Dietrich Benner: Bildung und Religion
Rezensiert von Prof. Dr. Antje Roggenkamp, 29.09.2016
Dietrich Benner: Bildung und Religion. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2014. 150 Seiten. ISBN 978-3-506-77994-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema
Thema des vorliegenden Aufsatzbandes ist das Verhältnis von Pädagogik und Theologie im Kontext des Fragens nach Bildung, Erziehung und Religion sowie der Begründung von Religionsunterricht.
Autor
Dietrich Benner wirkte bis 2009 u.a. als Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband bietet eine verdichtete Version von Dietrich Benners Überlegungen zum Thema Religion und Bildung. Von den 9 Aufsätzen wurden 6 bereits anderweitig veröffentlicht und – u.a. durch Kürzungen – so verändert, dass eine Monographie ähnliche Publikation entstand.
Aufbau und Einleitung
Das Buch enthält neben einer ausführlichen Einleitung (7-14) und einem umfangreichen Literaturverzeichnis (143-150) zwei Hauptteile:
- „Beziehungen zwischen Erziehung, Bildung und Religion“ (15-78)
- die „Begründung von Religionsunterricht als Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen“ (81-141)
Die Einleitung entfaltet – problemorientiert – die im Untertitel benannte „Grundthese“, dass sich „nur einem bildsamen Wesen ein Gott offenbaren“ könne in erziehungs- und bildungstheoretischer Hinsicht, mit Blick auf spezifische Erfordernisse des „kulturellen Tradierungsprozesses“ sowie vor dem Hintergrund der öffentlichen „Institutionalisierung religiöser Erziehung und Bildung“(7). Dabei setzt Benner die pädagogische Vorstellung von der Bildsamkeit mit dem theologischen Begriff der Gottesebenbildlichkeit in Beziehung: „der Angewiesenheit der Religion auf menschliche Bildsamkeit“ korrespondiert „eine Bildsamkeit des Menschen zur Religion, die aktiviert werden muss, wenn religiöse Erziehung gelingen soll“ (7). Mit der Betonung der pädagogischen Perspektive der Bildsamkeit legt Benner die zentrale Perspektive vor, von der aus die verschiedenen, im Folgenden zu entwickelnden Gedankengänge betrachtet werden.
Zu Teil 1
Der erste Text des Sammelbandes reformuliert neun Thesen zur Bedeutung der Religion für die Bildung und setzt somit – anders als dies fundamentalistische oder funktionalistische Anschauungen nahelegen – voraus, dass Religion „einen zentralen Sinnhorizont menschlicher Existenz und Koexistenz interpretiert“ (16). Dies impliziert, dass die Forderung „alles mit, nichts bloß aus Religion zu tun“ auch „für das ethische, politische, pädagogische, ästhetische und ökonomische Handeln“ (17) gilt. Eine bildungstheoretische Reflexion umfasse daher sowohl eine Kritik der Religion durch Ethik und Politik als auch eine Kritik von Moral und Politik durch die Religion. Als Proprium pädagogischen Handelns bestimmt Benner demgegenüber die Grundbegriffe Bildsamkeit und Selbsttätigkeit, die ihrerseits ausdrücklich nicht an konkrete Religionen gewiesen sind. Das Proprium religiösen Handelns ist die Endlichkeit, die es dem Menschen allererst erlaubt, einen „religiösen Bildungshorizont“ (19) zu entwickeln. Sofern Religion zwischen Endlichem und Unendlichem vermittelt, ist sie auf einen konkreten Kontext – wie auf eine Sprache – angewiesen. Religion entfaltet über die drei „Glaubensdimensionen“ von – als „Sinn aus sich selbst“, als „Solidarität“ und als „Hoffnung“ eine eigene Bedeutung für Erziehung und Bildung. Insofern Religionsunterricht die „pädagogische Differenz von Glaube und Wissen“ (23) einübt, kann er religiösem Fundamentalismus entgegenwirken. Religiöse Kritik der Welt ist im Sinne einer Erneuerung der Religion „mit einer pädagogischen, ethischen und politischen Kritik der Religionsgemeinschaften und Kirchen zu verbinden“ (24).
