Juliet B. Schor: Wahrer Wohlstand. Mit weniger Arbeit besser leben
Rezensiert von Prof. Dr. Matthias Hüttemann, 30.08.2016

Juliet B. Schor: Wahrer Wohlstand. Mit weniger Arbeit besser leben. oekom Verlag (München) 2016. 288 Seiten. ISBN 978-3-86581-777-8. D: 19,95 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Schors Konzeption des wahren Wohlstands stellt die Plenitude (dt. Fülle, Vielfalt) in das Zentrum der ökonomischen Betrachtung und bezieht dabei die ökologische Perspektive umfassend ein. Der angestrebte Wohlstand hat die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Natur, soziale Kohäsion, Zeitwohlstand, gesundheitliches Wohlbefinden und die Bedürfnisbefriedigung durch qualitativ hochwertige und ökologisch verträgliche Produkte und Dienstleistungen zur Grundlage. Als wichtige Prinzipien auf dem Weg dazu gelten die Produktivitätssteigerung durch Effizienz (im Sinne eines sparsamen Material- und Energieverbrauchs), kürzere Arbeitszeiten, Subsistenz, Regionalität, Kleinunternehmertum, die intelligente Nutzung von High Tech, umweltbewusster Konsum, die „Rekapitalisierung“ des Sozialen, Vernetzung, Sharing, Open-Source-Wissen und die Verbreitung von Fähigkeiten für nachhaltige Lebensformen. Wachstum und Selbstregulation der Märkte, die im „business als usual“ als Allheilmittel firmieren, werden unter Einbezug der Kosten für die Umweltschädigung und den Naturverbrauch analysiert. Schors wachstumskritischer Ansatz zeichnet sich jedoch nicht primär durch Verzichtforderungen, sondern durch die Vision einer beglückenden individuellen, gesellschaftlichen und ökologischen Fülle aus.
Autorin
Juliet B. Schor ist US-amerikanische Ökonomin und Soziologin. Derzeit ist sie Professorin für Soziologie am Boston College. Davor arbeitete sie an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist die deutsche Erstausgabe der 2010 veröffentlichen Originalausgabe mit dem Titel „Plenitude. The New Economics of True Wealth“. Es ist unter dem Eindruck der Finanzkrise 2008 und dem Kopenhagener Klimagipfel 2009 entstanden.
Aufbau und Inhalt
Den fünf Kapiteln vorangestellt ist eine Einführung zur deutschen Ausgabe, in der die Autorin die Entwicklungen seit 2010 reflektiert. Die Kapitel lauten:
- Ein Weg aus der Krise
- Vom Konsumrausch zum ökologischen Bankrott
- Wirtschaftswissenschaft kontra Erde
- Erfüllt leben auf einem angezählten Planeten
- Die Plenitude-Ökonomie
Zu 1.
Im ersten Kapitel werden Kerngedanken des Buchs in einem Abriss vorgestellt. Für das Individuum bedeutet Plenitude, weniger Zeit am Markt (mit Arbeit und Konsum) zu verbringen und mehr Zeit für soziale Beziehungen, ökologische Erneuerung und eigenständige Bedarfsdeckung zu investieren. Eine neue Zeitkultur, Selbstversorgung, umweltbewusster Konsum und Gemeinschaftsbildung (Aufbau von Sozialkapital) werden als Bausteine einer nachhaltigen Lebensführung vorgestellt. Wahrer Wohlstand würde jedoch nicht nur individuelle Verhaltensänderungen, sondern auch eine umfassende Veränderung des ökonomischen Diskurses in Wirtschaftswissenschaft, Gesellschaft und Politik bedeuten. Das gegenwärtige Paradigma bezeichnet Schor als „Business as usual“ (BAU). BAU beruht auf extensivem Wirtschaftswachstum durch die Ausbeutung endlicher fossiler Energieträger. Schor fordert demgegenüber, Preise für natürliche Ressourcen und Kosten der Umweltschädigung in ökonomischen Kalkulationen einzurechnen. Kollabierende Ökosysteme werden mittel- und langfristig immense Folgekosten erzeugen, so dass die sparsame Nutzung natürlicher Ressourcen und die ausgiebige Nutzung anderer Ressourcen (Zeit, Wissen, Technologie, soziale Gemeinschaft) nicht nur ökologisch, ethisch und sozial, sondern auch ökonomisch sinnvoll wäre.
Zu 2.
