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Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.03.2016

Cover Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben ISBN 978-3-86581-705-1

Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. oekom Verlag (München) 2015. 224 Seiten. ISBN 978-3-86581-705-1. 16,95 EUR.

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Was ist ein „gutes Leben“?

In der anthropologischen Philosophie eines Aristoteles wird „eu zên“, gut leben, vom bloßen Leben unterschieden. Während ein Tier nur lebt, ist der Mensch, weil er am Göttlichen Anteil hat, zum guten Leben befähigt; Kraft seiner Vernunft ein sittlich gutes und autarkes Leben führen kann, weil nämlich der anthrôpos Allgemeinurteile zu bilden vermag und zwischen Gut und Böse unterscheiden kann (vgl. dazu: F. Ricken und S. Völlinger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 224ff und 47ff). Als 1854 weiße Abgesandte von Siedlern beim Häuptling Sealth der Suquamish-Indianer auftauchten und Land von ihm kaufen wollten, da entgegnete er ihnen entrüstet: „Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört zur Erde“ (MAB, Deutsches Nationalkomitee für das UNESCO-Programm „Der Mensch und die Biosphäre“, Bonn 1990, S. 8). Die Erzählungen lassen sich fortsetzen, etwa mit dem Bericht an den „Club of Rome“, in dem 1972 sieben junge Wissenschaftler des Massachussetts Institute of Technology (MIT) die Menschheit damit schockierten, dass „die Grenzen des Wachstums“ erreicht seien; 1987, als die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem Brundtland-Bericht mahnten, dass wirtschaftliches Wachstum nicht mehr nach dem Motto „business as usual“ funktionieren könne und anstelle eines „throughput growth“, Durchflusswachstum, „sustainable development“, tragfähige Entwicklung, das Denken und Handeln der Menschen bestimmen müsse (Robert Goodland, u.a., Hrsg., Nach dem Brundtland-Bericht: Umweltverträgliche Entwicklung, Bonn 1992, S. 9ff), und – um aus der Fülle der Analysen und Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt nur diese Alarmrufe zu nennen – die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Perspektivenwechsel aufforderte: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe 1997, S. 18).

Hören die Menschen zu? Gibt es Lichtblicke, dass die Menschheit einen Bewusstseinswandel für ein gegenwärtig gutes, gerechtes Leben und ein humanes, zukünftiges Überleben für alle Menschen auf der Erde vollzieht? Oder verhallen diese Rufe in der unwirtlichen Wüste von Egoismus, fehlender Solidarität und Verantwortungslosigkeit? Überwiegen Pessimismus und Fatalismus? Gibt es Bemühungen, die fatale Entwicklung zu überwinden, dass lokal und global die Habenichtse immer ärmer und hoffnungsloser und die Besitzenden immer reicher und selbstgefälliger werden?

Gegen diese Einstellungen und Auffassungen gibt es zum Glück Menschen, die davon überzeugt sind und dafür eintreten, dass eine friedliche, gerechte und für alle Menschen auf der Erde lebenswerte Existenz möglich ist. Von einem soll hier die Rede sein: Von dem 1948 in Ecuador geborenen Wirtschaftswissenschaftler von der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften in Quito, Alberto Acosta Espinosa. Als ehemaliger Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und Minister für Energie und Bergbau hat er wesentlichen Anteil daran, dass das Konzept des „Buen Vivir“ als staatliches Entwicklungsmodell 2008 in der Verfassung verankert wurde, das traditionell-indigene Grundlagen (Sumak kawsay, „Rechte der Natur“) und die Menschenrechte im Sinne der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, berücksichtigt.

