Martin Zinkler, Klaus Laupichler et al. (Hrsg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen
Rezensiert von Ilja Ruhl, 13.06.2016
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Martin Zinkler, Klaus Laupichler, Margret Osterfeld (Hrsg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2016. 256 Seiten. ISBN 978-3-88414-632-3. D: 29,95 EUR, A: 30,90 EUR.
Herausgeber und Herausgeberin
- Dr. Martin Zinkler: Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Heidenheim. Martin Zinkler schrieb während der zeitweise unsicheren Rechtslage in Bezug auf Zwangsbehandlungen einen vielbeachteten offenen Brief an die Politik und setzte sich darin für eine Abschaffung der Zwangsbehandlung außerhalb des rechtfertigenden Notstands ein. Zinkler veröffentlicht regelmäßig Aufsätze zum Thema Zwang und Menschenrechte in der Psychiatrie.
- Klaus Laupichler: Peer-to-Peer-Berater, Vorsitzender des Landesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen in Baden-Württemberg und u. a. Mitglied im erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP); er beteiligte sich an der Entwicklung der Behandlungsleitlinie zu therapeutischen Maßnahmen bei aggressivem Verhalten. Klaus Laupichler verstarb 2015.
- Margret Osterfeld: Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Psychiatrie-Erfahrung, seit 2014 ist Osterfeld aktiv im Unterausschuss der Vereinten Nationen zur Prävention von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (UN SPT), sie ist außerdem seit vielen Jahren engagiert im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Aufbau und Inhalt
Vorwort. Das Buch startet mit einer Vorwort von Dorothea Buck. Buck, die unter der menschenverachtenden Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus leiden musste, fordert in ihrem Vorwort eine Psychiatrie, die sich gegenüber den Betroffenen nicht gesprächsarm, hoffnungsraubend oder gar gewalttätig zeigt. Psychiater, so Buck, sollten sich vielmehr als ermutigende Helfer ihrer Patienten verstehen.
Einführung – Gewalt, Macht und Zwang ein ungelöstes Problem. In ihrer Einführung geben die MitherausgeberInnen Margret Osterfeld und Martin Zinkler einen kurzen Überblick über das Ausmaß von Zwangsmaßnahmen in Deutschland und verorten diese vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Gewaltanwendung (z. B. als Erziehungsmittel) zunehmend verpönt oder strafrechtlich sanktioniert wird und einer Behindertenrechtskonvention, die der Anwendung von Zwang und Gewalt eigentlich zuwiderläuft.
Die AutorInnen gehen u. a. auch kritisch auf die Unverhältnismäßigkeit der Praxis ein, Zwangsunterbringungen von psychisch kranken Menschen zum Zwecke der Risikominimierung für die Bevölkerung durchzuführen, während einem mehrfachen Trunkenheitsfahrer häufig nur der Führerscheinentzug droht.
Auch wenn am Ende der Einleitung als Ziel des Buches benannt wird, Mut zu machen und neue Wege zu bestreiten, so wird hier bereits deutlich, dass die verschiedenen AutorInnen das Thema im Buch durchaus differenziert und z.T. auch kontrovers behandeln.
