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Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 10.05.2016

Cover Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch ISBN 978-3-7799-3345-8

Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 440 Seiten. ISBN 978-3-7799-3345-8. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,30 sFr.

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Autor

Jürgen Oelkers (https://de.wikipedia.org/wiki/Jürgen_Oelkers) ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler, der zuletzt, seit 1999 bis zu seiner Emeritierung, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich war. Bekannt wurde er den an der Reformpädagogik Interessierten durch sein Buch „Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte“ (2005). Es hat daher keine(n) Informierte(n) verwundert, dass er nach den Anfang 2010 nun endlich von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommenen Missbrauchsfällen an einer, wenn nicht der bedeutsamsten Vorzeigeinstitution der Reformpädagogik, der Odenwaldschule in Ober-Hambach (kurz OSO), die Frage stellte: „Was bleibt von der Reformpädagogik“? Seine Antwort war zu erwarten: eine geplatzte Illusionsblase (Oelkers, 2010).

Mit „Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik“ hat er 2011 ein Buch vorgelegt, aus dem manches Material in das vorliegende eingeflossen ist. Als bloße Vorstudie kann man das Buch von 2011 aber nicht bezeichnen; es hat seinen eigenen Wert (vgl. Brumlik, 2011). Was er neuerdings (Februar 2016) zur Sache zu äußern hat, ist in einem im Internet verfügbaren (www.zeit.de/2016/komplettansicht) Interview mit der ZEIT-Autorin Jeanette Otto nachzulesen; eine ideale Einstiegslektüre für das vorliegende Buch.

Jürgen Oelkers war nicht der einzige Pädagoge, der sich 2010 schnell und klar zur Sache äußerte. Einer der Nestoren der deutschen Sozialpädagogik, Hans-Uwe Otto (2010), hat damals in der neuen praxis in einem Kommentar (Online verfügbar unter www.verlag-neue-praxis.de/wp-content/) erklärt: „Es ist etwas naiv anzunehmen, dass es sich hierbei nur um zeitlich begrenzte Irrlichter im Erziehungsgeschehen handelt. Nicht nur eine öffentliche, sondern auch eine fachliche Diskussion ist daher zwingend notwendig.“ (Otto, 2010, S. 108) Der Rezensent hat für das Gebiet der Erlebnispädagogik, der er sich zurechnet, in der Zeitschrift erleben&lernen zwei Beiträge zu einer solchen Fachdiskussion geleistet: „Die Reformpädagogik und die Missbrauchsdebatte“ (Heekerens, 2010) und „Beziehungsgestaltung in der Erlebnispädagogik“ (Heekerens, 2012). Mit dem Interesse, welche Lehren aus der „OSO-Affäre“ die deutsche Sozial- und Erlebnispädagogik zu ziehen habe, wurde das hier zu rezensierende Buch gelesen.

Thema

Im Zusammenhang einer Artikelserie anlässlich des siebzigjährigen Bestehens der ZEIT gab es auch ein Streitgespräch zwischen der jetzigen Leiterin der Hamburg-Seiten, Charlotte Parnack (33), und dem ehemalige Chefredakteur Theo Sommer (85) über die gewandelten Sitten in der ZEIT-Redaktion (Online einsehbar unter www.zeit.de/2016). Aus diesem Gespräch sei nachfolgende Passage zitiert:

Parnack: Nahm man sich in so kleiner Runde auch leichter mal in Schutz? Im Jahr 1998 [korrekt ist 1999], als Sie nicht mehr Chefredakteur waren, deckte die Frankfurter Rundschau auf, was einer Ihrer Autoren, Hartmut von Hentig [bedeutsamster Förderer und lebenslanger Freund Gerold Beckers], bereits in den achtziger Jahren über die skandalösen Vorgänge an der Odenwaldschule [die Pädokriminalität Gerold Beckers und anderer] wusste. Die ZEIT veröffentlichte damals nichts über die Vorwürfe der Pädophilie, man ist auf das Thema gar nicht eingegangen.

Sommer: Wir hielten das alles noch für unbewiesen, und das war es auch. Außerdem war Hartmut von Hentig nicht nur Autor. Während des Krieges hatte er vier Jahre lang auf dem Gut von Marion Dönhoff [1968-1972 Chefredakteurin der ZEIT, ab 1973 in deren Herausgeberkreis] in Ostpreußen gelebt, er war ihr persönlicher Freund.

ZEIT: Dass von Hentig ZEIT-Autor wurde, weil er früher auf Marion Dönhoffs Gut gelebt hatte, belegt doch die verhängnisvolle Nähe.

Sommer: Nein, Hartmut von Hentig hat ja nicht als Freund geschrieben, er war damals noch ein anerkannter Reformpädagoge. So weit ging die Freundschaft nie, dass man einen schlechten Artikel gedruckt hätte.

Parnack: Die Freundschaft ging offenbar so weit, dass dadurch Pädophilie gedeckt wurde.

Sommer: Ach, Marion ist seit 2002 tot, und ich kann nicht sagen, was sie damals wirklich wusste. Man muss aufpassen, dass man das heutige Wissen nicht zurückprojiziert in eine Zeit, in der man von vielem noch keine Ahnung haben konnte.“

Marion, „die Gräfin“, hatte bekanntlich „ihre Jungs“ im Griff. Es ist wahr: Nachdem im Spätjahr 1999 die Pädokriminalität Gerold Beckers erstmals publik gemacht wurde (Artikel in der Frankfurter Rundschau) griff kein einziges deutsches Leitmedium das auf. Wahr ist aber auch, dass keines dieser Leitmedien über Gerold Beckers Päderastie besser informiert sein konnte als DIE ZEIT. Weshalb auch sie schwieg, dürfte verschiedene Gründe haben. Einer liegt wohl darin, dass sie Teil der „protestantischen Mafia“ (Dahrendorf, 1997) war, die Gerold Becker protektionierte, d. h. nach Kräften förderte und im Bedarfsfalle schützte.

