich wohlfühlen und engagiert sind, müssen sich die Beobachter in das Erleben der Kinder hineinversetzen und die Botschaften erkennen, die das Verhalten der Kinder sendet. Indikatoren, an denen das Wohlbefinden eines Kindes abzulesen ist, sind im Folgenden näher beschrieben. Dazu gehören das Genießen von Situationen, spontan und man-selbst-sein-dürfen, Offenheit gegenüber Situationen, Entspannung und innere Ruhe sowie Vitalität. Das Achten der Grundbedürfnisse der Kinder ist ein weiterer Faktor für Wohlbefinden. Um das Wohlbefinden der Kinder erkennen und fördern zu können, ist die Haltung des Erwachsenen eine wesentliche Voraussetzung. Nur durch authentisches Handeln und den echten Wunsch, die Bedürfnisse der Kinder zu erkennen, können Erwachsene Kindern den Rahmen für Wohlbefinden schaffen und damit eine Grundvoraussetzung für ein ausgeglichenes, gleichgewichtiges sozial-emotionales Leben und eine positive kognitive Entwicklung. Das Kapitel stellt auch eine Beobachtungsskala für Wohlbefinden vor. Neben dem Wohlbefinden ist Engagiertheit der bestimmende Faktor für Erfolg im oben beschriebenen Sinn. Auch hier wird eine entsprechende Skala zur Einschätzung präsentiert. Indikatoren, die Engagiertheit zeigen, sind Konzentration, Ausdauer, Offenheit und Neugierde, intensive mentale Aktivität, Motivation, Energie und Zufriedenheit sowie Forschungsdrang. Um Engagiertheit und einen Flow-Zustand erfahren zu können, müssen sich Kinder an der Grenze der eigenen Möglichkeiten befinden und zwischen „schon können / begreifen“ und „noch nicht können / begreifen“ pendeln können. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der emotionalen (inneren) Engagiertheit und der funktionalen (extrinsisch motivierten) Engagiertheit. Auch für die Engagiertheit sind gerade in Bezug auf die Schule die Erwachsenen diejenigen, die den Rahmen schaffen, in dem Engagiertheit möglich wird. Hierzu werden sieben Faktoren benannt, an denen die Rahmenbedingungen überprüft werden können. Abschließend wird beschrieben, wie auch die Person der Lehrkraft in ihrem eigenen Handeln und ihrer eigenen Haltung dazu beiträgt, einen idealen Bezugsrahmen für Engagiertheit und Wohlbefinden zu schaffen.
Scanning von Engagiertheit und Wohlbefinden in Berlin – Was pädagogische Fachkräfte daraus lernen können (Ludo Heylen, Ivan van Gucht) Dieser Abschnitt von Kapitel drei berichtet über das Scanning zu Wohlbefinden und Engagiertheit, das an den beiden kooperierenden Grundschulen des Pilotprojekts durchgeführt wurde. Beim Scanning wurden durch Zufall bestimmte Kinder der jeweiligen Schulen mehrmals jeweils zwei Minuten lang durch externe Personen beobachtet. Das Wohlbefinden war an beiden Schulen auffallend hoch. Die Schulen widmeten dem Wohlbefinden der Kinder viel Aufmerksamkeit und setzen partizipatives Lernen im Alltag in Gemeinschaft von Kindern, Lehrkräften, Eltern und Erziehern um. Die Schulen lebten den Respekt gegenüber den Schülern und arbeiteten kontinuierlich daran, eine sichere Klassenatmosphäre zu schaffen und zu erhalten. Die Engagiertheit war in Relation zum Wohlbefinden geringer. Besonders beim Arbeiten mit der gesamten Klasse und bei Vorträgen war die Engagiertheit im mittleren Bereich. Dagegen lagen die Werte bei Projektarbeiten, beim Arbeitsplan, bei individueller Arbeit und beim praktischen Experimenten deutlich höher. Gearbeitet wurde auch mit der Methode des Screenings, der ein- bis zweiwöchigen Beobachtung und Einschätzung jeweils eines Kindes durch die Lehrkraft selbst.