Grund- und Ausgangslagen
Valentin Aichele untersucht in seinem Text „Menschenreche und Psychiatrie“ die UN-Behindertenrechtskonvention in Hinblick auf ihre Umsetzung innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems. Dabei schließt er neben allen Formen psychiatrischer Kliniken u. a. auch Einrichtungen und Dienste der Altenpflege, Gerontopsychiatrie sowie der allgemeinen Gesundheit und Rehabilitation mit ein. Rechte dürfen dabei nicht nur auf dem Papier im Einklang mit der UN-BRK stehen, sie müssen auch in der Praxis „tatsächlich gewährleistet“ (S. 21) sein. Aichele betont, dass die rechtlich garantierte „Freiheit zur Krankheit“ sich auch auf Fragen der geistigen Gesundheit erstrecke (S. 22) und kritisiert die Psychiatrie scharf für den Umstand, dies „bei Weitem“ noch nicht verinnerlicht zu haben. Noch deutlicher wird er beim Zitieren von Sonderberichterstatter Méndez, der psychiatrische Zwangsbehandlungen als Folter bezeichnet (S. 25). Des Weiteren geht Aichele auf die Entwicklungen in Deutschland seit 2009 ein und kritisierte die Wiedereinführung der kurzzeitig ausgesetzten Zwangsbehandlung ohne verfassungsrechtliche Not. Er kritisiert die argumentative Umkehr psychiatrischer Protagonisten, die eine Anpassung der Menschenrechte an die psychiatrischen Gegebenheiten favorisieren, statt umgekehrt (S. 32). Außerdem fordert Aichele die Förderung von Rahmenbedingungen, die mildere Mittel als die Zwangsbehandlung ermöglichen (z. B. ambulante 24-Stunden-Krisendienste, Behandlungsangebote ohne psychiatrische Medikation).
Petra Thaler beschriebt im Kapitel „Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen und Gewalt“ sehr eindrücklich ihre eigenen Erlebnisse nach der Aufnahme in eine Psychiatrie. Ihre Schilderungen des subtilen Drucks, den man auf sie ausübte, damit sie eine Beruhigungstablette nimmt, macht deutlich, wie bereits durch solche Maßnahmen das Vertrauen in die Psychiatrie erschüttert werden kann. Thaler räumt auch mit dem Mythos auf, dass nichtmedikamentöse Therapien grundsätzlich eine sanfte Alternative zur Zwangsmedikation darstellen. Sie empfand Malen, Basteln oder Kegeln im therapeutischen Setting als Schikane und Zwang (S. 47). Thaler räumt aber auch ein, dass sie die Perspektive von Ärzten nachvollziehen kann, die wirklich helfen wollen und die Erfahrung gemacht habe, dass es Patienten nach Einnahme eines zwangsverordneten Medikaments sehr schnell besser ging. Thaler ist gespannt auf eine gesellschaftliche Diskussion um die ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie vor dem Hintergrund ethischer Aspekte.
Rainer Höflacher diskutiert die Frage „Zwangsmedikation: Ultima Ratio oder No-Go?“ Dabei weist er u. a. daraufhin, dass die Bewertung von Zwangsmedikation durch Psychiatrie-Erfahrene stark von ihrer Persönlichkeit, von der Ausprägung zum Perspektivenwechsel, aber auch davon abhängt, inwieweit sie sich durch „fragwürdige Normen und Direktiven“ herausgefordert fühlten (S. 54). Es folgt eine begriffliche und rechtliche Einordnung. Höflacher stellt auch die Frage, ob eine Fixierung, die zum Schutz anderer angeordnet wird, nicht inhumaner sein könnte, als eine zwangsweise Gabe von Medikamenten. In diesem Zusammenhang erörtert er die Position des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg, der die Anwendung von Festhaltetechniken priorisiert. Höflacher versachlicht zudem die Diskussion mit dem Hinweis, dass man zwischen der Folter z. B. seitens Diktatoren und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie differenziert, weil aus seiner Sicht ethisch unterschiedliche Motive vorliegen. Er gibt auch zu bedenken, dass die deutliche Positionierung vieler Psychiatrie-Erfahrenen für eine völlig gewaltfreie Psychiatrie wahrscheinlich mehr bewirkt hat, als wenn man sich für ein Reduzierung von Zwang und Gewalt eingesetzt hätte (S. 60). Die weitere Reduzierung sei nach Höflacher u. a. durch hohe rechtliche Hürden, Besuchskommissionen und offene Türen zu ermöglichen.