Jürgen Oelkers benutzt den Begriff „protestantische Mafia“ nicht, aber er hebt klar hervor, dass wir das „Phänomen“ Gerold Becker nicht verstehen können, wenn wir nicht auf dessen Kontexte schauen: „Im Zentrum meiner Darstellung steht Gerold Becker, aber ohne ein Leben in Netzwerken hätte er seine Karriere nicht machen können. Was ich vorlege, ist keine Biographie im engeren Sinne, sondern die Analyse der Stationen und Wege eines Mannes, der alles getan hat, dass man ihm nicht auf die Schliche kommt, und der immer großes Verständnis gefunden hat. Die Frage ist, wie das möglich sein konnte und warum niemand einen Verdacht hatte oder ihm nachging. Becker hatte Zugang zur deutschen Elite, war ein gefragter Publizist mit Meinungsmacht und wusste an jedem Ort seiner Karriere, wie er sich zu seinem Vorteil verhalten muss.“ (S. 11)

Aufbau und Inhalt

Das sind Sätze aus dem Vorwort, in dem der Autor auch erklärt, worauf seine Darstellung basiert: „auf Quellenstudien, der Konsultation von Archiven und vor allem Gesprächen mit Zeitzeugen“ (S. 10), wozu auch Gerold Beckers Opfer zählen. Dort benennt er auch seine Motivation: „Was mich veranlasst hat, ein Buch über Gerold Becker, seine ‚Karriere’ und sein Umfeld zu schreiben, ist nicht die im Zusammenhang mit dem Skandal an der Odenwaldschule oft gehörte Frage: ‚Was bleibt von der Reformpädagogik?’ Diese Frage ist falsch gestellt. Worum es geht, ist etwas anderes, nämlich warum unter dem Deckmantel der Reformpädagogik oder unter Berufung auf den ‚pädagogischen Eros’ geschehen konnte, was in diesem Buch beschrieben wird.“ (S. 12) Ob bestimmte Beiträge zum Thema die nach Autorenmeinung richtige oder falsche Frage stellen und verfolgen, können interessierte Leser(innen) anhand zweier neuerer Publikationen (Andresen, 2015; Miller & Oelkers, 2014) zu beurteilen suchen.

In der Einleitung (Kapitel 1)wird das leitende Erkenntnisinteresse entfaltet und mit Akteur(inn)en in Beziehung gebracht. Das Kapitel endet mit dem Absatz: „Aber um pädagogischen Realismus ging es gerade nicht. Die Verhältnisse sollten herausgefordert und auf den Kopf gestellt werden, von entschlossenen Moralisten, die sehr bald Zugang zu staatlichen Geldquellen fanden und sich ihre eigenen Spielwiesen schaffen konnten. Und ihr Programm war attraktiv: Die neue Erziehung sollte im Kern der Veränderung der Gesellschaft dienen, was noch einmal einer linken Reformpädagogik Auftrieb verliehen hat. Die Frage ist, ob sich das mit dieser Geschichte [dem OSO-Skandal] erledigt hat, denn welche Legitimität hat eine solche Pädagogik, wenn sie in der entscheidenden Situation versagt? Sie hat die Täter geschützt und nicht die Opfer.“ (S. 19-20)

Die hier eingeführten Akteure sind ausgezeichnete Networker und besetzen Knotenstellen jenes Netzwerkes, ohne das Gerold Becker seine Pädokriminalität so lange, so intensiv und selbst am „heiligen Ort“ der OSO nicht hätte ausagieren können. Die Rede ist von dem schon oben genannten Hartmut von Hentig (https://de.wikipedia.org/wiki/Hartmut_von_Hentig) und dem 12 Jahre älteren Hellmut Becker ((https://de.wikipedia.org/wiki/Hellmut_Becker); ohne Hellmut Becker wäre Hartmut von Hentig nicht zum lange glänzenden Star der deutschen Pädagogik aufgestiegen und ohne Hartmut von Hentig hätte Gerold Becker seine Doppel-„Karriere“ als Pädagoge und Päderast weitaus weniger erfolgreich betreiben können.

In Kapitel 2 Der unbekannte Gerold Becker unternimmt der Autor den Versuch, uns Gerold Becker in seinem Gewordensein näher zu bringen. Es ist der erste Versuch einer (Fremd-)Darstellung eines Mannes, der – ein typisches, weil überlebenswichtiges Merkmal von Päderasten – sich zeitlebens hinter vagen Andeutungen verborgen und andere gekonnt davon abzuhalten wusste, irgendwelche Fragen nach der Lebensgeschichte zu stellen. Der Mann, der nie müde wurde vom Segen der Aufklärung (für wen auch immer) zu schwärmen und dafür stets beglückte Zuhörer(innen) fand, war in eigener Sache einer der besten „Verdunkelungsmänner“.