„Wir gucken jetzt: Wie machen wir es besser für das Kind“ – Ergebnisse der Projektauswertung (Marc Schulz, Kaja Kesselhuth) Das letzte Unterkapitel startet mit einer Darstellung der Entstehung des Pilotprojekts und des Projektsettings. Die zentralen Entwicklungsschritte werden in nachfolgenden Abschnitt dargestellt. Es haben sich in den Auswertungsgesprächen insgesamt sechs Kernfragen herauskristallisiert. Diese bezogen sich auf die Voraussetzungen, die nötig sind, um effektiv und an den Interessen und Stärken der Kinder orientiert beobachten zu können, die Kriterien, nach denen die zu beobachtenden Kinder ausgewählt werden, auf die Situationen, in denen beobachtet werden soll, sie bezogen sich ferner auf die Nutzung der Beobachtung zur Gestaltung individueller Angebote und schließlich auf das Feedbackgespräch mit den Kindern. Schließlich wird die Frage gestellt, wie es gelingt, den positiven Blick auch gegenüber anderen Beteiligten zu vermitteln. Danach wird am Beispiel des Instruments der Leuvener Engagiertheitsskala, dem Zeitmanagement und dem Kriterium der selbst gewählten Tätigkeit als Beobachtungssituation der Prozess der Verfahrensanpassung und Übertragung in den Schulkontext beschrieben und anhand von zwei Fallbeispielen die zentralen Effekte des stärkenorientierten Beobachtungsverfahrens hin zur Entwicklung bildungs- und lernfördernder Angebote dargestellt. Auch die von pädagogischen Lehr- und Fachkräften registrierten Veränderungen in ihrer eigenen Wahrnehmung und Haltung den Schülern gegenüber werden beschrieben. Schließlich wird beschrieben, wie die Beobachtungsmethode für die Schule angepasst und umgesetzt wurde, wie im Anschluss das Feedbackgespräch mit den beobachteten Kindern durchgeführt wurde und wie aus den Beobachtungsergebnissen unter den schulischen Rahmenbedingungen ein individuelles Angebot entstand. Zu jeder dieser drei Phasen werden in einem eigenen Abschnitt auch die Erkenntnisse und weiterführende Ideen aus den Tandems / Tridems der Pilotklassen dargestellt. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der gemeinsame Entwicklungsprozess der Übertragung ursprünglich elementarpädagogischer Methoden aus dem Early Excellence Ansatz in den schulischen Kontext diese auch für den schulischen Alltag produktiv nutzbar machte.
Zu 4. Talente im Rampenlicht
Eine andere Sicht auf Talente (Ilse Aerden) Dieser Beitrag stellt dar, dass Talent nicht als eine ganz spezielle, in einem bestimmten Bereich über alle anderen herausragende Fähigkeit eines Kindes ist, sondern als die Begeisterung verstanden wird, mit der sich ein Kind einer bestimmten Tätigkeit widmet – unabhängig von der Fertigkeit, die es in dieser Tätigkeit erreicht hat. Die Grundprinzipien, mit denen die Lehrkräfte auf die Talente der Schüler eingehen, sind die positive und wertschätzende Sicht auf die Stärken und Kräfte des Kindes und die Befähigung der Kinder zur Selbstwirksamkeit, d.h. das Recht der Kinder selbst ihre Talente zu entdecken. Talent wird in diesem Sinn in einer komplexen, mehrschichtigen Bedeutung verstanden – Talent bezieht sich auf die multiplen Intelligenzen eines Kindes. Bei der Entwicklung von Talenten ist es wichtig, diese in dynamischen Denkmustern zu formulieren und den Fokus auf den Prozess des Tuns und die Momente der Engagiertheit zu lenken und damit die statischen Denkmuster, die das Ergebnis fokussieren und messen, in den Hintergrund zu stellen. Dies gilt analog auch für den Umgang mit Fehlern. Gelingt es, ein solches Denkmuster zu verankern, steigt die Motivation der Kinder und ein positives Selbstbild entsteht, die Grundlagen, um sich anzustrengen und zu lernen. Dies gilt in gleichem Maße auch für die Lehrkräfte und deren Chance, ihre Talente einzusetzen.