Im Kapitel „Angehörige – Was brauchen sie, worauf hoffen sie?“ stellen Wiebke Schneider und Wiebke Schubert die Angehörigensicht in Bezug auf Menschen mit Suchterkrankungen und mit psychischen Erkrankungen dar. Hierbei wird deutlich, dass Menschen mit einer Suchterkrankung in ihrer nahen sozialen Umgebung oft den Wunsch nach Zwang aufkommen lassen. Dieser Wunsch ist verknüpft mit der Hoffnung, dass der z. B. trinkende Angehörige seinen Suchtmittelkonsum unterbricht und eine Verhaltensveränderung beim Betroffenen einsetzt. Zwangsmaßnahmen sind bei Menschen mit Suchterkrankungen, so die AutorInnen, zwar nicht selten, aber nur von kurzer Dauer, während eine Veränderung in Bezug auf die Abhängigkeitserkrankung einen langen Atem braucht.
Wiebke Schubert befasst sich in einem Unterkapitel ausführlicher mit der Sicht der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen auf Zwang in der Psychiatrie. Anders als bei suchterkrankten Menschen ist hier die Aufenthaltsdauer in der Klinik oft länger und Zwangsmaßnahmen sind häufiger. Wiebke Schubert kritisiert die mangelhafte Unterstützung von Angehörigen seitens des psychiatrischen Systems, was wiederum die Anwendung von Zwang befördern kann. Insbesondere fordert sie die ambulante Unterstützung durch Profis im Haushalt, um Krisen bereits vor einem Klinikaufenthalt abfangen zu können. Wenn eine stationäre Behandlung notwendig ist, so Schubert, dann sollte diese auch tatsächlich erfolgen, gegebenenfalls auch unter Zwang. Eine Rückkehr in den Haushalt ist ansonsten aus ihrer Sicht hochproblematisch. Auch die in Deutschland sehr kritisch bewertete ambulante Zwangsbehandlung sieht sie als legitimes Mittel der Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen. Diese Überlegungen sind von der Sorge um den Verlust des sozialen Umfeldes getragen, den es bei unbehandelten schwer psychisch Erkrankten oft zu beklagen gibt. Gleichzeitig lädt Wiebke Schubert zum Trialog ein, um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern.
Der Text von Klaus Laupichler fällt etwas aus dem Rahmen, was dem Umstand geschuldet ist, dass er während der Arbeit am Buch sehr plötzlich verstarb. Martin Zinkler hat dem von Laupichler verfassten Unterkapitel „Gewalt und Substanzkonsum“ deshalb einen einleitenden Text vorangestellt um die thematische Verbindung zum Gesamtkontext des Buches herzustellen. Laupichler beschreibt seine Kindheit, Jugend und Studentenzeit vor dem Hintergrund seiner Suchterkrankung. Immer wieder kommt es aufgrund seines Alkoholkonsums zu Konflikten mit seiner Umwelt. Seine Mutter versucht ihn zunächst, an das Suchthilfesystem anzubinden, später auch in die Psychiatrie zu bringen. Die erste Partnerin blieb trotz des massiven Alkoholkonsums lange bei ihm, trennte sich dann aber doch. Die Spirale des sozialen Abstiegs drehte sich immer weiter, bis Laupichler, mittlerweile wohnungslos und häufig depressiv bis zur Suizidalität, immer häufiger in die Psychiatrie eingewiesen wird.
Tilman Steinert befasst sich im Kapitel „Epidemiologie der Zwangsmaßnahmen“ mit den empirischen Erkenntnissen über den Umfang verschiedener Zwangsmaßnahmen in der deutschen Psychiatrie. Er legt dabei Wert darauf, statistische Maßzahlen wie Rate oder Quote laiengerecht zu erörtern, um den LeserInnen eine kritische Würdigung des Zahlenmaterials zu ermöglichen. Es werden verschiedene Vergleichsvarianten (z. B. verschiedene Kliniken oder Erkrankungen) referiert und für die praktische Relevanz eingeordnet. Steinert geht dabei auf die Zahl gerichtlicher Unterbringungen ebenso ein, wie auf Fixierungen und Isolierungen sowie auf die Zwangsmedikation. Dabei verschweigt er nicht die Problematik der Abgrenzung zwischen subtilem Druck, Drohung und der Anwendung direkter Gewalt. Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass eine Bewertung der Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen auch eine Vergleichsgröße braucht, um diese richtig einordnen zu können. Diese liegt über längere Zeiträume noch nicht in wünschenswerter Weise vor. Steinert überrascht aber auch mit Zahlen, die sich nicht immer einfach erklären lassen. So dauern in der Schweiz, trotz einer hohen personellen Ausstattung, Zwangsmaßnahmen verhältnismäßig lange, während sich die Anzahl von anderen Ländern nicht nennenswert unterscheidet (S. 98). Andere Studien konnten zeigen, dass die subjektive Beeinträchtigung für die PatientInnen bei Isolierung höher ist, als bei einer Zwangsmedikation.
