Martin W. Schnell, Christian Schulz et al. (Hrsg.): Junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen
Rezensiert von Dr. rer. medic. Kerstin Kremeike, 16.06.2016
Martin W. Schnell, Christian Schulz, Udo Kuckartz, Christine Dunger (Hrsg.): Junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen. Eine Typologie. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2016. 171 Seiten. ISBN 978-3-658-12316-1. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch ist in der Reihe Palliative Care und Forschung erschienen und beschreibt Durchführung und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Thema ist die Veränderung der Einstellung junger Menschen bezüglich der Endlichkeit des Lebens durch Gespräche mit einem sterbenden Menschen und/oder deren Angehörigen.
Herausgeber und Herausgeberin
- Prof. Dr. Martin W. Schnell ist Lehrstuhlinhaber für Sozialphilosophie und Ethik sowie Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG) an der Universität Witten/Herdecke.
- Dr. Christian Schulz ist Oberarzt und stellvertretender Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.
- Prof. Dr. Udo Kuckartz ist Professor für Empirische Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg im Ruhestand.
- Christine Dunger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Ethik sowie Mitarbeiterin am IEKG an der Universität Witten/Herdecke.
Entstehungshintergrund
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Diskursprojekt „30 junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen und deren Angehörigen“ zielte darauf ab, dass junge Menschen durch Gespräche mit sterbenden Patienten und ihren Angehörigen eine reflektierte Haltung zum Lebensende gewinnen. Diese Gespräche sind auf der Homepage www.30jungemenschen.de abrufbar und es wurde ein Buch über das Projekt mit dem Titel „Dem Sterben begegnen“ veröffentlicht. Vorliegender Band stellt die Begleitforschung zum Projekt und die daraus gewonnen Erkenntnisse dar.
Aufbau
In der Buchreihe Palliative Care und Forschung umfasst jeder Band die Darstellung einer qualitativen/sozialwissenschaftlichen Methode, ihre wissenschaftstheoretische Reflexion, eine Studie aus dem Bereich Palliative Care, die die beschriebene Methode anwendet und eine kommentierte methodenbezogene Literaturliste.
Entsprechend enthält vorliegender Band eine wissenschaftstheoretische Einordnung der Typologie von Martin W. Schnell und ein Kapitel zur Typenbildung sowie der typenbildenden Inhaltsanalyse von Udo Kuckartz. Dem Bericht über das Diskursprojekt und der Darstellung der erfahrungsbasierten Einstellungsänderungen junger Menschen zum Lebensende ist jeweils ein weiteres Kapitel gewidmet. Der Band schließt mit Ausführungen zur Grundlagen- und weiterführenden Literatur von Christine Dunger.
Inhalt
1. Die Typologie im Licht der Wissenschaftstheorie
Nach einer Definition zur Wissenschaftstheorie nach Pierre Bourdieu wird der Zusammenhang von Selbstinterpretation und sozialen Strukturen in der qualitativen Forschung betrachtet. Unter Bezugnahme auf Harold Garfinkel werden Vor- und Nachteile der qualitativen Forschung erläutert und die Reflexion auf soziale Umstände als ein Gütekriterium thematisiert. Auf Subjektivismus und Objektivismus wird in diesem Kapitel ebenso eingegangen wie auf die Frage, was Daten eigentlich sind und wie Transkriptionsregeln die Auswahl und Bearbeitung bestimmter Informationen aus den Daten unterstützen können. Neben dem Problem der Relevanz nach Alfred Schütz findet dabei auch die Definition der Totalen Institution nach Ervin Goffman Berücksichtigung sowie das implizite Wissen als Herausforderung für die wissenschaftstheoretische Reflexion.
Vor diesem Hintergrund wird auf die (Begriffs-) Geschichte der Typik eingegangen und Typen, Typologien sowie die Typenbildung behandelt. Außerdem wird der Typus in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in der empirischen Forschung sowie als Erscheinungs- und Erfahrungsweise gesondert thematisiert. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu Grenzen des Typus und zu Stereotypen.
2. Typenbildung und typenbildende Inhaltsanalyse in der empirischen Sozialforschung
Udo Kuckartz bezieht sich in seiner Einleitung zur Typisierung im Alltag auf die Position der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz. Kernpunkt dieser Sichtweise des menschlichen Handelns in der Lebenswelt ist die Orientierung des Einzelnen an (wechselseitigen) typisierenden Erfahrungen. Diese Typisierung im Alltagsleben ist von der wissenschaftlichen Typenbildung zu unterscheiden.
Es werden sozialwissenschaftliche Definitionen zu Typologie angeführt und die Differenzperspektive, der Merkmalsraum sowie die Tradition der Typenbildung bei Max Weber erläutert. Anschließend wird dargelegt, wann und warum eine Typenbildung sinnvoll ist und welche Prinzipien sowie welcher grundlegende Ablauf dabei zu beachten sind. Im Anschluss wird die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse in der Forschungspraxis vorgestellt.