Die Überschrift des 3. Kapitels Die Geburt des Pädagogen kann man, Friedrich Nietzsche variierend, in „Die Geburt des Pädagogen aus dem Geiste der Alternativpädagogik“ erweitern. Hier wird die Frage behandelt, wie der nur mit einem 1. Kirchenexamen (gleichwertig einem Fakultätsabschluss) versehene Theologe Gerold Becker angesehen werden konnte als der „größte Pädagoge der Gegenwart“, wie das Hartmut von Hentig am 12.3.2010 in der Süddeutschen Zeitung (S. 3) formulierte. Dessen damalige Bemerkung mag man als die zu vernachlässigende Ansicht eines aus einsichtigen Gründen Uneinsichtigen bewerten. Aber er hat nur formuliert, was viele Pädagog(inn)en zumindest bis Dezember 2009 von Gerold Becker hielten. Andere mochten ihm die Spitzenstellung nur neben Hartmut von Hentig und im gleichen Range zugestehen, aber selbst für ganz „kritische“ gehörte er selbstverständlich zum Personal des pädagogischen Olymps.

„Becker hat offenbar schnell begriffen, wie man auch anders als Pädagoge vorankommen kann, ohne Titel und ohne Forschungsleistung, aber mit einem verlässlichen Netzwerk hinter sich, das sich neuen Situationen anpassen ließ. Seine Karriere war die eines pädagogischen Rhetorikers, der zu vielen Themen etwas zu sagen wusste und immer mit der richtigen Moral Eindruck zu machen verstand. Wirkliche Expertise und ertragreiche praktische Problemlösungen waren von ihm als Autor kaum zu erwarten, obwohl er geschickt genug war, immer genau diesen Eindruck zu erwecken.“ (S. 150)

Seine Jahre als Lehrer und Schulleiter an der OSO werden im 4. Kapitel betrachtet. Dass jemand ohne pädagogische Ausbildung das werden konnte und in vielen Fällen auch faktisch wurde, liegt an Besonderheiten des Privatschulrechts; Hauptsache, sie oder er hat die „richtige Gesinnung“ – und die richtigen Beziehungen. Die im vorliegenden Falle wichtigste Beziehung war die zu Hellmut Becker; die beiden sind nicht (in familienrechtlichem Sinne) verwandt, wohl aber Brüder im Geiste. Hellmut Becker hat sowohl dafür gesorgt, dass Gerold Becker an die OSO kam, als auch dafür, dass er von dort abgezogen wurde, als dessen Pädokriminalität zu einer Gefährdung der OSO – nicht etwa der Schutzbefohlenen! – wurde. Man ahnt: Hellmut Becker war ein einflussreicher Mann; und das war er in der Tat.

Er hatte eine Biographie, die man gemeinhin „schillernd“ nennt, als er, der sich gegen gutes Geld erfolgreich für die Stärkung der Privatschulen eingesetzt hatte, im Jahre 1961 Mitbegründer des seit 1963 operativ tätigen Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung war und dessen erster Direktor wurde – ohne Promotion und einschlägige Ausbildung; er war Jurist. Er hatte eine gute Verbindung zu Richard von Weizäcker, 1984-1994 Bundespräsident und bis 1984 Mitglied im Förderverein der OSO, dessen Vater von Hellmut Becker bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verteidigt worden war. Richard von Weizäcker hatte einen Sohn Andreas, der lange Jahre Schüler an der OSO und dort der „Günstling“ gleich zweier Päderasten war. Seit Ende der 1950er verband ihn eine Freundschaft mit Marion Gräfin Dönhoff, die ihrerseits (s.o.) seit Weltkrieg II-Zeiten mit Hartwig von Hentig befreundet war. Dies zur Illustration dessen, was mit „protestantische Mafia“ gemeint ist. Wie Hellmut Becker sich zu der ihm bekannten Pädokriminalität an der OSO verhielt, zeigt sich daran, dass er dieser selbst dann nicht Einhalt gebot (er und wohl nur er hätte das damals gekonnt), als sein Patensohn deren Opfer und ihm dies bekannt wurde.

Damit ist das Netzwerk sichtbar geworden, das Gerold Becker sein pädokriminelles Handeln an der OSO ermöglichte und absicherte. Natürlich erwartete man Gegenleistungen. Aber nicht solche, die man gemeinhin an einen Lehrer und Schulleiter stellt – in beiden Bereichen kann seine Leistung nur als „mangelhaft“ bewertet werden. Aber in einem Punkte, und da ging Hellmut Beckers Rechnung auf, war er exzellent: „Gerold Becker wurde zum blendenden Verkäufer der Schule, der sich in den deutschen Medien immer wieder gut platzieren und mit ihrem Ruf auch ihren Nachfragewert immens steigern konnte.“ (S. 165) Er war ein ebenso blendender Hochstapler wie ein gekonnt hochstapelnder Blender.

In Kapitel 5 wird Der rätselhafte Abgang Gerold Beckers von der OSO, wo er seit 1969 tätig war, zuletzt seit 1972 als Schulleiter, betrachtet. Der Abgang datiert auf das Jahr 1985, dem Jahr, in dem Hartmut von Hentig 60 und die OSO 75 Jahre alt wurde. Hellmut Becker hat Gerold Beckers Kommen in die OSO betrieben, weil der finanziell versorgt werden musste, und ebenso – aus Sorge um den Ruf der Schule angesichts der nicht mehr verstummenden Gerüchte über dessen pädokriminelles Treiben – dessen Weggehen.

