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Marion Felder, Katrin Schneiders: Inklusion kontrovers

Rezensiert von Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, 11.05.2016

Cover Marion Felder, Katrin Schneiders: Inklusion kontrovers ISBN 978-3-7344-0327-9

Marion Felder, Katrin Schneiders: Inklusion kontrovers. Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2016. 144 Seiten. ISBN 978-3-7344-0327-9. 9,80 EUR.

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Thema

In den letzten Jahren ist die Zahl der Publikationen, die zum Thema Inklusion erschienen sind, immens gestiegen. Der Markt wird von Monographien, Buchbeiträgen und Zeitschriftenartikeln geradezu überschwemmt, sodass es schwierig ist, überhaupt noch einen Überblick zu wahren. Dabei liegt die Frage nahe, ob es viele dieser Schriften überhaupt bedarf:

  • Bieten sie etwas substantiell Neues, das bisher nicht vorgetragen wurde?
  • Bereichern sie die Fachdiskussion, indem sie unbekannte Wissensbestände darlegen und bisher vernachlässigte Problemfelder analysieren?
  • Suchen sie einen veränderten Zugang dort, wo die bisherigen Einschätzungen und Bewertungen unbefriedigend ausfielen oder gar in die Irre geführt haben?

Nicht immer fällt die Antwort auf diese Fragen positiv aus. Vielfach wird lediglich Altbekanntes reproduziert, mit vermeintlicher Gewissheit von Grundpositionen ausgegangen, die einem kritischen Blick nicht standhalten, und ein Konsens dort unterstellt, wo es ihn in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Umgang mit empirischen Befunden erfolgt oftmals recht leichtfertig: Durch die ungefilterte Wiederholung einiger weniger zusammenfassender Bewertungen, die nicht selten auf einer lückenhaften Datenbasis beruhen. Erschwert wird der fachliche Diskurs auch dadurch, dass der Diskurs um die Inklusion häufig affektiv stark aufgeladen ist und unter dem Druck hoher moralischer Ansprüche steht.

Zu den Büchern, die sich davon wohltuend unterschieden, gehört die soeben vorgelegte Schrift von Marion Felder und Katrin Schneiders. Unaufgeregt, mit großer Sachlichkeit und intellektueller Disziplin wird zentralen Fragen der Inklusionsdebatte nachgegangen. Auch und gerade in Bereichen, die an anderen Orten nur unzureichend behandelt werden. Einer der vielen Vorteile dieser Schrift besteht darin, dass sich die Autorinnen im internationalen Diskurs gut auskennen und vor allem Erkenntnisse aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum miteinbeziehen.

Aufbau und Inhalt

Die Überlegungen des ersten sowie des historisch angelegten zweiten Kapitels gehen davon aus, dass keine einheitlich anerkannte Definition von Inklusion existiert. Die Auffassungen darüber, was unter Inklusion zu verstehen sei, sind weit voneinander entfernt – in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern. Im Spannungsfeld von Integration, radikaler und moderater Inklusion, von „inclusion“ und „full inclusion“ nehmen die Autorinnen eine gemäßigte Position ein. Sie sprechen sich für eine „verantwortungsvolle Inklusion“ aus (S. 29), die sich in erster Linie an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. Dabei spielt die Frage, wie sich die Arbeit in Regelklassen verbessern lässt, eine große Rolle. Spezielle Einrichtungen werden aber nicht grundsätzlich abgelehnt, „Regelklassen nicht normativ als der bessere Bildungsort“ aufgefasst (S. 29) und für ein Kontinuum von Bildungsorten und Förderintensitäten plädiert. Im Hintergrund steht das Konzept der „Least Restrictive Environment“, einer Umwelt, die im Rahmen eines vielfältigen Bedingungsgefüges die geringsten Einschränkungen und besten Entwicklungsmöglichkeiten beinhaltet. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, wie problematisch es ist, wenn Behinderung nur noch als eine von vielen Heterogenitätsdimensionen verstanden wird, denn die Verhältnisse sind komplexer als es diese schlichte Gleichsetzung nahelegt. Das ergibt sich unter anderem aus dem Umstand, dass Menschen mit Behinderung einer ganz speziellen Förderung und Unterstützung bedürfen. Bei anderen Formen der Vielfalt ist dies nicht der Fall.

Die sehr detailreiche, begrifflich imponierend klar gefasste Darstellung und Analyse soziologischer, bildungspolitischer und sozialrechtlicher/sozialwissenschaftlicher Perspektiven (drittes Kapitel) führt zu einer Fülle von Erkenntnissen, die bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Inklusion wahrgenommen und reflektiert werden müssen. Wie spannungsreich und in sich widersprüchlich vor allem das totale Inklusionsbegehren ist, wird in den Kapiteln vier („Behinderung als Heterogenitätsdimension“) und sechs („Inklusion als Menschrecht“) dargelegt. Diese Abschnitte beschäftigen sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die ‒ entgegen anders lautender Bekundungen – ganz unterschiedliche Auslegungen zulässt. Sie setzen sich mit unterschiedlichen Behinderungsmodellen auseinander und gehen vertiefend auf den Heterogenitätsbegriff und die Vielfaltskategorie ein.