Den pädagogischen Wissensformen und erziehungswissenschaftlichen Theorietraditionen widmet sich ein zweiter Aufsatz „Erziehung und Religion, Pädagogik und Theologie. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren“ (25-47), der die Auseinandersetzung mit Grundbegriffen der pädagogischen Praxis ins Zentrum stellt: „unbestimmte Bildsamkeit“, „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“, „Transformation gesellschaftlicher Anforderungen“ und die Idee „nicht-hierarchischer Verhältnisse“ (26-27) bestimmen das pädagogische Denken und Handeln. Dabei gehört es zu den „Grundfragestellungen“, dass sich aus pädagogischer Sicht „das Prinzip der unbestimmten Bildsamkeit des Menschen mit der Idee einer nicht-hierarchischen Ordnung der verschiedenen Wissensformen und Praxisfelder“ (34) verbindet. Dabei geht es um die Bewahrung der erziehungs- und bildungstheoretischen Eigenlogik pädagogischen Denkens im Sinne der Anerkenntnis des Schöpfungs-Geheimnisses, aber auch der Mehrperspektivität der Zugänge, die weder von reformpädagogischen Konzepten noch von frühen systemtheoretischen Entwürfen beachtet wurden (35 f). Demgegenüber stütze sich eine theologische Eigenlogik auf die sogenannten „Übergänge“ verschiedener Formen religiöser Partizipation (37). Die Spiegelung an der praktischen Philosophie der „Geiselschaft“ (Levinas) zeigt das Dilemma eines Anspruchs des Anderen auf Mitleid und Solidarität auf (41), das in Herbarts „Idee des moralischen Wohlwollens“ ebenso vermieden ist (44) wie in einer von Kant her gedachten universalen Solidarität (47).
Ein dritter Text (49-59) befasst sich mit der Abgrenzung von fundamentalen und fundamentalistischen Konzepten, die vor dem Hintergrund der nicht-hierarchischen Zuordnung von Bildung und Religion im Christentum möglich wird: Während die Menschen in religiöser Hinsicht „auf die Offenbarung Gottes angewiesen“ sind, kann sich Gott „nur dem Menschen als einem bildsamen Wesen offenbaren“ (50). Religion gilt dann als eine Praxis, in der Menschen „ihre eigene Endlichkeit reflektieren und ‚eine religiöse Musikalität‘ entwickeln“ (50). Fundamentale Positionen suchen, diese Einsicht im Rahmen einer „historischen Offenbarungsreligion“ zur Geltung zu bringen, wohingegen fundamentalistische Haltungen an Stelle von Unterscheidungen Absolutsetzungen vornehmen. Dabei gilt es – mit Nipkow – den sog. „Beutelsbacher Konsens“ zu beachten, der sowohl „Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot“ als auch „Pluralitäts- und Kontroversitätsgebot“ umfasst (55). Von hier aus wird die Aufarbeitung von Fundamentalismen möglich, ohne die es keine interreligiöse Bildung geben kann. Im Christentum umfasst dies vor allem das Verhältnis zwischen Religion und Staat sowie den Umgang mit anderen Religionen (58 f).
Ein vierter Abschnitt wendet sich schließlich der Tradierung von Erziehung (60-78) zu. Benner unterscheidet drei Typen von Tradierung: eine reine Vermittlung von traditionellem Wissen, das Zugleich von Bewahrung und Veränderung sowie die „abgerissene und unterbrochene Tradierung“ in und nach Krisen. Der Umgang mit diesen Formen ist different: neben Rituale, Sprache und kodifizierte Texte tritt die Tradierung durch Museen und Schulen. Das größte Problem besteht in der „Einführung der nachwachsenden Generation in nicht mehr tradierte Traditionen“ (62), insofern „die erziehliche und die bildende Intentionalität pädagogischen Handelns“ (69) auseinandertreten. Ein entsprechendes Lernen vollzieht sich außerhalb des ursprünglichen Zirkels und setzt eine offene und unbestimmte Bildsamkeit voraus, die in einer interaktiv zu begründenden „exzentrischen Positionalität“ (Plessner) des Menschen Grund gelegt ist (69). Dem Vorschlag der Bildung staatstragender Zivilreligionen, Zivilreligionstheorien sowie Theologieersatztheologien steht ein möglicher Verlust von religiöser Vielfalt gegenüber. Benner fordert die historischen Offenbarungsreligionen auf, „religiöse Experimente“ zuzulassen (76-78).