Eine Gruppe von „Pädokriminellen“ ist das 6. Kapitel überschrieben. Gerold Becker war nicht der einzige Pädokriminelle an der OSO: „Die Odenwaldschule war über Jahrzehnte ein Hort von ‚Pädokriminellen’“ (S. 309). Und sie hat aus dieser Erkenntnis offensichtlich keine Lehren gezogen, weshalb deren Schließung nur bedauern kann, wer Anderes höher stellt als das Kindeswohl. Ich zitiere nachstehend aus dem Spiegel-Artikel „Diskretion für den Pädobär“ vom 19.5.2014 (online verfügbar unter www.spiegel.de/spiegel):

„Entsetzt zeigen sich die Behörden [verschiedene (süd-)hessische] auch über das Krisenmanagement der Schule. Spätestens seit Mai 2013, das geht aus internen Unterlagen hervor, wusste die Schulleitung von Pädophilie-Vorwürfen gegen einen inzwischen entlassenen Mathematiklehrer. Eine Schülerin hatte geschildert, wie dieser Lehrer sich auf einer Klassenfahrt im Zelt zwischen Schüler gelegt und sich auch sonst auffällig verhalten habe. Der Fall wurde nicht, wie vorgeschrieben, den Aufsichtsbehörden gemeldet. Stattdessen bekam die Schülerin sogar Ärger. Als sie sich wenige Tage später mit einer Lehrerin zum Tennis verabreden wollte, habe diese zu ihr gesagt: ‚Ich spiele nicht mit Schülern, die Lehrer mobben.’ So steht es in einem internen Bericht, den die Präventionsbeauftragte der Schule kürzlich den Behörden übergab.

Dieselbe Lehrerin soll nach den Recherchen der Präventionsbeauftragten zugelassen haben, dass jener Mathe-Lehrer – an der Schule als ‚Pädobär’ bekannt – einen damals zwölfjährigen Jungen in dessen Zimmer besucht und mit ihm ‚gemeinsam im Wald übernachtet’ habe. All dies, schimpft ein Verantwortlicher der Kreisverwaltung, ‚hätten wir nie erfahren, wenn die Staatsanwaltschaft nicht im April einen Tipp [von australischen Behörden!] bekommen und die Räume des Lehrers auf Kinderpornografie durchsucht hätte’. Der Lehrer hat den Besitz des Materials inzwischen zugegeben.“

In vorliegenden Kapitel werden auch erste Antworten (mehr davon im nächsten Kapitel) auf die beiden Fragen gegeben, die sich mir als Sozialarbeitsprofessor und Familientherapeuten nach den ersten Medienberichten des Jahres 2010 aufdrängten: Wo waren die Eltern, wo waren die Jugendämter? Von Jugendamtsseite kamen rund ein Drittel aller Schüler an der OSO; einmal dorthin „verbracht“ kümmerten sich die zuständigen Jugendämter offensichtlich so gut wie gar nicht um die ihnen Anvertrauten. Von sexuellem Missbrauch an der OSO wollen sie nichts gewusst haben; das ist glaubwürdig: man muss nur Augen und Ohren kräftig verschließen.

Und die Eltern? Viele Opfer, für die das Sorgerecht bei den Eltern lag, kamen aus Familien, in denen sie nicht gelitten waren (meist deswegen waren sie ja in der OSO), oder deren Eltern kein Ohr für ihr mit Scham besetztes Klagen hatten. Und fand ein Kind mal ein offenes Ohr, konnte Folgendes geschehen: „Ein Junge hat seiner Mutter von den lange zurückliegenden Vorfällen [Gerold Beckers sexuelle Übergriffe] berichtet und sie eingeweiht. Die Mutter sagte ihm: ‚Du stehst kurz vor dem Abitur, da hast Du andere Sorgen.’“ (S. 308)

Kapitel 7 führt uns in eindringlicher Weise mehrere Opferbiographien, darunter zwei ausführliche, vor Augen. In diesen Biographien werden viele der Folgen sexuellen Missbrauchs sichtbar, wie sie der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie bekannt sind: Dissoziieren, Intrusionen, Vermeidungsverhalten, Schreckhaftigkeit, Flashbacks, Alpträume, Schuld und Scham, Angst, „wie eine Maschine sein“, Sich nicht abgrenzen können, Essstörung, Selbstverletzung, Sucht, Angespanntsein, Depression, Resignation, Übelkeit, Somatisierungsstörung, Schlafstörungen.

Gerold Becker hat nur selten in des Wortes engerem Sinne „vergewaltigt“. Er ging anders vor: „Becker lockte die Kinder in Gefühlsfallen, die sie nicht durchschauen konnten. Es traf besonders die, die ‚wahnsinnig bedürftig’ waren. Sie wurden, wie das eine Altschülerin ausdrückt, ‚emotional angefüttert’, um danach missbraucht zu werden.“ (S. 359) Das an einem Ort, der von einem OSO-Altschüler als „ein vollkommen übersexualisiertes Umfeld“ (S. 364) beschrieben wird; dazu passt, „dass Lehrerinnen offen Beziehungen mit Schülern lebten“ (ebd.).

Mit dem Ende seiner OSO-Tätigkeit ist es aber noch nicht aus mit und für Gerold Becker. Er startet Eine zweite und eine dritte Karriere (Kapitel 8) – natürlich with a little help of his friends. Was die erste Karriere betrifft: Es gelang, und dies erscheint im Nachhinein schwer begreiflich, Gerold Becker ohne eine pädagogische Ausbildung in einem staatlichen Institut für Schulentwicklung (im damals von der SPD dominierten Hessen) unterzukommen und trotz Überschreitung der Höchstaltersgrenze (er war damals schon 56 Jahre alt) eine feste und ruhestandsfähige Anstellung zu bekommen. Mitte 1999 trat er in den Ruhestand.