Im Kapitel „Aktuelle Rechtsprechung und Gesetzgebung zur Zwangsbehandlung“ geht Rolf Marschner zunächst auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Zwangsbehandlungen ein. Dabei werden die durch die Entscheidung des BVerfG enger gefassten Voraussetzungen zur Zwangsbehandlung referiert. Diese Rechtsprechung fand Einzug in das Bürgerliche Gesetzbuch und hat entsprechende Auswirkungen für die Zwangsbehandlung im Rahmen des Betreuungsrechts. Marschner erläutert ausführlich die praxisrelevanten Konsequenzen der Gesetzesänderung und weist auch darauf hin, dass die Anzahl von Zwangsbehandlungen hierdurch abgenommen haben. In seinem Fazit fordert eher neben einer besseren personellen und räumlichen Ausstattung der Psychiatrie auch neue Wege wie Home-Treatment und flächendeckende Krisendienste.
Maria Teichert, Ingo Schäfer und Tania Lincoln referieren im Kapitel „Welche Alternativen zu Zwangsmaßnahmen kennen Behandler?“ die Ergebnisse einer Umfrage unter PsychiaterInnen. Dabei zeigt sich, dass Zwangsmaßnahmen nicht ausschließlich die PatientInnen belasten. Eine Verringerung von Zwangsmaßnahmen kann sich somit auch für die Behandler positiv auswirken (S. 119). Für die Befragung wurden den Behandlern verschiedene Alternativen zu Zwangsmaßnahmen mit der Bitte angeboten, diese nach verschiedenen Kriterien zu ordnen. Die AutorInnen weisen kritisch daraufhin, dass die Alternativen einer per Delphi-Methode entstandenen Leitlinie (Rheinland-Pfalz) entlehnt sind und möglicherweise nicht umfassend sind, weil Psychiatrie-Erfahrene nicht involviert waren. Die Befragung der Behandler ergab, dass nicht alle Alternativen zu Zwangsmaßnahmen bekannt sind oder Anwendung finden. Dieses Ergebnis ist insofern von hoher Bedeutung, als die Rechtslage das Ausschöpfen aller Alternativen vor einer Zwangsbehandlung vorsieht.
Haltung, Strukturelle Maßnahmen, konkrete Strategien
Ein sehr umfangreiches Kapitel widmet sich dem Thema „Netzwerkgespräche im Offenen Dialog“, das von Volkmar Aderhold verfasst wurde. Aderhold geht zunächst auf den Rahmen des Netzwerkgesprächs, die bedürfnisangepasste Behandlung ein um dann die Schlüsselelemente des Offenen Dialogs zu erörtern (z. B. Betonung des gegenwärtigen Augenblicks). Im Anschluss werden entlang von Fragen, die im Offenen Dialog gestellt werden, die Grundprinzipien dieser Methode verdeutlicht. Im Anschluss geht Aderhold auf die Wirkfaktoren ein und zeigt die Wirksamkeit der bedürfnisangepassten Behandlungsmethode anhand der Ergebnisse verschiedener Evaluationsstudien. Das Kapitel endet mit Hinweisen, wie die Behandlungsmethode in Deutschland implementiert werden kann und betont nochmal die Wichtigkeit, dem sozialen Kontext in der Psychiatrie Rechnung zu tragen.