3. Vom Leben mit der Sterblichkeit
Das dritte Kapitel beinhaltet einen Bericht über das Diskursprojekt „30 junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen und deren Angehörigen“. Darin wird auf den Entstehungshintergrund des Projekts ebenso eingegangen wie auf die Projektphasen, Schwierigkeiten bei der Umsetzung und die Teamzusammensetzung.
Die Auswahl der 30 jungen Menschen sowie das Kennenlernen und der Workshop werden erläutert, in dem die jungen Menschen auf die Gespräche vorbereitet wurden. Es folgen Schilderungen zur Durchführung der Gespräche auf einer Palliativstation, im Hospiz oder in Privat-Wohnungen einschließlich Feldnotizen begleitender Projektmitarbeiter.
Nach kurzen Ausführungen zum aus dem Projekt entstandenen Film, den 30 online verfügbaren Videoclips und einem sich anschließenden Kunstprojekt folgt eine kurze Einführung in die Begleitforschung. Das Kapitel schließt mit öffentlichen Reaktionen auf das Projekt.
4. Gespräche mit sterbenden Menschen und deren Angehörigen
Gegenstand der Begleitforschung waren die erfahrungsbasierten Einstellungsänderungen junger Menschen zum Lebensende. Dazu wurden acht der Probanden nach dem Workshop, aber vor den Begegnungen mit den sterbenden Menschen erstmalig interviewt und 4 – 6 Wochen nach den Gesprächen mit den Sterbenden und/oder ihren Angehörigen erneut.
In diesem Kapitel werden Fragestellung, Ziel sowie Design der Begleitstudie und das methodische Vorgehen vorgestellt. Ausgewertet wurden die Daten anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring und einer sich anschließenden Typenbildung nach Kuckartz.
Bei der Darstellung der Ergebnisse werden Fallbeschreibungen angeführt und Haltungsänderungen für alle acht Studienteilnehmer in Abbildungen sowie durch Einordnung in den Merkmalsraum veranschaulicht. Damit werden mögliche Veränderungen in der Einstellung zum Lebensende sichtbar gemacht.
Im Anschluss an die Ergebnisdarstellung wird die theoretische und praktische Relevanz der Ergebnisse diskutiert. Als theoretische Bezüge werden die Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross und Cicely Saunders sowie die Bewegung der Death Awareness und Death Education angeführt. Als Stärke und Besonderheit des im vorliegenden Buch beschriebenen Projekts wird die Verbindung der Herangehensweise von Kübler-Ross mit Ansätzen und Empfehlungen aus der Death Education hervorgehoben. Die Ergebnisse der Untersuchung seien mindestens dort von praktischer Relevanz, wo die hierbei gewonnenen Erkenntnisse in der Aus- und Weiterbildung von Heilberuflern Anwendung finden können. Der Diskurscharakter wird als eine weitere Besonderheit des Projekts angeführt. Damit werden private zu öffentlichen Themen, was eine reflexive Relevanz hat und damit in die Kulturwissenschaften hineinführt.
Diskussion
Vorliegender Band beinhaltet eine gut lesbare Methoden- und Projektbeschreibung der Palliative Care-Forschung. So wird etwa die Methode detailliert und übersichtlich, dabei aber dennoch kompakt dargestellt. Die Kapitel weisen geringfügige Redundanzen auf und lassen sich dadurch auch gut einzeln lesen. Eine theoretische, methodische und/oder thematische Vertiefung sollte zwar anhand weiterführender Literatur stattfinden, das Buch gibt aber einen guten Einblick in ein spannendes Projekt und die Realisierung von Palliative Care-Forschung.
Fazit
Der in der Buchreihe Palliative Care und Forschung erschienenen Band umfasst die Begleitforschung und daraus gewonnene Erkenntnisse zum Projekt „30 junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen und deren Angehörigen“. Das Projekt zielte auf die Entwicklung einer reflektierten Haltung junger Menschen zum Lebensende durch Gespräche mit sterbenden Patienten und ihren Angehörigen.
Das Buch beinhaltet eine kompakte wissenschaftstheoretische Einordnung von Typologie, die Typenbildung und die typenbildende Inhaltsanalyse. Es wird über das Diskursprojekt und die erfahrungsbasierten Einstellungsänderungen junger Menschen zum Lebensende berichtet. Damit erhält der Leser einen guten theoretischen, methodischen und praktischen Einblick in ein spannendes Projekt und die Forschung im Bereich Palliative Care.
Rezension von
Dr. rer. medic. Kerstin Kremeike
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Zentrum für Palliativmedizin
Universitätsklinikum Köln (AöR)
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Es gibt 24 Rezensionen von Kerstin Kremeike.
Zitiervorschlag
Kerstin Kremeike. Rezension vom 16.06.2016 zu:
Martin W. Schnell, Christian Schulz, Udo Kuckartz, Christine Dunger (Hrsg.): Junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen. Eine Typologie. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-12316-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20571.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
Urheberrecht
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