Talent durch Leidenschaft – „Du und deine lebhafte Zunge sind in einer wohlverdienten Pause“ (Joost Maes) Joost Maes beschreibt an Hand seiner eigenen Schullaufbahn, dass er mit den in der und von der Schule an ihn herangetragenen Erwartungen wenig anfangen konnte und sich mit seinen Talenten in der Schule nicht wiederfinden konnte.
Los geht´s mit dem Talente-Archipel – Konkrete Beispiele (Joost Maes) Dieses Kapitel stellt drei Beispiele vor, mit denen im Unterricht gearbeitet werden kann, um die Talente von Kindern zu entdecken und zu fördern. Das erste Beispiel beschreibt die Arbeit mit dem Talente-Planer, einem System, das den Kindern über ein Schuljahr hinweg in kleinen Gruppen neun verschiedene Lerninseln - „Archipele“ – zur Verfügung stellt, zu denen sie sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums Aktivitäten überlegen. Das zweite Beispiel beschreibt das Arbeiten mit dem Anfrageformular für Talente. Bei diesem System melden die Kinder ihre Beiträge zu einer von ihnen gewählten Lerninsel bei der Lehrkraft an und entscheiden ob und in welcher Form ihre Beiträge den anderen Kindern vorgestellt werden. Im dritten Beispiel wird der Talente-Archipel in Frei- und Kontraktarbeit vorgestellt. Hier wird eine Talente-Ecke eingerichtet, die die Kinder während bestimmter Zeiträume besuchen und dort frei ihre Lieblings-Lerninsel wählen können.
Unterricht rund um Talente: Verschiedene Möglichkeiten (Joost Maes) Dieser Beitrag stellt verschiedene Möglichkeiten vor, wie die Talente der Kinder und ihre Engagiertheit dokumentiert und bewusst gemacht werden können. So werden u.a. eine Talente-Liste, Talente-Berichte, Kreisgespräche und auch Selbstevaluation des Talente-Archipels beschrieben. Aber auch ein Talente-Tag für die Lehrer, klassenübergreifende Ateliers auf der Grundlage der Talente der Lehrer und das Einbeziehen der Talente von Eltern werden in diesem Abschnitt dargestellt.
Eine Talente-Geschichte mit Inspiratiebubbels (Ivan Van Gucht) Der Titel bezieht sich auf das Buch „60sprudelnde Ideen für die Talententwicklung“. Die einzelnen Ideen-Karten haben die Form von Kreisen (Bläschen). Mit Hilfe dieser Karten gestalteten die Kinder ein Talente-Weihnachtsfest völlig selbständig. Das Kapitel beschreibt beispielhaft einige ihrer Präsentationen.
Kinder und ihre Talente – eine Untersuchung (Ludo Heylen) In einer Untersuchung wurden 186 Kinder anhand des Talente-Archipels befragt. Gleichzeitig wurden 1500 Schüler schriftlich zu ihrem Freizeitverhalten befragt. In den Interviews war das Ziel herauszufinden, wie Kinder eine Situation erlebt haben. Die Abneigung gegen eine bestimmte Lerninsel geht in den Interviews oft auch mit einer geringen Fertigkeit in dem speziellen Lernbereich einher. Die Fragebogenauswertung zeigt, dass Kinder jedoch auch angeben, in bestimmten Bereichen gut zu sein, diese jedoch nicht gern aufzusuchen.