Werner Mayr und Michael Waibel befassen sich in ihrem Kapitel mit dem Thema „Offene Türen verhindern Gewalt“. Die Autoren berichten aus der Perspektive der psychiatrischen Pflege über den Prozess der Einführung offener Türen am Klinikum Heidenheim. Angestrebt wurde dabei eine Öffnung mindestens zwischen 08:00 Uhr und 20:00 Uhr. Die offene Tür sei „Zeichen für eine bestimmte Haltung, mit der die Psychiatrie sich […] der Öffentlichkeit präsentiert“ (S. 160). Das Konzept der offenen Tür bedeutet, das wird im Text deutlich, eine großes Maß an personellem Engagement, unter anderen, weil ein verlässlicher Präsenz- und Türdienst organisiert werden muss. Die Autoren betonen, neben den vielen Hinweisen zur praktischen Umsetzung, immer wieder auch die positiven Effekte einer offen geführten psychiatrischen Akutstation. So nehmen bei gleichzeitig ungefährdeter Sicherheit für die PatientInnen Zwangsmaßnahmen ab (S. 163). Therapeutisch orientiert man sich am offenen Dialog, die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen auf verschiedenen Entscheidungsebenen wird ausdrücklich gefördert.
Das Kapitel von Brigitte Richter „Was hat das Entgeltsystem mit Gewalt und Zwang in psychiatrischen Kliniken zu tun“ hat glücklicherweise in Teilen anachronistischen Charakter, ist es doch unter dem Damoklesschwert des drohenden Pauschalierenden Entgeltsystems Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) entstanden. Richter beschreibt ihre Erfahrungen als Patientin in der Psychiatrie mit Krankenschwestern, die sie drangsalierten, einem Arzt, der statt mit ihr, über sie sprach und mit dem Erleben einer Fixierung, die über einen ganzen Tag andauerte. Später arbeitet sie selbst in der Psychiatrie, als Ergotherapeutin, beendet aber ihre Tätigkeit, als in ihrer Klinik die Ökonomie wichtiger wird als eine gute Behandlung. Die Autorin verschweigt aber auch nicht, dass psychiatrisch Tätige Gewalt seitens der PatientInnen erleben und unter dieser z.T. schwer leiden. Sie sieht in einem pauschaliertem Entgeltsystem die Gefahr, dass individuelle Zugänge zu den Patienten zunehmend erschwert werden, was sich wiederum auf das Stationsklima auswirken werde. Ein solches System würde zudem kurzfristige Wiederaufnahmen befördern, medikamentöse Therapien favorisieren und zu einer weiteren Arbeitsverdichtung führen, was sich wiederum negativ auf das Stationsklima auswirken würde.
Richter sieht Psychiatrie als „sprechende Medizin“ (S. 181), bei der die Pflegekräfte einen hohen Stellenwert haben. Sie fordert ein Entgeltsystem das eine gute Personalausstattung ermöglicht und ambulante Leistungen fördert. Diese Möglichkeiten sieht Richter in Regionalbudgets mit modularen Leistungen.
Im Kapitel „Aggressionsmanagement in der Psychiatrie“ befasst sich Dirk Richter mit der Frage, wie „Aggressionssituationen und darauf oft folgende Zwangsmaßnahmen […] vermieden“ werden können (S. 187). Richter gibt zunächst einen kurzen historischen Überblick über den Umgang mit Aggressionen in der Psychiatrie. Der Schwerpunkt lag hierbei in der Vergangenheit bei Abwehr- und Körpertechniken, während heute der Schwerpunkt darauf liegt, bereits im Vorfeld deeskalierend vorzugehen, um körperliche Gewalt so weit wie möglich zu vermeiden. Der Autor weist aber auch auf eine recht dünne Studienlage in Bezug auf die Vermeidung von Aggressionsereignissen hin. Einige hilfreiche Hinweise lassen sich aber diesbezüglich aus der Literatur entnehmen, die Richter aufgreift und näher erläutert. Entscheidend sind demnach Elemente wie u. a. Verstehen der Situationsdynamik, Grundregeln der Deeskalation wie z. B. Zeitgewinn und Entscheidungsfindung, der Aufbau einer Arbeitsbeziehung zum Patienten und der Aufbau von Optionen und Alternativen (S. 188 f.). Am Ende des Kapitels geht der Autor auf internationale Entwicklungen beim Aggressionsmanagement ein und erörtert kurz das Konzept der „Sechs Kernstrategien“ sowie den Ansatz „Safewards“, der Erkenntnisse aus empirischen Studien zur Steigerung von Sicherheit und Konfliktvermeidung auf psychiatrischen Akutstationen einbezieht.