Erst danach, nämlich im November 1999, berichtete die Frankfurter Rundschau, erstmals von den Missbrauchsfällen in der OSO, was aber für Gerold Becker nahezu folgenlos war, weil die deutschen Leitmedien, auch dies im Nachhinein schwer verständlich, die Nachricht nicht aufgriffen, die „protestantische Mafia“ ihn weiterhin schützte und die deutsche Pädagogik, nicht nur die Reformpädagogik, ihm nach wie vor huldigte. Und so konnte er seine dritte Karriere starten: als „Bildungsexperte“, der seine Altersversorgung durch Vorträge, „Expertisen“ und Beratungen ganz gut aufbessern konnte.

Anzunehmen, er wäre in der Nach-OSO-Zeit nicht mehr pädokriminell tätig gewesen, wäre ein Irrtum: „Er spielte den kritischen Intellektuellen, der heimlich Päderast war.“ (S. 489)

Das Ende ist das 9. und letzte Kapitel überschrieben. Gerold Becker ist im Juli 2010 gestorben. „Im März 2010 stürzte die Fassade ein, schneller und gründlicher, als es Beckers Freunde je für möglich gehalten haben. Innerhalb weniger Wochen wurde aus einem gefeierten Reformpädagogen mit unbestreitbaren Verdiensten eine Unperson, der jeglicher öffentlicher Kredit entzogen wurde. Die Person Gerold Becker verfügte über genügend Abwehrmechanismen, um immer noch nichts an sich herankommen zu lassen. Das geht aus seinen letzten Briefen hervor, die ihn als unbelehrbar zeigen, eingestrickt in die Art und Weise, wie er sich stets die Welt zurechtgelegt hat.“

Im März 2010 waren viele der Protektor(inn)en von Gerold Becker schon tot oder zu alt für Einflussnahme: Marion Gräfin Dönhoff (gestorben 2002 ) etwa oder Hellmut Becker (gest. 1993) und Richard von Weizäcker (gest. 2015). Aber es blieben genügend andere, die Gerold Beckers Ruf zu retten suchten – und mitunter damit ihre eigene Haut. Zu den damit in den Blick gefassten, gehört an erster Stelle Hartmut von Hentig, der ein Trauerspiel ablieferte, indem er alles Wesentliche, was er zuvor gepredigt hatte, durch sein Handeln dem Spott preis gab.

Am Ende des Buches finden sich unter Quellen und Literatur eine Aufstellung von Archiven, Gesprächen und Dokumentationen, ein Schriftenverzeichnis Gerold Beckers, weitere Quellen (wie etwa Publikationen von Hartwig von Hentig) sowie Darstellungen verschiedenen Inhalts (viele davon zur „OSO-Affäre“).

Diskussion

Jürgen Oelkers hat mit dem vorliegenden Buch die bislang profundeste, d.h. sowohl materialreichste als auch bestens reflektierte Analyse zum „OSO-Skandal“ vorgelegt. Wenn kein neues Material in dieser Angelegenheit auftaucht, darf es ruhig das letzte gewichtige Wort zur Sache sein. Das Buch beantwortet nicht alle Fragen, aber es gibt vielfältigen Anlass, solche überhaupt zu stellen und reichlich Hinweise, wo man bei weiterer Suche fündig werden könnte. Es gibt wenig, was man sich an diesem Buch anders wünscht.

Was man vermisst, um mit dem eben skizzierten Anhang zu beginnen ist ein Verzeichnis zumindest der wichtigsten Personen neben Gerold Becker selbst. So ist es etwa sehr mühsam, all die Stellen (wieder) aufzufinden, an denen etwas über Hellmut Becker zu finden ist. Oder aber über Wolfgang Edelstein (https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Edelstein). Der war ab 1954 zunächst Lehrer und seit 1961 Studienleiter an der OSO, von wo ihn 1963 Hellmut Becker als wissenschaftlichen Mitarbeiter an „dessen“ Max-Planck-Institut für Bildungsforschung geholt hat, wo der in Mittellateinischer Philologie Promovierte 1981 zum Direktor des Forschungsbereichs „Entwicklung und Sozialisation“ berufen wurde. Im wikipedia-Eintrag zu Wolfgang Edelstein (https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Edelstein) ist zu lesen: „Von den späteren Vorgängen an der Odenwaldschule distanzierte er sich sehr früh und eindeutig.“ Endlich mal ein echter „Widerstandskämpfer“ – könnte man meinen. Und in dieser Meinung könnte man bestärkt sein dadurch, dass Jürgen Oelkers zwar mit Hellmut Becker hart ins Gericht geht, nicht aber mit Wolfgang Edelstein, dem er für den Gerold Becker zu OSO-Zeiten gar attestiert: „Edelstein war wohl der einzige Kritiker, den Becker zu diesem Zeitpunkt hatte.“ (S. 115).