Die Kraft eines Kompliments (Daisy Boonen) Bei der Arbeit am Talente-Archipel kann die Aktivität der Kinder weiter angeregt werden, wenn die Lehrkräfte sich der Bedeutung und dem Einfluss von Komplimenten bewusst sind. Dabei unterscheidet man zwischen zwei Arten von Komplimenten: Den Eigenschaftskomplimenten, die eine feste Denkart einschließen und dem Prozesskomplimenten, die eine variable Denkart kennzeichnen und eine Anstrengung oder Vorgehensweise loben. Das Geben von Komplimenten wirkt dabei positiv, sowohl, wenn sie von der Lehrkraft kommen wie auch wenn sie von den Schülern untereinander kommen. Die Prozesskomplimente wirken motivierender als die Eigenschaftskomplimente.
Die neun Inseln im Talente-Archipel (Ilse Aerden) Das Talente-Archipel hat neun Inseln, wovon jede auf einen Entwicklungsbereich Bezug nimmt, in dem Kinder ihre Talente entwickeln können. Die Auswahl der neun Entwicklungsbereiche basiert auf den Kompetenzen aus dem prozessorientierten Beobachtungssystem und der Vision von fundamentalem Lernen. Dieser Abschnitt gibt Anregungen, wie die einzelnen Talente-Archipele gestaltet werden können, um die Kinder zu Eigentätigkeit und Gestaltung der jeweiligen Inseln anzuregen. Die neun Archipele sind die Denk-Insel, die Welt-Erkundungs-Insel, die Gemeinschafts-Insel, die Sprach-Insel, die Kunst-Insel, die Musik-Insel, die Geschicklichkeits-Insel, die Bewegungs-Insel und die Will-und-trau-mich-Insel.
Zu 5. Von der Insel zum Archipel - Talente-Arbeit in den Berliner Pilotschulen
Zur Arbeit mit dem Talente-Archipel im Unterricht (Ludo Heylen, Ivan Van Gucht) Der Talente-Unterricht verstärkt und setzt fort, was Kinder schon können und für sich als bedeutsam erleben. Damit fokussiert dieser Unterricht die Stärken der Kinder und berücksichtigt die Denkweise, dass Talent etwas ist, das sich im Tun äußert anstatt im Grad der Beherrschung einer bestimmten Sache.
Bericht zur Arbeit mit dem Talente-Archipel (Markus Renner) An einer der Pilotschulen wurde die Talentezeit wöchentlich mit zwei Schulstunden im Stundenplan verankert. Die Kinder arbeiten in diesen zwei Stunden an ihrem selbstgewählten Projekt und präsentieren es nach Abschluss der Klasse und ggf. auch den Eltern. Es gibt kein Zeitlimit zur Arbeit am Talente-Archipel. Ein neues Thema wird über einen Talenteplaner angemeldet. Dieser wird mit einer Lehrkraft besprochen und von den Eltern unterschrieben. Die Eltern werden regelmäßig über die Arbeit informiert und einbezogen, so dass sie die Kinder auch zu Hause unterstützen können. Die Erfahrungen mit dieser Methode zeigen, dass die Kinder dadurch besser ihre Talente erkennen und sehr motiviert und engagiert arbeiten. Auch der Austausch Schule / Familie hat sich intensiviert.
