Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Beratung und Beratungswissenschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Silvia Hamacher, 08.04.2016
Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Beratung und Beratungswissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 247 Seiten. ISBN 978-3-8487-1422-3. 29,90 EUR.
Thema
Als Eingangsthese formulieren der Herausgeberinnen: „Beratung fand sich über lange Zeit hinweg im Schatten von Psychotherapie, manchmal missverstanden als ‚Schmalspur‘-Therapie oder als Angebotsmöglichkeiten für Berufseinsteiger und -einsteigerinnen ohne therapeutische Qualifikation.“
Um die Jahrtausendwende gelingt es aber, durch internationale Entwicklungen und des zunehmend vertretenen „Counseling-Ansatzes“, der Beratung zu mehr fachlichem Format, Profil und Eigenständigkeit zu verhelfen. In dieser Linie verstehen die Herausgeberinnen ihr Kompendium der Beratung und Beratungswissenschaft und unterstützen mit diesem Werk die Heraus- und Profilbildung einer Beratungswissenschaft, indem sie durch eine Synopse unterschiedlich fachlicher Perspektiven auf die Beratung im Lebensvollzug, deren Hybridität, veranschaulichen.
Herausgeberinnen
- Prof. Dr. phil Tanja Hoff. Professorin für Psychosziale Prävention, Intervention und Beratung an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Köln
- Prof. Dr. Renate Zwicker-Pelzer. Professorin für Erziehungswissenschaft und Beratung an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Köln
Weitere AutorInnen
- Prof. Dr. Jörg Baur. Professor für klinische Psychologie und Supervision an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Aachen
- Isabel Gonsior. Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin (Master of Arts)
- Prof. Dr. Rolf Jox. Professor für Recht an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Köln
- Prof. Dr. theol. Rainer Krockauer. Professor für Theologie und Ethik an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Aachen
- Prof. Dr. phil Andreas Reiners. Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Aachen
- Prof. Dr. Franz-Christian Schubert. Emeritierter Professor der Hochschule Niederrhein, Krefeld/Mönchengladbach, Fachbereich Sozialwesen
- Prof. Dr. phil. Armin G. Wildfeuer. Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Köln
Aufbau
Das Werk umfasst sechs größere Abschnitte.
Zu 1. Einführung
Hoff und Zwicker-Pelzer beginnen kritisch, dass nicht alles Beratung ist, was umgangssprachlich als solche formuliert wird, denn „umgangssprachlich mutiert Beratung zum Plastikwort“ (Pörksen1988). Dabei wollen sie Beratung als ethisches Handlungskonzept, welches auf Teilhabe und Teilnahme beider Seiten (Berater und zu Beratender) ausgelegt ist, verstanden wissen, wo der zu Beratende als Suchender verstanden wird, seine Geschicke auf Dauer wieder selbst in die Hand nehmen zu können.
Sie machen auf die im beratungsfachlichen Kontext grobe Unterscheidung zwischen arbeitsweltlicher und lebensweltlicher Beratung aufmerksam, die sie in diesem Kompendium getrennt behandeln und die lebensweltlich psychosoziale Beratung fokussieren. Hierbei betonen sie das Miteinander unterschiedlicher Disziplinen (z.B. Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie u.a.), die die „neue Identität der Beratungswissenschaft“ stärken.
Die Adressatengruppe ihres Kompendiums sind für die HerausgeberInnen Studierende psychosozialer Berufe sowie die Teilnehmer von Beratungsweiterbildungen.
Zu 2. Grundlagen
2.1 gegenwertige Entwicklungen in der Profession und Wissenschaft von Beratung (Tanja Hoff& Renate Zwicker-Pelzer). Vorangestellt mögliche Definitionen von Beratung, kommen die Herausgeberinnen zu dem Schluss, dass eine „eigenständige Identität“ von Beratung gegenüber anderen Handlungsmethoden gemeinschaftlich betont wird. Wesentliches Ziel von Beratung -im Verständnis von Counseling- ist die Schaffung von „Verstehens- und Orientierungshilfen und die Vermittlung von Entscheidungshilfen.“ Die Hrsg. beziehen sich auf die transaktionalen Austauschprozesse von Ressourcen nach Schubert (2014) vor dem Hintergrund der Mehr-Ebenen -Theorie Bronfenbrenners (1981). Dabei betonen sie die Wirkmechanismen des individuellen und sozialen Erlebens im Alltag, in denen sich gesellschaftliche Themen der Makro- und Exoebene wiederspiegeln. Diese verschränkte Beachtung ist für sie Rolle und Aufgabe von Beratung, und trennt die psychosoziale bzw.“ reflexive Beratung“ von der transitiven Beratung. Als Beratungswissenschaft ist sie auf dieser Grundlage nur interdisziplinär („hybrid“)zu verstehen, da struktur- und personenbezogene Rahmenbedingungen Ausgangspunkt der „reflexiven Beratung“, und zudem unterschiedliche Handlungsfeld- und Praxisbezüge vorzufinden sind. Hiermit folgen die Hrsg. dem Beratungsbegriff der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB), die Beratung „als reflexive Beratung in einer reflexiven Gesellschaft“ versteht (Beck/Giddens/Lash (1996).
