Christoph Sänger: Persönlichkeit, Humanismus, Sozialismus
Rezensiert von Dr. Sebastian Engelmann, 06.04.2016
Christoph Sänger: Persönlichkeit, Humanismus, Sozialismus. Eine Einführung in die Pädagogik.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2016.
230 Seiten.
ISBN 978-3-8340-1542-6.
D: 19,80 EUR,
A: 20,40 EUR.
Pädagogik und Politik, Band 9.
Thema
Sozialistische Pädagogik ist heute allemal ein Nischenthema. Bei dem Stichwort wird zumeist direkt die pädagogische Praxis im Erziehungsstaat DDR assoziiert. Die Auseinandersetzung mit der „anderen“ sozialistischen Pädagogik – sei es nun in Form frühsozialistischer Erziehungskonzepte wie denen von Charles Fourier oder Franz Heinrich Ziegenhagen, oder auch den Ideen von Denkerinnen wie Clara Zetkin und Minna Specht wird mit Ausnahme von vereinzelten Publikationen zumeist wenig Beachtung geschenkt. Dieses offensichtliche Forschungsdesiderat verspricht noch viel Potenzial für eine fruchtbare Auseinandersetzung, welche nicht nur in historischer Perspektive einen Erkenntniszuwachs vermuten lässt, sondern auch in systematische Hinsicht die aktuelle pädagogische Theoriebildung befördern könnte. Gerade im Moment sind nach meinem Kenntnisstand Sammelbände zu sozialistischer Pädagogik in Vorbereitung und auch Dissertationen zu einzelnen Konzepten wie dem der solidarischen Bildung sind zurzeit im Entstehen. Eine zunehmende Beachtung der vergessenen Zusammenhänge kann dementsprechend konstatiert werden – was auch Sozialphilosophen wie Axel Honneth in aktuellen Veröffentlichungen für den Sozialismus selbst bestätigen.
Autor und Entstehungshintergrund
Dr. Christoph Sänger, seit 1992 Lehrer an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, legt mit diesem Buch eine weiterführende Arbeit vor, die an einigen Stellen auf seine Dissertation „Anna Siemsen – Bildung und Literatur“ zurückgreift.
Das Buch erscheint als neunter Band in der von Armin Bernhard, Eva Borst und Matthias Rießland herausgegebenen Reihe „Pädagogik und Politik“ die es sich zum Ziel gesetzt hat pädagogische und erziehungswissenschaftliche Grundsatzdiskussionen mit sozialkritischen Perspektiven zu kombinieren und zugleich einzelne Persönlichkeiten und Organisationen vorzustellen, die der Denktradition der Kritischen Pädagogik zuzurechnen sind.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in zehn Abschnitte und wird durch ein ausführliches Literaturverzeichnis und einen kurzen Überblick über den Lebenslauf von Anna Siemsen ergänzt.
Auf die Einleitung folgt eine kurze biografische Skizze, die die nötigen Kontextinformationen zum Leben Siemsens liefert. Im Anschluss daran folgen die Auseinandersetzung mit der Stellung und Rezeption Siemsens in der Pädagogik und relevante zeitgeschichtliche Hintergründe.
Auf diese eher historischen Ausführungen folgt eine erste systematische Annäherung an die Pädagogik von Anna Siemsen über die Auseinandersetzung mit zentralen Gedanken zu Fortschritt, Menschenbild, Sozialismus, Reformpädagogik/Sozialistischer Pädagogik und Gesellschaft/Gemeinschaft.
Die pädagogischen Leitbegriffe Siemsens, Erziehung und Bildung, werden im darauffolgenden Kapitel elaboriert um dann – den eher die pädagogische Praxis beschreibenden Teil der Arbeit einzuleiten – pädagogische Handlungsfelder, in denen Siemsen aktiv war zu umreißen.
Einen spezifischeren Teil bilden die Auseinandersetzungen mit Siemsens Ideen zu Literatur und Bildung und ihre damit einhergehende Bedeutung für die Literaturpädagogik.
Eine Einordnung Siemsens in den Kontext der Kritischen Pädagogik und eine kritische Bilanzierung der Arbeit und der Chancen und Grenzen einer Auseinandersetzung mit Siemsen schließen den Band ab.
Inhalt
„Man darf Anna Siemsens Schriften verstärkt Beachtung, ja eine Renaissance wünschen.“ (Sänger 2016: 4) Dies schreibt Sänger in der Einleitung seines Buches und dieses Postulat ist der normative Antrieb des darauffolgenden Textes. Anna Siemsen, 1982 geboren und 1951 gestorben, ist eine wenig beachtete Persönlichkeit. Sie hat zwar einen Eintrag in der Deutschen Biographie, ist aber nur selten Referenzpunkt der pädagogischen Wissenschaft.