Wenn man sich die Referenzstelle zu dem oben referierten wikipedia-Statement, einen taz-Artikel vom 26.5.2010 (www.taz.de) durchliest findet man folgende Passage: „Es gibt freilich auch einen ganz anderen Umgang mit Becker – den radikalen Schnitt. Wolfgang Edelstein, in den 50er-Jahren Lehrer im Odenwald, später Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, reiste 1973 quer durch die Republik zu Becker. Er will von ihm wissen, ob er nicht Angst habe, dass seine Homosexualität zu Konflikten im Umgang mit Kindern führen könne. Becker negiert das – und sagt zugleich zu Edelstein: ‚Jetzt ist Schluss mit der Schulreformerei, jetzt geht es nur noch um das Verhältnis zum Kind.’ Edelstein ist entsetzt – und wechselt kein Wort mehr mit Becker. Heute sagt Edelstein: ‚Becker hat die Schule mit seinen sexuellen Bedürfnissen korrumpiert. Er hat die Schule zu einem Bordell umfunktioniert.’“

In einem Interview mit den Potsdamer Neusten Nachrichten (PNN) vom 26.3.2010 (www.pnn.de/wissen), auszugsweise referiert im Buch auf S. 540, nennt er ebenfalls jene o. g. „Ermahnungsreise“ von 1973. Man kann diese Geschichte glauben – oder auch nicht. Aber selbst wenn man sie glaubt, hat man wenig Grund, Wolfgang Edelstein zum „Widerstandskämpfer“ zu stilisieren. Man betrachte etwa folgenden Ausschnitt des PNN-Interviews:

„[Edelstein] Aber nach meinem heutigen Wissensstand muss ich annehmen, dass die systematischen Übergriffe erst mit der Ära Gerold Beckers begannen, der 1969 Lehrer wurde und die Schule ab 1972 leitete.

[PNN]Es wird aber über Fälle ab 1966 berichtet.

[Edelstein] Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Mitarbeiter, die ich gekannt habe, halte ich für vollkommen unanfällig für diese Versuchungen.“

Kannte Wolfgang Edelstein, der beste Beziehungen zur OSO pflegte, den ab 1.4.1966 als Musiklehrer an der OSO tätigen Wolfgang Held nicht? Der war (vgl. S. 325ff) ein Pädokrimineller vom gleichen Kaliber wie Gerold Becker. Und was hat Wolfgang Edelstein denn eigentlich getan, als die Pädokriminalität an der OSO in der Frankfurter Rundschau erstmals publik gemacht wurde? Hat er, der in OSO-Gremien saß, davon nichts erfahren? Unwahrscheinlich, äußerst unwahrscheinlich. Wieso hat er als Wissender sich nicht öffentlich auf die Seite der Opfer gestellt, sondern geschwiegen – wie davor und danach bis Anfang 2010, als alle wissenden Schweiger(innen) zurecht in die Kritik gerieten? Hat nicht auch er durch sein Schweigen dazu beigetragen, dass Gerold Becker nach 1999 Kinder sexuell missbrauchen konnte? Und warum hat er geschwiegen? Nun ja, bis zum Tode Hellmut Beckers im Jahre 1993 wird er dessen Verdunkelungsstrategie in aller gebotenen Subalternität gefolgt sein. Für die Zeit danach greift ein anderes Argument: Er gehört zu den unkritischsten OSO-Verehrer(inne)n überhaupt.

Dass mit Wolfgang Edelstein etwas nicht stimmt, wurde selbst der taz, deren o. g. Interview von 2010 von reichlich Naivität zeugt, bald klar. In einer Besprechung des Buches „Reformpädagogik in der Schulpraxis“ (Fitzner, Kalb & Risse, 2012), in dem der Reformpädagogik Unfähigkeit zum Trauern und zum Lernen bescheinigt wird, heißt es auch: „Beinahe tragisch ist der Text von Wolfgang Edelstein zu nennen. Der Ex-Max-Planck-Direktor ist der Architekt der demokratischen Struktur der Odenwaldschule. In seinem Aufsatz referiert er, wie wichtig demokratische Schule ist, und er kann bis ins Detail aufzeigen, warum es sinnvoll ist und wie das geht. Allein, auch Edelstein gibt nicht den Hauch einer Antwort auf die vielleicht quälendsten Fragen für Odenwaldschule und Reformpädagogik: Wie konnte es sein, dass ausgerechnet die demokratische Musteranstalt jahrelang die öffentliche Entdeckung des Missbrauch verhinderte? Wieso die angeblich so starke institutionelle Demokratie der Schule wie ein Streichholzmäuerchen vor den Päderasten zerbarst?“

Wolfgang Edelstein zeigt sich von solchen kritischen Anfragen unbeirrt. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur vom 19.05.2015 erklärte er: „Eine Odenwaldschule fehlt uns, eine Odenwaldschule, die eine Schulreform weiterentwickelt über PISA hinaus, und sich nicht von PISA ins Bockshorn jagen lässt und nur auf Leistung geht. Eine Schule, die Leben und Lernen in der Demokratie wirklich zur Selbstverständlichkeit macht.“ Das ist ganz der pathetische, die Wirklichkeit ignorierende und die Opfer verhöhnende Stil, in dem Gerold Becker zu reden pflegte. Nein, Wolfgang Edelstein ist in Sachen OSO-Kriminalität kein Widerstandskämpfer, sondern – durch Unterlassen, wo Handeln gefordert war – Teil des verbrecherischen „System Becker“.