Besonders heftig umstritten ist im Inklusionsdiskurs die Frage danach, welche Bedeutung der Diagnostik zukommen soll. Auch dazu finden sich differenzierte Ausführungen. Felder und Schneiders verschließen sich wiederum allzu einfachen Lösungen, auch wenn diese dem verständlichen Wunsch folgen, Menschen nicht auf ihre Behinderung zu reduzieren. Das sollte niemand tun. Die daraus hergeleitete Forderung, jede Art personenbezogener (Defizit-)Diagnostik habe zu unterbleiben, weil sie „etikettierend“ wirke, wird jedoch zu Recht kritisiert. Eine solche Dekategorisierung hat zahlreiche problematische Folgen. Sie führt zwangsläufig dazu, dass das Niveau der Förderung sinkt. Ohne eine klare begriffliche Fassung, ohne Benennung, wo Stärken und Schwächen liegen, also auch: wo Defizite bestehen, kann keine gehaltvolle und zielgerichtete Förderung erfolgen. Darin sollte sich niemand täuschen. Ein sozial-konstruktivistisches Behinderungsverständnis stößt, wie die Autorinnen überzeugend darlegen, hinsichtlich der Förderdimension auf erhebliche Grenzen.

Interessant ist auch, dass sich ein häufig erhobener Vorwurf empirisch nicht bestätigen lässt. Er lautet: Angehörige sozialer Randgruppen würden bevorzugt mit Behinderungs- und Förderkategorien versehen, dadurch ein zweites Mal diskriminiert und ihre Randposition so erneut zementiert. Die betrübliche Wirklichkeit sieht hingehen anders aus, zumindest in den USA. Faktisch erhalten sie die dringend benötigt Förderung viel zu selten, bleiben dadurch in ihrer Entwicklung zurück und werden so umso stärker an ihr ungünstiges Herkunftsmilieu gefesselt.

Das leitet zum fünften Kapitel über, das „Daten und empirische Befunde“ vorstellt. Der besondere Wert dieses Abschnittes besteht, wie bereits eingangs erwähnt, in seinem internationalen Bezug. Es werden eine Fülle wenig bekannter Studien umsichtig vorgestellt und damit ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, dass auch hierzulande ein differenziertes Forschungsbild entstehen kann. Daran mangelt es bisher häufig. Viele Befunde sprechen für eine gemeinsame Beschulung. Andere führen zu keinem eindeutigen Resultat, was anlässlich kognitiver, emotionaler und sozialer Zielkriterien kaum überrascht, und dritte belegen, dass eine gemeinsame Beschulung für manche Schüler mehr Nachteile als Vorteile bietet. „Grundsätzlich kann […] gesagt werden, dass es keine eindeutige empirische Evidenz für die Vorteile einer inklusiven Bildung aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung gibt“ (S. 89). Das abwägende, moderate Inklusionsverständnis, das insgesamt so überzeugend vertreten wird, erfährt durch die empirische Befundlage eine weitere Rückendeckung.

Im vorletzten, siebten Kapitel („Herausforderungen und Potenziale für soziale Berufe“) werden aus dem bisher vorgestellten Material zahlreiche bedenkenswerte Schlussfolgerungen für die Praxis gezogen. Dabei wird noch einmal deutlich, dass die Schrift von einem weiten Wahrnehmungsfokus ausgeht. Sie berücksichtigt die Lebens-, Lern- und Entwicklungssituation von Menschen mit Behinderung in der gesamten Lebensspanne, beschränkt sich also bei weitem nicht auf die schulische Perspektive. Das belegt auch das abschließende Fazit.

Fazit

Fest steht: Felder und Schneiders ist ein substantieller Beitrag zum Inklusionsdiskurs gelungen, der sich durch hohe Sachkompetenz und analytische Schärfe auszeichnet. Ein weiterer Vorteil kommt hinzu: Das Buch genügt nicht nur hohen wissenschaftlichen Ansprüchen, es ist auch leserfreundlich gestaltet, übersichtlich angeordnet und sprachlich ansprechend gefasst. Allzu häufig gibt es solche Schriften nicht.

Rezension von
Prof. Dr. Bernd Ahrbeck
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Zitiervorschlag
Bernd Ahrbeck. Rezension vom 11.05.2016 zu: Marion Felder, Katrin Schneiders: Inklusion kontrovers. Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2016. ISBN 978-3-7344-0327-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20618.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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