Über die Stationen Kindheit und Jugend, Studium und Beruf, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Exil in der Schweiz und ihr Leben im Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg rekonstruiert Sänger einen Lebensweg, der auch stellvertretend für „die Anstrengungen und Brüche der sozialistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (Sänger 2016: 16) gelesen werden kann.
Sänger schließt an die biografischen Ausführungen an und skizziert die Rezeptionsgeschichte – nicht ohne auf die sowohl positiven als auch negativen „Echos“ einzugehen, die Siemsen bei ihren Zeitgenossinnen hervorgerufen habe. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird der aktuelle Stand der Forschung zur Pädagogik Siemsens wiedergegeben und diskutiert und es werden mögliche Gründe für die Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit ihr gegeben, wie beispielsweise die geringe Bekanntheit und Verfügbarkeit ihrer Schriften und die Exilantenpolitik im Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, die es für Exilantinnen schwer machte, angemessene Anstellungen zu bekommen. Trotz des Aufschwungs der Kritischen Theorie kam es nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Siemsen. Diese setzt nach Sänger aber um 1980 ein (vgl. Sänger 2016: 39-40), trotzdem haben „[Außenseiter, S.E.] es nicht zu zeitlebens schwer, ihren Positionen Gehör zu verschaffen, auch nach ihrem Tod fehlen meist Traditionszusammenhänge und Seilschaften, die ihre Werk am Leben erhalten.“ (Sänger 2016: 40) Gerade der Punkt der Verfügbarkeit und der ausblendende Umgang mit solchen Texten wird auch von Michael Winkler in seinen Ausführungen zu pädagogischen Klassikern belegt. Einen eigenen Abschnitt widmet Sänger der Lesebuch- und Schulbuchforschung, die trotz relevanter Vorarbeiten Siemsens sich nicht auf diese beziehe.
Nach den personenbezogenen Ausführungen setzt Sänger sich mit dem zeitgeschichtlichen Kontext auseinander, in dem das Werk Siemsens stehe. Parallel zu den bereits im biografischen Teil genutzten Kategorien Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, Exilzeit und Deutschland nach 1945 erläutert Sänger, welche geschichtlichen Variablen im Werk Siemsens nachhallen und dieses beeinflusst hätten.
Nach diesem geschichtlichen Abschnitt schlägt die Arbeit einen Bogen zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Begriffen der Pädagogik Siemsens. Sänger füllt durch reichlichen Rückgriff auf die Schriften Siemsens Verständnis von Pädagogik, Fortschritt, Sozialismus, Gemeinschaft, Gesellschaft und ihr Menschenbild aus um Siemsen dann in den Kontext der sozialistischen Pädagogik in der Reformpädagogik einzuordnen. Hierbei gibt er auch einen Überblick darüber, was unter dem Stichwort Sozialistische Pädagogik verstanden werden kann, die oftmals „nicht so leicht zu fassen“ (Sänger 2015: 91) sei. Trotzdem liefert Sänger eine präzise Deskription dessen, was im Allgemeinen unter dem Stichwort diskutiert wird. Löwenstein, Kanitz, Oestreich und Bernfeld – alle werden sie genannt und eingeordnet (vgl. Sänger 2016: 97).
Neben dieser Einordnung in das weite Feld der Pädagogik leistet Sänger im nächsten Kapitel aber noch mehr, wenn er über die systematisch leitenden Begriffe der Pädagogik bei Siemsen reflektiert. Über allgemeine Ausführungen zu Erziehung und Bildung (vgl. Sänger 2016: 111) hinausgehend, differenziert er zwischen der Anpassung des Individuums in die Gesellschaft und der Bildung als Motor der Entstehung der Urteilskraft. Er arbeitet heraus, dass Siemsen geradezu als eine klassische Bildungstheoretikerin zu verstehen sei (vgl. Sänger 2015: 123f.).
Nach diesen theoretischen Ausführungen wird es praktisch. Sänger beschreibt in einem nahtlos an den ersten Teil anschließenden zweiten Teil die praktische Tätigkeit von Anna Siemsen. Wie viele ihrer sozialistischen Zeitgenossinnen war auch Siemsen auf vielfältigste Art aktiv. Sie wirkte als Schulpolitikerin, war Mitglied vom Bund Entschiedener Schulreformer, der Kinderfreundebewegung, wirkte als Hochschullehrerin und war in der Arbeiterinnenbildung und sowohl vor als auch nach ihrem Exil in der Lehrerinnenbildung tätig – diese Aktivität teilt sie mit anderen sozialistischen Pädagoginnen wie Minna Specht oder Clara Zetkin. All das zeichnet Sänger in diesem Kapitel facettenreich und informiert nach und ermöglicht so eine noch klarere Einordnung Siemsens in die Geschichte der Pädagogik.