Raoul Borbé befasst sich im Kapitel „Behandlungsvereinbarungen, Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen“ mit der praktischen Umsetzung und den positiven Auswirkungen dieser therapeutischen Partizipationsmöglichkeiten. Er erläutert die rechtlichen Rahmenbedingungen der oben genannten Begrifflichkeiten und arbeitet dabei insbesondere die unterschiedlichen Abstufungen der jeweiligen Rechtsverbindlichkeit heraus. Die wenigen Studien zu Patientenverfügungen deuten laut Borbé zumindest ein höhere Patientenzufriedenheit, eine verbesserte therapeutische Beziehung und bezüglich Zwangsmaßnahmen positive Auswirkungen an (S. 204). Am Ende des Kapitel finden sich Internetadressen, auf deren Seiten Formulare für Vorausverfügungen zum Download bereitgestellt werden.
Im Kapitel „Bürgerhelfer in der Psychiatrie – Mehr als ‚Grüne Damen im Krankenhaus‘“ beschreiben Gustav und Inge Schöck die Arbeit ehrenamtlich organisierter Kontaktgruppen und Begleitdienste. Ein Grundprinzip dieser Arbeit ist der Aufbau langfristiger Kontakte mit dem Ziel tragfähiger Beziehungen. Im Rahmen der Kontaktgruppe und bei den begleitenden Diensten werden Freizeitaktivitäten gemeinsam geplant und durchgeführt, Psychiatrie-Erfahrene erhalten aber z. B. auch Unterstützung bei Behördengängen, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder während Klinikaufenthalten, bei denen die Ehrenamtlichen nach der Wohnung der Betroffenen schauen und Post abholen. Die Bürgerhelfer fühlen sich in ihrem Selbstverständnis eher dem privaten Hilfesystem zugehörig als dem professionellen (z. B. Krankenhaus). Sie sehen sich zudem als Brückenbauer „zu einer Gesellschaft ohne Psychiatrie“ (S. 217).
Ausblick. Der Hauptteil des Buchs endet mit einem Text von Martin Zinkler der den Titel trägt „Zur Vision einer gewaltfreien Psychiatrie“. Er erinnert hier daran, dass der Anspruch einer gewaltfreien Psychiatrie mitnichten eine neue Entwicklung ist, sondern in der Vergangenheit bereits gelebt wurde. Als Beispiel aus der Gegenwart berichtet Zinkler von der Psychiatrie in Herne, deren Stationen offen geführt werden und jeweils NotfallpatientInnen aufnehmen. Eine gesonderte Akutstation existiert nicht und die Rate der Zwangsbehandlungen liegt in dieser Klinik bei einem Prozent. Es gibt in Deutschland rund 20 psychiatrische Kliniken, die nach ähnlichen Modellen arbeiten. Der Autor stellt sich und den LeserInnen die Frage, warum trotz dieser positiven Belege aus der Praxis nicht mehr psychiatrische Krankenhäuser diese Ideen zum Wohle der Patienten umsetzen. Wichtige Gründe hierfür sieht Zinkler vor allem in ökonomischen Motiven und strukturellen Gegebenheiten. So fällt es großen Kliniken schwerer als kleineren, entsprechende Veränderungen umzusetzen. Zum Ende des Kapitels nennt Zinkler nochmal die Bedeutung des Wieder-Verstanden-Werdens aus Sicht der PatientInnen für eine Psychiatrie ohne Zwang und Gewalt.