Es gibt eine Reihe von Anlässen, weshalb das von Alberto Acosta 2012 in spanischer Sprache erschienene Buch „Buen Vivir Sumak Kawsay“ 2015 erstmals in deutscher Sprache erschien. Da sind zum einen Acostas Beziehungen zu Deutschland. Er studierte von 1971 bis 1974 Betriebswirtschaftslehre an der FHS Köln und von 1974 bis 1979 an der Universität in Köln Volkswirtschaftslehre. In der Zeit zwischen 1970 bis 1979 war er Vizekonsul und Attaché an der ecuadorianischen Botschaft in Köln; 1979 erhielt er das Bundesverdienstkreuz; zum anderen sind es die jahrzehntelangen Beziehungen Acostas zur Friedrich-Ebert-Stiftung, in Deutschland und Ecuador. Deshalb hat auch die FES die Übersetzung und Herausgabe des Buches in deutscher Sprache gefördert. Ein ganz aktueller Anlass, weshalb hier das Buch vorgestellt wird, besteht darin, dass Alberto Acosta 2016 mit der bekannten, 1982 gegründeten und in Tübingen beheimateten lateinamerikanischen Musikgruppe „Grupo Sal“ eine Tournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz unternimmt. Das in Zusammenarbeit mit dem „Klima-Bündnis“ erarbeitete Programm sieht eine musikalisch-begleitete Lesung aus seinem Buch vor. Bei den Konzertlesungen sollen Fragen diskutiert werden: „Wie funktioniert Buen Vivir?“, „Können wir dieses Konzept auch in den westlichen Gesellschaften realisieren?“, und „Wie lassen sich die Aktivitäten lokal und global vernetzen?“. Die Auftaktveranstaltung und Premiere des Programms findet in Hildesheim statt, und zwar am 26. April 2016 mit einer Konzertlesung im Center for World Music der Universität, und am 27.4. mit einer Podiumsdiskussion, zu der vor allem Oberstufenschülerinnen und -schüler von Hildesheimer Schulen eingeladen werden sollen. Ein Schwerpunktthema bei dem Gespräch bildet die von Acosta und Mitstreitern vorgeschlagene „Yasuni-ITT Initiative“. Es geht darum, auf die Förderung der Erdölvorkommen im Yasuni-Biosphärenreservat zu verzichten, wenn die Weltgemeinschaft Ecuador einen finanziellen Ausgleich dafür gewährt. Dieses Geld soll für den Schutz der Regenwälder im Amazonasgebiet und in den anderen Weltregionen und zum Ausbau von erneuerbaren Energien verwendet werden.

„Pacha Mama“, „Mutter Erde“ entkommerzialisieren

Nun aber zum Buch „Buen Vivir“. Es ist das Bewusstsein, dass ein Perspektivenwechsel weg vom Ökonomismus und hin zu einer besseren, humanen Welt mit Einzelinitiativen allein nicht zu schaffen ist. Wir brauchen globale Solidarität, globale Empathie und globale Verantwortungsethik: „Eine andere Welt wird möglich sein, wenn sie demokratisch erdacht und geschaffen wird und Menschenrechte und die Rechte der Natur ihre Grundlage bilden“. Buen Vivir, wie die spanische Bezeichnung für „Sumak Kawsay“ und „Suma Qamaña“ in den indianischen Sprachen in den Anden- und Amazonasgebieten lautet, bedeutet, dass „das menschliche Individuum, integriert in seine Gemeinschaft, das harmonische Beziehungen mit der Natur pflegt und dabei, individuell genauso wie in der Gemeinschaft, nach dem Aufbau eines nachhaltigen, würdigen Lebens für alle strebt“.

In der Einführung des Buches schildert Alberto Acosta die Entstehungsgeschichte der Yasuni-Initiative, die, wie er ausführt, nicht auf den Schreibtischen von Phantasten entstanden ist, sondern sich als Volksmeinung gebildet hat. Dass der Vorschlag vom amtierenden Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, am 15. 8. 2013 ad acta gelegt wurde, vor allem mit den Begründungen, dass die Idee ihrer Zeit voraus war und auch von der Welt nicht verstanden und akzeptiert wurde, akzeptiert Acosta nicht: „In Wirklichkeit war es der Präsident selbst, der diesen von der ecuadorianischen Gesellschaft für die gesamte Welt erbrachten Vorschlag nicht verstanden hatte und ihm nicht gewachsen war“. Doch Alberte Acosta wäre nicht er selbst, wenn er diese Nicht-Entwicklung einfach hinnehmen würde. Er ist vielmehr optimistisch und überzeugt, dass die Yasuni-Idee, auch angesichts der zunehmenden Aufmerksamkeit der Weltbevölkerung wegen der CO²-Ausstöße und der Folgen des Klimawandels, zunimmt. Ein Anzeichen sieht er auch darin, dass im ökologischen und politischen Diskurs das Verb „yasunizar“ (yasunisieren) mittlerweile bei Widerstands- und Protestbewegungen gegen die Ökonomisierung des Leben und gegen globale Wirtschafts- und Energiemacht, etwa im Nigerdelta, auf den Lofoten in Norwegen, den Inseln San Andés und Providencia in Kolumbien, auf Lanzarote und in Ländern beim Fracking von Schiefergas und -öl, an Bedeutung gewinnt, und dadurch insgesamt sich in Ansätzen Veränderungsprozesse hin zu einem Buen Vivir einleiten.