Zunächst am Beispiel der Textilindustrie, das sich auf andere Branchen übertragen lässt, wird geschildert, wie sich der Güterstrom beschleunigt, der Konsum vergrössert und damit der Ressourcenverbrauch gesteigert hat. Verschiedene Phänomene der „Entmaterialisierung“ – wie der Umstand, dass bei schnell wechselnden Moden nicht die Funktionalität der Ware, sondern das symbolische Image vom Verbraucher konsumiert wird, und die Tatsache, dass manche Produkte leichter gebaut werden – haben nicht zu einem geringeren Materialverbrauch geführt. Der Pro-Kopf-Verbrauch steigt und damit auch der Abfall durch das Wegwerfen und der Abraum durch die industrielle Produktion. „Im Jahr 2000 betrug der gesamte Materialverbrauch in den USA (inklusive der Importe und des Abraums/Abfalls) 17,9 Milliarden Tonnen. Das entspricht 59,8 Tonnen Öl, Sand, Getreide, Eisenerz, Kohle und Holz pro Kopf.“ (S. 63). Die Grenzen des Wachstums der BAU-Wirtschaft sind erreicht, wie auch die rasante Erderwärmung, das Massenaussterben von Arten und die empfindlichen Störungen der ozeanischen Ökosysteme zeigen. Das Modell des „ökologischen Fussabdrucks“ (ein Mass für die Fläche, die genutzt wird, um Nahrung, Treibstoffe, Kunststoffe etc. zu erzeugen) kann verdeutlichen, dass die Bio-Kapazität der Erde bereits jetzt deutlich überschritten wird. Das Kapitel schliesst mit dem Zwischenfazit, dass die finanzielle und die ökologische Krise miteinander verwoben sind und nur gemeinsam gelöst werden können.
Zu 3.
Im dritten Kapitel werden die Wirtschaftswissenschaften thematisiert. Statt Umweltschädigungen als blosse Externalitäten des Markts zu betrachten, plädiert Schor dafür, Ökosysteme als Grundlage der Wirtschaft ins Zentrum zu stellen. Die konventionelle „Substitutionsökonomik“ geht davon aus, dass natürliche Rohstoffe durch erzeugte Substitute ersetzt werden, dass der Markt Umweltprobleme allein durch technologischen Fortschritt löst und dass Umweltschutz wirtschaftsfeindlich sei. Diese auch in Politik und Gesellschaft weit verbreiteten Setzungen werden angefochten. Wirksame Umweltschutz-Interventionen etwa würde einen Bruchteil der Wirtschaftsleistung erfordern, die durch den Klimawandel und die Beeinträchtigungen weiterer Ökosysteme vernichtet werden. Die Kosten der Umweltschädigung bleiben jedoch durch partielle, kurzfristige Buchhaltung unsichtbar. Auch technologische Innovationen sind im gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen. Bei der an sich wünschenswerten Energieeffizienz bspw. werden die positiven Klima-Effekte aufgehoben, wenn durch sinkende Preise mehr Produktion und mehr Nachfrage entstehen. Der alternative Ansatz, den Schor vorschlägt, geht mit weniger extensivem Wachstum und weniger Konsum einher, kalkuliert die Kosten geschädigter Ökosysteme ein und setzt auf Produktivitätszuwächse durch Effizienzsteigerungen, die in wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Gesamtstrategien eingebettet sind – sowie umfassendere Kriterien von Wohlstand.
Zu 4.
Das vierte Kapitel führt die Plenitude-Prinzipien, die von Einzelnen umgesetzt werden können, näher aus. Gegenüber der beobachteten Tendenz steigender Arbeitszeiten der Beschäftigten, die mit zunehmend aufwendigem Konsum in der kürzer werdenden Freizeit einhergeht, wird eine Diversifikation der persönlichen Zeitallokation empfohlen, die nicht-monetäre Gewinne und alternative Formen der Bedürfnisbefriedigung einbezieht (z. B. Zeit für soziale Beziehungen, ehrenamtliches Engagement, Tauschgeschäfte, Selbstversorgung). Grösserer Zeitwohlstand und verstärkte Teilzeitarbeit wirke Überarbeitung und stressbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen entgegen, sei ein Beitrag zu gerechteren Arbeitsmärkten und bedeute einen kleineren ökologischen Fussabdruck. Hinsichtlich Selbstversorgung illustriert Schor (unter Stichworten wie z. B. micro farming, urban gardening, do-it-yourself, smart technology und Permakultur), dass mit Kreativität und Kooperation originelle, hochwertige und nachhaltige Produkte erzeugt werden können. Die Eigenproduktion von Nahrungsmitteln, Energie, Kleidung und Wohnraum, die Schor beschreibt, ist kleinräumig und dezentral ausgerichtet, nutzt aber High Tech wie z. B. digitale 3-D-Drucker. In Bezug auf den Konsum bilden langlebige, qualitativ hochwertige, multifunktionale und individuelle angepasste Produkte mit sichtbaren Öko-Scores das Ideal. Gebrauchtwaren- und Tauschhandel, Sharing und Redimensionierungen (von Wohnraum bspw.) sind weitere Elemente eines ökologisch vernünftigen Konsums. Schliesslich empfiehlt Schor die Verstärkung und Wiederbelebung von sozialen Beziehungen und Gemeinschaften, die nicht zuletzt Formen der wechselseitigen Unterstützung erlauben, die andernfalls als Dienstleitungen vermarktet werden müssen.