Zu Teil 2
Die fünf Texte des zweiten Hauptteils beschäftigen sich mit Begründung, Beschreibung und kritischer Analyse unterschiedlicher Formen von Religionsunterricht. Dabei schiebt sich die Frage nach verschiedenen Begründungs-Perspektiven (bildungstheoretisch, religionspädagogisch, theologisch) in den Vordergrund, die die Stellung von Religionsunterricht im öffentlichen Schulsystem sichern sollen (81). Dabei stellt der erste Abschnitt Schleiermachers nicht unkompliziertes Verhältnis zum Religionsunterricht vor und setzt sich mit seinen Grundlegungen und -annahmen auseinander (82-88). Die problematisch gewordene Stellung der Religion in der pluralistischen Gesellschaft lasse sich nicht dadurch einholen, dass man Religion als einen Aspekt eines achten, epochal-typischen Schlüsselproblems (Klafki) diskutiert. Dieser Vorschlag blende die seit Schleiermacher geführte Debatte weitgehend ab. Religionsunterricht könne nur von einer kritischen Bestimmung her seinen Platz in der Schule beanspruchen (96), weiter gehende Möglichkeiten religiöser Bildung sind im Leben der Religionsgemeinschaften selbst, nicht aber in Schule oder Schulleben zu verorten (97).
Ein zweiter gewichtiger Abschnitt befasst sich mit dem brandenburgischen Schulfach LER und stellt vor allem die Frage nach der Vereinbarkeit mehr oder weniger staatlich vorgegebener „Lebensgestaltung“ mit den 1968 vereinbarten Regeln des Beutelsbacher Konsens (103 f). Ein dritter Text setzt sich mit einer weiter reichenden Evaluation der Zürcher Konzeption „Religion und Kultur“ auseinander. Er interpretiert das Fach – neben dem traditionellen, dem abwählbaren und dem Moral- bzw. Ethikunterricht fundierenden Religionsunterricht – als eine vierte Form bzw. „Strategie“ des Umgangs mit Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (106-113): Es greife auf Aspekte aus allen drei Dimensionen zurück und sei daher mit Instrumentarien, die zwischen learning/teaching in, from und about klar unterschieden, nicht evaluierbar.
Grundsätzliche Überlegungen zum „Religionsunterricht als Ort der Pädagogik und Ort der Theologie“ (114-126) greifen die Frage nach der „Legitimität“ des öffentlichen Religionsunterrichts auf und binden sie an welt- und selbstbildende Lernprozesse zurück: zwischen beiden Ort ist um ihrer Unabhängigkeit willen klar zu unterscheiden, Religionsunterricht ist aber nur möglich, insofern er zugleich „Ort der Pädagogik und der Theologie“ ist (116). Seitdem sich Religion nicht mehr von selbst tradiere, komme als dritte Dimension die umstrittene Stellung von Religion im öffentlichen Schulsystem hinzu, die durch die Frage, ob Theologie Ethik diesbezüglich ersetzen kann, noch zugespitzt wird (117-120): Insbesondere die in der Oberstufe vollzogene Unterscheidung zwischen „lebensweltlichen Erfahrungen“, „wissenschaftlichen Thematisierungen des Religiösen“ und „pragmatischen Diskursformationen“, deren Grundlagen in Unter- und Mittelstufe „Abstimmungsprobleme“ berücksichtigen müssen, leiste ihren „Beitrag zur Entwicklung einer selbstkritischen religiösen Deutungs- und Partizipationskompetenz“ (124). In einer modernen Gesellschaft könne Religion zwar keinen Anspruch auf umfassende Deutung aller Bildungshorizonte erheben, sich wohl aber dafür einsetzen, ihren innerreligiöse Glaubenspraktiken überschreitenden Teilbereich intergenerationell und interreligiös zur Sprache zu bringen (126).