Talente entdecken und ihnen Raum geben – wie ein Konzept aus Belgien auf deutsche Schulen übertragen werden kann (Marc Schulz, Kaja Kesselhut) Nach zwei Studienreisen nach Leuven wurden die Eindrücke und Methoden für den Einsatz im deutschen Schulsystem betrachtet und im Prozess konzeptionell weiterentwickelt. Mit der Individualisierung des Unterrichts ging eine Veränderung des Verständnisses der Schülerrolle und der Lehrerrolle einher. Schüler werden zum aktiven Gestalter ihrer Lernprozesse, die Lehrer übernehmen die Begleitung. Dabei gewinnt die Fähigkeit zur Beobachtung an Bedeutung. Die für den Einsatz in Berlin entwickelten neun Archipele sind die Sprach-Insel, die Gestaltungs-Insel, die Musik-Insel, die Bewegungs-Insel, die Fein-und-Genau-Insel, die Gemeinschafts-Insel, die Welt-Insel, die Denk-Insel und die Ich-möchte-und-traue-mich-Insel. Dabei bestimmen die Kinder die Aktivitäten auf den einzelnen Inseln und gestalten auch deren Namensgebung mit. Die Arbeit an den Talente-Inseln beginnt mit der Selbstzuordnung der Kinder zu einer Insel. Im Rahmen der Insel-Besuche entwickelten sich viele Projekte schließlich zu Gemeinschaftsprojekten. Eine Frage ist, ob die Kinder verpflichtet werden sollen, alle Inseln mindestens einmal zu besuchen, oder ob es in Ordnung ist, wenn sie lange auf ihrer Lieblingsinsel verweilen und dafür nicht alle Inseln besuchen können. Dies beschreibt auch das grundsätzliche Dilemma zwischen dem Auftrag an die Lehrkräfte, auch Anreize zu setzen und zu steuern und dennoch auf die Eigentätigkeit des Kindes zu vertrauen. Die Übertragung in den Ganztag stößt an strukturelle Hindernisse, da die Rhythmisierung des Ganztags im Wechsel von Unterricht zu Freizeit und wieder zu Unterricht kaum gegeben ist, die Kinder aber sehr klar unterscheiden, dass die Talente-Archipele für sie in die Unterrichtszeit und nicht in den eher sozialpädagogisch strukturierten Nachmittag gehören. Es gelingt über die Talente-Inseln, die Eltern zu Mitreisenden auf den Archipelen zu machen und sie mit dem Schultag enger zu verknüpfen. Die Arbeit an einer Talente-Insel schließt immer mit einer Präsentation des Projekts für die Klassengemeinschaft. Auch hier muss geschickt geplant werden, damit alle Themen innerhalb eines Schuljahres präsentiert werden können, zugleich jedoch nicht zu viel Zeit für Unterricht oder Talente-Arbeit verloren geht.
Materialien zum Talente-Archipel. In diesem Abschnitt des Buches werden sowohl Informationsmaterialien für Eltern zu den Talente-Archipelen vorgestellt als auch die neun Inseln genauer beschrieben sowie die Talente-Planer für die Kinder dargestellt.
Zu 6. Ein Konzept wird in lebendige Praxis verwandelt
Das Kapitel hat den Untertitel „Das „Early Excellence“ Pilotprojekt an Berliner Ganztagsgrundschulen - ein Kommentar aus wissenschaftlicher Perspektive“ und wurde von Kaja Kesselhut und Marc Schulz verfasst. Der Projektverlauf wird als ein Bottom-up-Prozess beschrieben, der bestehende Konzepte aufgreift und modifiziert. Die transkribierten Protokolle der Auswertungssitzungen wurden unter zwei Aspekten ausgewertet: Welche pädagogisch-praktischen Herausforderungen werden thematisiert? und: Welche praktischen Lösungen werden entwickelt und erprobt? Es geht in der Auswertung demnach um das Nachzeichen des Prozesses. Das Projekt entwickelte zwei Schwerpunkte, die Beobachtung und das Talente-Archipel. Ein wesentlicher Aspekt war die Blickveränderung der Lehrkräfte hin auf das einzelne Kind und auf das eigene professionelle Handeln. Anders als im EEC Ansatz vereinbarten die Lehr- und Fachkräfte, dass im Schulkontext Situationen beobachtet werden sollten, in denen die Schülerinnen Engagiertheit zeigen. Würden nur selbstgewählte Tätigkeiten zur Beobachtung genutzt, würden viele Aktivitäten des Schultages als Beobachtungsmöglichkeiten wegfallen. Die Vorgabe, dass die Stärken der Schüler beobachtet werden sollten, ermöglichte den Lehrkräften einen facettenreicheren Blick auf die Schülerinnen. Es wurde deutlich, dass Stärken keine Wesenseigenschaften sind, die sich überall zeigen, sondern dass sie sich in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich darstellen können. Daraus resultiert ein Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Grade von Engagiertheit und Aktivität: Die Situation ermöglicht es, dass dieser Schüler sich einbringen / weniger einbringen kann. Daraus ergibt sich der Auftrag an die Lehrkräfte, situativ verschiedene Möglichkeiten zu schaffen, in denen Schülerinnen sich beteiligen können. Im Pilotprojekt wurde auch vereinbart, dass zu den Präsentationen der Talente-Archipele keine Leistungsbewertungen im klassischen Sinn abgegeben werden, sondern die Schüler ein Feedbackgespräch mit interessierten Nachfragen und individuellen Rückmeldungen erhalten. Diese Form der Rückmeldung stellte für die Lehrkräfte eine besondere Herausforderung dar. Das Pilotprojekt zeigt Alternativen, wie mit und für Schülerinnen vielfältige Lernmöglichkeiten geschaffen werden. Diese Wege sind gerade für inklusiven Unterricht von besonderem Interesse.