Anhang. Der Anhang enthält die ausführlichen Quellenangaben zu den Verweisen im Hauptteil sowie Hintergrundinformationen zu den AutorInnen.
Diskussion
„Prävention von Zwangsmaßnahmen“ ist eine umfangreiche Zusammenstellung zum Thema Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Die LeserInnen erhalten sowohl theoretische Hintergrundinformationen wie auch vielfältige Hinweise und Konzepte für die praktische Umsetzung bei der Vermeidung bzw. Reduzierung von Zwang. Dabei zielen die verschiedenen Beiträge nicht ausschließlich auf die klinische Sphäre ab, sondern beleuchten Möglichkeiten, wie auch außerhalb des Krankenhauses und des Einflussbereiches der Medizin vorbeugende Konzepte umgesetzt werden können. Positiv hervorzuheben ist auch die Darstellung der Ergebnisse empirischer Studien, belegen diese doch, dass Präventionsmaßnahmen tatsächlich auch wirken. Auf die Frage, ob eine Psychiatrie möglich ist, die völlig auf Zwang und Gewalt verzichten kann, gibt es keine einfachen Antworten. Der große Verdienst der HerausgeberInnen besteht auch darin, diesen Umstand nicht zu negieren. So positionieren sich nicht alle AutorInnen ausnahmslos gegen psychiatrische Zwangsmaßnahmen, bemühen sich aber trotzdem um eine ausgewogene Sicht und stellen, wie z. B. aus der Sicht der Angehörigen, die eigenen Dilemmata dar.
Als einziger Kritikpunkt ist die gelegentliche Verwendung von Fachwörtern (frustran, S. 198, perkutane Magensonde, S. 89) zu nennen, die sich dem medizinischen Laien nicht sofort erschließen.
Insgesamt sind die einzelnen Beiträge, wenn auch aus vielen Perspektiven unterschiedlicher Experten verfasst, für alle LeserInnen fachübergreifend sehr gut lesbar und nachzuvollziehen. Besonders hervorzuheben ist das Kapitel von Klaus Laupichler, der den Rezensenten mit den in seinem sehr eigenen Stil verfassten Beschreibungen seiner Jugend und Studentenzeit sofort in den Bann gezogen hat. Von ihm hätte er sich ein komplettes, selbstverfasstes Buch über sein Leben gewünscht.
Fazit
Die Frage um die Unvermeidbarkeit von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie wird sehr kontrovers und aus nachvollziehbaren Gründen mitunter auch emotional diskutiert. Den HerausgeberInnen ist es mit „Prävention von Zwangsmaßnahmen“ gelungen, die Diskussion zu versachlichen, ohne die kontroversen Meinungen zu negieren oder gar die von Zwangsmaßnahmen betroffenen Menschen aus den Augen zu verlieren. Diese kommen ebenso zu Wort wie Angehörige und Profis. Allen Texten ist der Wunsch danach anzumerken, Zwangsmaßnahmen so weit wie möglich zu vermeiden. Hierzu finden sich eine Vielzahl von praktischen Konzepten und Hinweisen für die klinische wie auch außerklinische Arbeit. Die Texte sind durchweg sehr gut lesbar und auch für LeserInnen, die nicht aus dem medizinischen Bereich kommen, nachvollziehbar. Ein so umfangreiches Herausgeberwerk zu diesem Thema, das nicht ausschließlich an Mediziner adressiert ist, stellt ein Novum dar und findet deshalb hoffentlich eine breite LeserInnenschaft.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 13.06.2016 zu:
Martin Zinkler, Klaus Laupichler, Margret Osterfeld (Hrsg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2016.
ISBN 978-3-88414-632-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20608.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
Urheberrecht
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