Den Abschluss bilden Überlegungen zum Thema „Die Öffentlichkeit der Schule und die Öffentlichkeit von Religion“ (127-141), die sich mit der jeweils spezifischen Erscheinung von Öffentlichkeit befasst. Während die Antike Öffentlichkeit – auch wenn sie den Begriff auf die Gruppe der freien Bürger beschränkte – als Haltung voraussetzte, herrscht in der Moderne ein grundsätzlich zivilgesellschaftliches Verständnis vor. Eine gewisse Zwischenstellung nimmt diesbezüglich Comenius´ fundamentaler Ansatz ein. Dabei orientieren sich schulische Curricula neben der Vermittlung von Grundkenntnissen am Aufbau einer spezifischen Urteils- und Partizipationskompetenz (133), die ihrerseits an die öffentliche Kommunikation der Religionen untereinander verwiesen ist (135). Dass Schülerinnen und Schüler, die im (evangelischen) Religionsunterricht in Berlin-Brandenburg teilgenommen haben, höhere Anspruchsniveaus in religiöser, vor allem aber auch interreligiöser Hinsicht erreichen, bestätigt schließlich auch empirisch die Bedeutung öffentlichen Religionsunterrichts.
Diskussion
Die höchst anregenden und bislang an verschiedenen, z.T. nicht leicht zugänglichen Stellen veröffentlichten Aufsätze nehmen engagiert Stellung für Religion als öffentliches Schulfach und plädieren für eine Diskussion von Religion in der Öffentlichkeit. Damit dürften Benners Überlegungen in der Gegenwart von erheblicher Relevanz sein, beschäftigen sich doch seine Aufsätze seit 1992 mit dem Thema der öffentlichen Religion. Dass er dabei nicht den Blick auf eine einzige historisch gewachsene Religion verengt, sondern über theoretische Möglichkeiten des reflexiven Diskurses jenseits einfacher Partizipationsformen nachdenkt, zählt zu den argumentativen Stärken des lehrreichen Sammelbandes. Ein in Benners Sinne unter den Religionen und im öffentlichen Religionsunterricht des Schule kriterien- und kategoriengeleiteter Diskurs, der dem mitunter kritischen Rückgriff auf die abendländischen Traditionen nicht ausweicht, sondern diesen argumentativ auszunutzen versteht, könnte in einer Situation angespannter Diskussion um verschiedene Form weiblicher Kopf- und Körperbedeckungen dem interreligiösen Miteinander neue Impulse vermitteln.
Fazit
Das als Aufsatzsammlung gestaltete Buch befasst sich einerseits mit der Grundlegung des Verhältnisses von Erziehung, Bildung und Religion, andererseits mit dessen Umsetzung in Schule und Öffentlichkeit. Dabei liegen den einzelnen Teilen jeweils gesonderte Thesen zugrunde: Geht es zum einen um die nichthierarchische religiöse Angewiesenheit des Menschen auf die Offenbarung Gottes sowie zugleich um Gottes Angewiesenheit auf die Bildsamkeit des Menschen, so steht zum anderen die grundsätzliche Bedeutung von Religion und Theologie für die öffentliche Kommunikation im Zentrum. Indem sich beide Teile immer wieder auf ihren jeweiligen Ursprung zurück beziehen, entsteht ein vielfältiges Panoptikum unterschiedlicher Aspekte von Religion, Bildung und Öffentlichkeit, die sich in der Aussage überschneiden, dass die für das öffentliche Gemeinwesen notwendige Diskussion über Religionen und ihre „privaten“ bzw. spezifischen Inhalte am ehesten durch Teilhabe am Religionsunterricht gelingt: Die für ein Funktionieren der pluralen Gesellschaft unerlässlichen Reflexions- und Partizipationskompetenzen werden vor allem im Religionsunterricht erworben.
Rezension von
Prof. Dr. Antje Roggenkamp
Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Zitiervorschlag
Antje Roggenkamp. Rezension vom 29.09.2016 zu:
Dietrich Benner: Bildung und Religion. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. Verlag Ferdinand Schöningh
(Paderborn) 2014.
ISBN 978-3-506-77994-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20512.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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