Diskussion
Das Buch „Beobachten und Talente entdecken“ hatte nicht die Absicht, die Vorlage für eine flächendeckende Übertragung des Pilotprojekts auf deutsche Schulen zu liefern. Es zeigt jedoch, was möglich ist, wenn sich Tandems finden, die diesen Weg ausprobieren. Da eine Beobachtung wie im Buch geschildert jedoch (noch) keinen Eingang in die Ausbildung von Lehrkräften oder in die schulischen Curricula gefunden hat, ist der Einsatz einer solchen Beobachtung immer an zeitliche Grenzen gebunden. Die Haltungsveränderung bei den Lehr- und Fachkräften ist jedoch so wesentlich, dass immer ein Mehrwert mit dem Verfahren verbunden ist, selbst dann, wenn es aus zeitlichen Gründen nicht möglich sein sollte, alle Kinder einer Klasse zu beobachten. Inhaltlich liefert das Buch interessante Denkanstöße, wie Elementarpädagogik und Schule enger miteinander verknüpft werden können, konsistente Bildungsverläufe der Kinder ermöglicht werden und auch die Eltern eng eingebunden werden können. Die Lesbarkeit des Buches ist bisweilen etwas langatmig, da es auf Grund der verschiedenen Beiträge inhaltliche Dopplungen der einzelnen Texte gibt. Auch ist die Verknüpfung mit dem Early Excellence Ansatz besonders bei der Beschreibung der Talente-Arbeit in Kapitel 4 und 5 nur für diejenigen Leser klar erkennbar, die bereits fundiertes Wissen in diesem Bereich mitbringen.
Fazit
„Beobachten und Talente entdecken - Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern in der Grundschule“ ist eine Bereicherung für alle, die sich mit dem Übergang von Kindertageseinrichtung in die Schule und die Hort- bzw. Ganztagsbetreuung beschäftigen. Das Buch gibt wunderbare Denkanstöße, wie die Bildungs- und Lerngeschichten von Kindern auch im schulischen Kontext von den Schülerinnen und Schülern selbsttätig gestaltet werden, wenn die Lehrkräfte den Rahmen dazu schaffen und selbst ebenfalls die Gelegenheit erhalten, sich hier zu erproben. Der Ansatz, das Beobachtungssystem aus dem Elementarbereich für den Schulalltag übertragbar zu machen, könnte eine bahnbrechende Weichenstellung werden. An manchen Stellen wäre es schön gewesen, den Bezug zum Kern des Early Excellence stärker herauszustellen.
Rezension von
Lorena Rautenberg
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Es gibt 32 Rezensionen von Lorena Rautenberg.
Zitiervorschlag
Lorena Rautenberg. Rezension vom 20.05.2016 zu:
Sabine Hebenstreit-Müller (Hrsg.): Beobachten und Talente entdecken. Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern in der Grundschule. Dohrmann Verlag
(Berlin) 2016.
ISBN 978-3-938620-38-0.
Pestalozzi-Fröbel-Haus: Beiträge zur pädagogischen Arbeit des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, Band 17.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20498.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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