Zu 5.
Die Plenitude-Ökonomie geht von der Beobachtung aus, dass heute Arbeitskräfte, Geld und Maschinen reichlich vorhanden sind, während gesunde Ökosysteme und natürliche Rohstoffe knapp sind. Im Industriezeitalter, in dem BAU noch verharrt, waren die Voraussetzungen umgekehrt. Eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung wäre die freie Verbreitung von Wissen für umweltverträgliche Produktions- und Lebensformen. Denn eine proprietäre Wissensökonomie schränkt die Entstehung und Verbreitung von Innovationen ein. Des Weiteren entsprechen Kleinbetriebe, die netzwerkartig miteinander kooperieren, den heute gegebenen Bedingungen in vielerlei Hinsicht besser als Grosskonzerne, die stark von der Finanzwirtschaft abhängen (und daher auch unbedingt wachsen müssen) und die aufgrund ihrer Instabilität und Systemrelevanz nicht selten auch staatliche Subventionen erfordern. Die Verkürzung von Arbeitszeiten kann in Verbindung mit einer erhöhten Arbeits- und Ressourceneffizienz zur Verringerung von Arbeitslosigkeit führen. Darüber hinaus eignen sich Schutz und Sanierung der Natur als Jobmotor. Auch ein „grünes“ Wirtschaftswachstum kann perspektivisch möglich werden. Schor führt im letzten Kapitel jedoch aus, dass das „Wachstumsdogma“ sowohl gesamtwirtschaftlich als auch für einzelne Unternehmen sowie wie Personen/Haushalte gründlich hinterfragt werden muss und dass die Expansion von Wohlstand in der Bevölkerung davon nicht abhängt.
Diskussion
Das Buch „Wahrer Wohlstand“ steht in einer Reihe wachstumskritischer Beiträge, die ökonomische Zusammenhänge – anders als im Mainstream üblich – umfassender begreifen und damit an die eigentliche Funktion der Wirtschaft erinnern, nämlich die Voraussetzungen für ein gutes Leben zu schaffen. Die epochale Herausforderung des drohenden Ökozids erfordert ein folgenreiches Umdenken in allen gesellschaftlichen Bereichen und insbesondere in der Wirtschaft. Die naheliegende, aber weitreichend und gründlich ignorierte Tatsache, dass Menschen von funktionierenden Ökosystemen, dessen Teil sie sind, abhängen, wird von Schor wirtschaftswissenschaftlich zentral gestellt. Zusammenhänge von Ökologie und Ökonomie mit den (2010) verfügbaren Fakten detailreich und mit Weitblick herausgearbeitet und einem breiteren Publikum anschaulich gemacht zu haben, darin ist das Verdienst dieses Buch zu sehen. Der Beitrag von Schor besticht insbesondere in der Analyse wirtschaftswissenschaftlicher Engführungen, die Dogmatismen und kurzsichtigem Handeln in breiten Kreisen von Gesellschaft und Politik entsprechen. Die herausgearbeiteten Vorschläge zur Verhaltens- und Verhältnisänderung stellen einen plausiblen Entwurf darf, der weitere Auseinandersetzung anregt, wissenschaftliche und politische Weiterführungen erfordert. Die wissenschaftliche Ergänzungsbedürftigkeit ist teilweise der unbefriedigenden Datenlage der neu entstehenden Forschungsperspektiven geschuldet. Darüber hinaus bietet das Werk diverse interessante theoretische Anschluss- und Verbindungsstellen – bspw. zu Amarytas Sens Arbeiten zur sozialen Gerechtigkeit oder auch zu ökonomischen Klassikern wie John Maynard Keynes. Wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitische Implikationen der Plenitude-Ökonomie sind an manchen Stellen bereits angedeutet und rufen nach weiterer Diskussion. Sehr konkret sind die Anregungen zu modifizierten Lebens- und Konsumformen, die orientierend und anregungsreich sind, ohne je auf das Niveau schlechter Ratgeberliteratur zu sinken.
Fazit
Das Buch bietet einen wissenschaftlich fundierten, solide informierenden und zugleich verständlich geschriebenen Aufweis ökologischer und ökonomischer Interdependenzen. Die Botschaft, dass ein erweitertes Wohlstandskonzept zwar quantitative Reduktionen oder/und qualitative Veränderungen hinsichtlich Wachstum, Einkommen und Konsum erfordert, aber nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist und ein Optimum an Wohlsein und Zufriedenheit erlaubt, vermag zu überzeugen und zu motivieren. Die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen für die Wirtschaft und die Gesellschaft sind historisch einmalig und gewaltig. Sofern es gelingt, die ökologische Dimension im wirtschaftlichen Denken grundlegend zu verankern, wird Schor als eine Wegbereiterin dieses Paradigmenwechsels gelten können.
Rezension von
Prof. Dr. Matthias Hüttemann
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