In den folgenden Kapiteln werden Themen diskutiert, die Alberto Acosta bei verschiedenen Gelegenheiten seines ökonomisch-ökologischen Bemühens um Ein- und Übersicht thematisiert hat:

  • „Die Wege der Hölle kennen, um sie zu meiden“
  • „Das ‚gute Leben‘ – ein globaler Vorschlag“
  • „Die Entwicklung – von der Euphorie zur Ernüchterung“
  • „Das ‚gute Leben‘ – eine Alternative zur Entwicklung“
  • „Risiken und Gefahren für das ‚Gute Leben‘“
  • „Das ‚Gute Leben‘ und die Rechte der Natur“
  • „Der Aufbau eines plurinationalen Staats – eine komplexe Herausforderung“
  • „Eine andere Wirtschaft für eine andere Zivilisation“.

Diese einzelnen Texte verlangen vom Leser ein Gutteil von Vorinformation und Kenntnisse vom globalen Diskurs über ein alternatives Denken. Es lässt sich vielleicht – auch wenn sich Acosta nicht direkt darauf bezieht – auf die Aufforderungen der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom beziehen: „Was mehr wird, wenn wir teilen“ (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php; siehe auch: Jens Kersten, Hrsg., Inwastement. Abfall in Umwelt und Gesellschaft, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20614.php). Es sind die oberflächlich aberwitzig anmutenden Ideen, dass Buen Vivir als indigenes Denken nicht lokal, sondern global zu verorten und in zivilgesellschaftlichen Verfasstheiten zu etablieren ist, die faszinieren und zum notwendigen, alternativen Denken und Handeln herausfordern: „Eher früher als später muss es vorrangig um Suffizient gehen, um das, was ausreichend, um das, was wirklich notwendig ist, anstatt mit immer größerer Effizienz zügellos dem Konsumismus und Konfortismus zu frönen, wodurch die Grundlage der Gesellschaft selbst und die ökologische Nachhaltigkeit gefährdet sind“.

Fazit

Die vielfältigen Aspekte, Herausforderungen, Zumutungen und Notwendigkeiten, die Alberto Acosta in seinem Buch „Buen Vivir“ darstellt, zeigen sich beim ersten Lesen als unüberwindliches Gebirge mit schroffen Abhängen und unpassierbaren Wegen. Es braucht eine Eigenschaft, die den Menschen in den Zeiten des „alles Machbaren“ und der Habenmentalität eines „Ich will und kann alles, und das sofort“ verloren zu gehen drohen. Immerhin entwickelt sich zögerlich und langsam im globalen Mainstream eine Ahnung, dass wir als Menschheit nicht so weitermachen können wie gewohnt; es sei denn, wir setzen die humane Existenz aufs Spiel. Es zeichnet sich die Notwendigkeit ab, unser Verhältnis zur Natur zu überdenken. Und es wird Zeit, das global dominante Entwicklungskonzept eines „Immer-Mehr“ auf den Müllhaufen der menschlichen Geschichte zu werfen: „Das ‚Gute Leben‘ akzeptiert und unterstützt andere Lebensweisen, schätzt die kulturelle und politische Vielfalt, die Interkulturalität und die Pluralität“.

Das Buch „Buen Vivir“ ist keine leichte Kost! Es ist ein „radikales Plädoyer für eine Rededefinition vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur“, wie dies der Lateinamerika-Referent der Friedrich-Ebert-Stiftung, Christian Denzin, in seinem Vorwort formuliert – eine Vision, die von indigenen Völkern überliefert wird und als eine globale Botschaft für einen Perspektivenwechsel verstanden werden sollte! Und es ist der interessante, für dominantes Denken und Handeln ungewohnte und störende Versuch, anstelle des egoistischen, nationalen Staates plurinationale Staatsgebilde zu schaffen, die auf den Grundlagen eines Zivilisationswandels beruhen. Da bleibt zum Schluss tatsächlich die berechtigte Frage: „Können diese Überlegungen dazu dienen, plurinationale und interkulturelle Staaten in anderen Regionen der Welt um- und auszugestalten? Vielleicht sogar in dem von schweren sozioökonomischen und identitären Krisen geplagten Europa?“

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245