Einen weiteren eigenständigen Teil der Arbeit stellt das Kapitel zum Verhältnis von Literatur und Bildung bei Anna Siemsen dar. Hier bezieht sich der Autor unter anderem auf seine Dissertation zum Thema und verdeutlicht der Leserin die von Siemsen angenommene Verbindung von Literatur und Bildung, gerade auch durch einen breiten Zugang zu Literatur: „Der Zugang möglichst vieler zur Welt der Literatur, wie es die Demokratisierung der Bildungsmittel in der Moderne erlaubt, ist für sie begrüßenswert, ohne dass Siemsen nun Bildung im Sonderangebot versprechen, d.h. ihre selbstständige Lektüre für verzichtbar erklären würde.“ (Sänger 2016: 184)
Den Abschluss des inhaltlichen Teils des Buches macht eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen Kritischer Pädagogik und dem Werk von Siemsen. In diesem Kapitel weist Sänger auf Forschungslücken hin. Auch wenn Siemsen von der Kritischen Pädagogik angeführt wird besteht nach Ansicht Sängers doch noch Differenzierungsbedarf. Das Kapitel schafft auf diese Weise einen Übergang zur abschließenden Schlussbemerkung und weist darauf hin, dass gerade in Zeiten der Globalisierung die Ideen von Bildung und Erziehung von Siemsen und der Kritischen Pädagogik gut zusammengedacht werden können (vgl. Sänger 2016: 202-204).
Den Abschluss des Buches bildet dann eine kritische Würdigung der Arbeiten Siemsens, da gerade diese Kritik notwendig sei. Geschichtsbild, Gemeinschaftsidee und auch die oftmals pathosgeladene Sprache Siemsens seien Punkte, die kritikwürdig seien und auch die Idee der unbedingten Umsetzung des Sozialismus – so Sänger – sei heutzutage wahrscheinlich nicht mehr in Lage, die Menschen zu mobilisieren. Hier differenziert Sänger aber zwischen einer frühen und einer späten Siemsen. Wo die frühe Siemsen noch ein verklärtes Gemeinschaftsbild vertreten hätte, sei die spätere Siemsen von diesem abgerückt (vgl.Sänger 2016: 206). Weitere Anmerkungen werden gegeben, das Buch schließt ab mit einer Reflexion auf die „unspektakuläre[.] Bücherverbrennung“ (Sänger 2016: 216), die heutige Abkehr von Literatur und liest sich wie ein Plädoyer für die Literaturpädagogik Siemsens.
Diskussion
Sänger polarisiert mit seinem Buch nicht. Im besten Sinne der Deskription liefert er einen vertieften Einblick in das Werk von Anna Siemsen, das an den relevanten Stellen ergänzt und die Materie greifbar macht. Einziger Kritikpunkt ist die teilweise fehlende Vermittlung des Textes. In seltenen Fällen fühlte ich mich als Leser wenig an die Hand genommen und ein wenig verloren in der Flut der Informationen. Aber so ist auch der Text selbst ein Einlass für Bildungsprozesse.
Fazit
Das Buch von Dr. Christoph Sänger gehört definitiv zu einem der besten auf dem Gebiet der sozialistischen Pädagogik. Sänger zeichnet das Bild der Pädagogin Siemsen differenziert und facettenreich, spart aber auch nicht mit Kritik. Besonders hervorzuheben ist seine unideologische Herangehensweise, die in der kritischen Reflexion von Siemsens Werk in Kapitel 10 geleistet wird. Trotz expliziter Bezugnahme auf die Tradition der Kritischen Pädagogik ist das Buch von Sänger niemals belehrend oder einseitig. Es ist zu begrüßen, dass durch dieses Buch die Diskussion von Anna Siemsen mehr in den Fokus der Pädagogik gerückt wird. Dies sollte durch das Buch von Sänger – und seinen umfangreichen Anmerkungs- und Literaturapparat – durchaus möglich sein. In einem Seminar oder für eine Haus- oder Abschlussarbeit im Themengebiet Sozialistische Pädagogik ist dieses Buch ein absolutes Must-Have!
Rezension von
Dr. Sebastian Engelmann
Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allgemeine Pädagogik
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Zitiervorschlag
Sebastian Engelmann. Rezension vom 06.04.2016 zu:
Christoph Sänger: Persönlichkeit, Humanismus, Sozialismus. Eine Einführung in die Pädagogik. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2016.
ISBN 978-3-8340-1542-6.
Pädagogik und Politik, Band 9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20565.php, Datum des Zugriffs 04.10.2024.
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