Kommen wir zu etwas Anderem. Der Autor hat ja, wie oben referiert, am Ende seines Vorworts erklärt: „Worum es geht, ist etwas anderes, nämlich warum unter dem Deckmantel der Reformpädagogik oder unter Berufung auf den ‚pädagogischen Eros’ geschehen konnte, was in diesem Buch beschrieben wird.“ (S. 12) Ja, die „OSO-Affäre“ und die sexuellen Übergriffe auf Schutzbefohlene in anderen pädagogischen Einrichtungen (Landschulheime), die sich als Gralshüterinnen der Reformpädagogik wähnten und entsprechend aufführten, war ein gefundenes Fressen für Jürgen Oelkers, der deren zum Großteil verquaste Ideologie schon zuvor ins Rampenlicht der kritischen Öffentlichkeit gerückt und namhafte ihrer Gründungsfiguren als – zum Teil pädophile - Reaktionäre vorgeführt hat. An dem, was Jürgen Oelkers an der Reformpädagogik zu kritisieren hat, gibt es für mich nichts zu bemängeln; ich folge ihr in meinen beiden o. g. Artikeln zur Sache.

Die OSO war schon vor Gerold Becker kein, wie er es ausdrückte, „pädagogischer Zauberberg“ (vgl. S. 162); es war ein von ideologischen Versatzstücken der Reformpädagogik nach außen abgeschirmter und innen strukturierter Raum für Pädokriminalität. Darauf hat Jürgen Oelkers mit allem Nachdruck und aus gutem Grund hingewiesen. Man muss zu dessen Kritik an der Reformpädagogik aber drei Anmerkungen machen.

  1. Zum ersten ist darauf hinzuweisen, dass auch andere Ideologien dieselbe Funktion haben können. Man denke etwa an den sexuellem Missbrauch in pädagogischen Institutionen der römisch-katholischen Kirche (https://de.wikipedia.org/wiki/) oder in Heimen der pietistischen Evangelischen Brüdergemeinde Korntal (http://heimopfer-korntal.de/ mit Links auch zu Pressebeiträgen) und der baptistischen Colonia Dignidad (https://de.wikipedia.org/wiki/Colonia_Dignidad), deren Verbrechen durch den Anfang 2016 angelaufenen Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Insgesamt und nicht nur hinsichtlich der OSO und anderer Institutionen der Reformpädagogik „muss man sich Gedanken machen über die verschiedenen institutionellen Strukturen und ideologischen Biotope, in denen solche leider zu den anthropologischen Konstanten zählenden Verbrechensneigungen leichter wuchern können“ (Leicht, 2010a, S. 77).
  2. Robert Leicht (2010b) hat in einem späteren ZEIT-Artikel aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Verbindung von homosexueller Veranlagung und reformpädagogischer Überzeugung nicht notwendigerweise in Pädasterie münden muss, und in diesem Zusammenhang auf Kurt Hahn (https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Hahn) verwiesen. Als Erlebnispädagoge sehe ich mich in der Tradition der von ihm entwickelten „Erlebnistherapie“ und ich sehe keinen Grund, davon abzulassen, auch wenn ich „die fatale Trias aus willkürlichem Distanzabbau zwischen Erwachsenen und Kindern, arrangierter Intimisierung des Schul- und Internatslebens und ideologischer, wenn auch verbal nur ‚platonischer’ Erotisierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses“ (Leicht, 2010b, S. 73) scharf verurteile (Heekerens, 2010, 2012).
  3. Eine dritte Anmerkung: Der Autor drischt so heftig und so oft auf die Reformpädagogik ein, dass bei unbefangenen, aber wenig informierten Leser(inne)n der Eindruck entstehen muss, mit den großen Rest der sonstigen deutschen Pädagogik sei alles in Ordnung gewesen. Das war mitnichten der Fall. Auch nicht nach Ansicht des Autors, der sich schon eingangs mokiert über die deutsche Pädagogik (zumindest den Großteil derselben) „mit ihrem Glauben an wohl klingende Konzepte sowie ihrem Impetus …, sich ständig moralisch überlegen präsentieren zu müssen“ (S. 13). Er hat im 3. Kapitel, wo es um „Die Geburt des Pädagogen“ geht, wie schon oben erwähnt ausgeführt: „Becker hat offenbar schnell begriffen, wie man auch anders als Pädagoge vorankommen kann, ohne Titel und ohne Forschungsleistung, aber mit einem verlässlichen Netzwerk hinter sich, das sich neuen Situationen anpassen ließ. Seine Karriere war die eines pädagogischen Rhetorikers, der zu vielen Themen etwas zu sagen wusste und immer mit der richtigen Moral Eindruck zu machen verstand. Wirkliche Expertise und ertragreiche praktische Problemlösungen waren von ihm als Autor kaum zu erwarten, obwohl er geschickt genug war, immer genau diesen Eindruck zu erwecken.“ (S. 150)

Sind ihm denn nur die Reformpädagog(inn)en auf den Leim gegangen und nicht etwa die große Mehrheit der deutschen Pädagogik als Disziplin und Profession? Sie hat seine Karriere als Pädagoge ermöglicht, ohne die seine andere als Päderast weder in selbem Maße noch so lange gewesen wäre. Und hat sich denn (vgl. S. 461) die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (/www.dgfe.de), die Vereinigung der in Forschung und Lehre tätigen Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler im Jahre 1999, als die Missbrauchsfälle an der OSO nicht mehr zu verheimlichen und zu vertuschen waren, auf die Seite der Opfer oder die ihres Mitglieds Gerold Becker gestellt? Gerold Becker beeindruckte Disziplin wie Profession der deutschen Pädagogik durch tönendes Erz und klingende Schelle (frei nach 1. Kor. 13,1); er konnte nur beeindrucken in einer pädagogischen Zuhörerschaft, die das wohl klingende Wort mehr ehrt als den empirisch ermittelten Befund, der die Verwendung von „Klassiker“-Zitate als Ausweis von Wissenschaftlichkeit hinreichend schien und das Ansprechen jeweiliger Modethemen als sicherer Hinweis dafür diente, die/der Referent(in) sei am Puls der Zeit und am Kern aktueller Probleme.

Zum Schluss: Im Jahre 2010 und später war immer wieder und auch von (sozial-)pädagogischer Seite zu hören, man habe sich noch nicht einmal vorstellen können, dass „so etwas ausgerechnet an der OSO“ passieren könne. Solch mangelnder Vorstellungskraft kann Verleugnung oder Nichtwissen zu Grunde liegen. Mit Blick auf das zweite, muss man (sozial-)pädagogische Ausbildungsgänge daraufhin prüfen, ob sie entsprechendes Wissen vermitteln. Was man wissen muss und was man auch schon früher wissen konnte, hat der Ulmer Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie Jörg M. Fegert (https://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_M._Fegert), bestens ausgewiesen zum Thema „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“, in einem Gespräch mit dem great old man der Deutschen Sozialpädagogik Hans Thiersch (https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Thiersch) 2001 in Tübingen klar benannt (Fegert & Thiersch, 2002). „In der Pädagogik, als einem Berufsstand, in dem in so privilegierter Weise mit Kindern umgegangen wird, besteht die Gefahr besonders, dass sich hier ein höherer Anteil Pädophiler findet. Und es ist auch so, dass viele pädophile Menschen ja auch eine besondere pädagogische Begabung haben. Dann gibt es einen theoretischen historischen Ballast vom pädagogischen Eros, der durchaus bei den Griechen zum Teil auch pädophil gefärbt war.“ (S. 250) Und: „Ich denke, jegliche Institution kann ein charismatischer Leiter so organisieren, dass sie auch primär seinem Triebbedürfnis dient. Das macht man meistens nicht an massiven Übergriffen fest, die stellt man häufig erst sehr sehr spät fest. Wenn man [Erving] Goffmann genau liest, da findet man eigentlich die ganzen Mechanismen.“ (S. 258)

Fazit

Alle, die sich mit Fragen des sexuellen Missbrauchs in pädagogischen Institutionen beschäftigen, sollten dieses Buch lesen; ebenso jene, die sich (noch immer) nicht bewusst sind, mit welchen Risiken und Gefahren ideologisierte Pädagogikkonzepte und bestimmte (sozial-)pädagogische Institutionen verbunden sind. In Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit müsste das Buch greifbar sein; und zwar in so vielen Exemplaren, dass interessierte Studierende es auch ausleihen können.

Literatur

  • Andresen, S. (2015). Sexueller Missbrauch in der Odenwaldschule und Folgen für die Reformpädagogik. In J.M. Fegert & M. Wolff (Hrsg.) (2015). Kompendium „Sexueller Missbrauch in Institutionen“ (S. 233-249). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
  • Brumlik, M. (2011). Rezension von Oelkers, 2011. taz vom 6.10.2011 (www.taz.de/1/archiv/; zuletzt aufgerufen am 8.5.2016).
  • Burchard, A. (2010). Interview mit Wolfgang Edelstein. Tagesspiegel vom 26.03.2010 (www.tagesspiegel.de; zuletzt aufgerufen am 8.5.2016).
  • Camman, A. (2010). Protestantische Mafia. DIE ZEIT vom 25.03.2010, S. 23.
  • Dahrendorf, R. (1997). Spiegel-Interview vom 15.1.1997 (www.spiegel.de/spiegel/print; zuletzt aufgerufen am 1.5.2016).
  • Fegert, J.M. & Thiersch, H. (2002). Gespräch. In J.M. Fegert & M. Wolff (Hrsg.), Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen (S. 244-264). Münster: Votum.
  • Fitzner, Th., Kalb, P. E. & Risse, E. (Hrsg.) (2012). Reformpädagogik in der Schulpraxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Heekerens, H.-P. (2010). Die Reformpädagogik und die Missbrauchsdebatte. Erleben&Lernen, 18(4), 28-31.
  • Heekerens, H.-P. (2012) Beziehungsgestaltung in der Erlebnispädagogik. Erleben&Lernen, 2012, 20(3&4), 54-57.
  • Hofmann, G. (2010). In der Wortewelt. DIE ZEIT vom 08.04.2010, S. 6.
  • Leicht, R. (2010a). Distanz muss sein. DIE ZEIT vom 25.03.2010, S. 77.
  • Leicht, R. (2010b). 90 Lehrjahre. DIE ZEIT vom 29.04.2010, S. 73.
  • Miller, D. & Oelkers, J. (Hrsg.) (2014). Reformpädagogik nach der Odenwaldschule – wie weiter? Weinheim und Basel: Beltz Juventa (sozialnet-rezension online verfügbar unter www.socialnet.de/rezensionen/16370.php).
  • Oelkers, J. (2005). Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim – München: Juventa.
  • Oelkers, J. (2010). Was bleibt von der Reformpädagogik? FAZ.NET vom 16.03.2010 (www.faz.net/aktuell; zuletzt aufgerufen am 8.5.2016).
  • Oelkers, J. (2011). Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim – Basel: Beltz.
  • Otto, H.-U. (2010). Päderastie – sexueller Missbrauch – Pädagogisches Desaster. Neue Praxis, 44, 107-108.
  • Simon, J. & Willeke, S. (2010). Das Schweigen der Männer. DIE ZEIT vom 25.03.2010, S. 17-18.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 184 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245