2.2 Die historische Dimension von Beratung (Franz Schubert). Schubert stellt Beratung in Europa heute als „spezialisierten gesellschaftlichen Funktionsbereich“ in einer „bürgerlichen Gesellschaft mit ausgeprägten sozialstaatlichen Strukturen“ dar. Er zeichnet entwicklungslinear auf, dass das ganzheitliche Leben mit dem beginnenden 20. Jahrhundert eine Aufteilung von Lebensorten für Erziehung, Schule, Berufsausbildung, Privatsphäre usw. erfuhr, die als Etablierung für ein differenziertes Beratungswesen gesehen werden kann, die diesen Strömungen folgte. Dabei beschreibt er die Entwicklungslinien des Beratungswesens in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhundert, aber dies nicht ohne kritisch anzumerken, dass die benannten Strukturmerkmale auch für eine „Zersplitterung des Beratungswesens in voneinander abgegrenzte Kompetenzbereiche und Berufsfelder führte und zu einer „vereinseitigenden Psychologisierung“ von Beratung.“ Dabei sieht er vor allem drei Entwicklungslinien der Beratung: die psychotherapeutische, die psychologisch-pädagogische und die lebensweltlich-systemische Ausrichtung, die er hier nachzeichnet. Er mündet in der Beschreibung gegenwärtiger Beratungsentwicklungen im „Kontext von Finanzkrisen, Psychotherapiegesetz und dem Ausbau von Ehrenamt und Selbsthilfe.“
Zu 3. Erklärungsmuster: Counseling-Bedeutung und -verständnis aus interdisziplinärer Sicht.
In diesem Kapitel erfolgt nun der Versuch der Darstellung der „Hybridität“ von Counseling, durch die Synopse unterschiedlicher inhaltlicher, fachlicher „Bedeutungen und Wirkungen von Beratung im Lebensführungsvollzug.“
3.1 Wenn die Gesellschaft das Problem ist – zur soziologischen Perspektive von Beratung (Andreas Reiners). Reiners geht der Frage nach, „wie der Zusammenhang von aktuell bedeutsam werdenden subjektiven Krisen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Entwicklungen auf der anderen Seite zu erklären ist“. Dabei betont er, dass das Verstehen individueller Krisen und „das Selbstverständnis von professioneller Beratung“ nur in Verbindung mit gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren möglich sein kann. Hierzu legt er Gesellschaftsanalysen als Diagnosen spätmoderner Gesellschaften zu Grunde (Foucault (1993), Seel (2013)) .Zum Verständnis einer spätmodernen Gesellschaft beschreibt er dann den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess und betont den veränderten Charakter der Moderne mit Habermas (1985), Beck (2001), Sennett (1998) und Baumann (2007). Dabei ist ihm eine Fokussierung der Beratung auf die „reflexive Potenz“ des Subjektes zu kurz gegriffen, sondern er macht auf die Gestaltung von Lebensentwürfen in Kooperation mit anderen, in Form von „Ermächtigung“ aufmerksam und den „Ausgleich der sehr ungleich verteilten Chancen“. Dabei endet er bei der Frage, wie eine kritische gesellschaftliche Reflexion als Bestandteil von Beratung institutionalisiert werden kann? Hierzu ist für ihn eine Beratungswissenschaft nötig, die Beratung nicht nur optimiert, sondern gesellschaftliche Problemlagen herausarbeitet, und dies durch die systematische Erhebung wertvoll erlangter Informationen in Beratungskontexten.
3.2 Beratung- eine philosophisch-ethische Grundlegung (Armin G. Wildfeuer). Wildfeuer definiert Beratung als Hilfeleistung in Situationen von Rat- und Orientierungslosigkeit. Die nötige Form ist die Kommunikation und der Dialog zwischen Berater und zu Beratenden, mit dem Zweck einer Entscheidungs- und Urteilsfindung. Da jedoch die Kommunikation die Eigentümlichkeit der Beratungshandlung nicht umfasst, muss sie, seiner Ansicht nach, um die Komponente des „moralisch-praktischen Dialogs“ erweitert werden. Dabei finden diese dialogischen Kommunikationsprozesse im Sinne eines „theoretischen Diskurses“ und eines „moralisch praktischen Dialogs“ statt. Voraussetzung von Beratungshandeln, die er als „praktisch sittliche Konkomitanz“ bezeichnet, ist eine gelingende Beratungspraxis, geprägt von Rationalität, Autonomie und Würde. Wildfeuer bezeichnet Beratung als „anthropologische Grundkonstante“. Beratung komplettiert für ihn die sozio-kulturelle Ausstattung des Einzelnen, indem durch die Urteilsfindung eine Horizonterweiterung ermöglicht wird. Gegen das Ungleichgewicht einer Beratung, die er als konstitutiv vorhanden einschätzt, die Asymmetrie der Kompetenzen des Beraters und zu Beratenden, setzt Wildfeuer die „reflexive Bedeutung“ der Beratung als „ebenbürtige“ Strategie beider Seiten zur Problembewältigung, indem sich zwei reziproke Subjekte in der Beratung gleichwertig erfahren. Dies bildet für ihn den wahren Kern einer Beratung und mündet in die Beschreibung einer Beratung als „Handlung konstituierter Praxis“ und nicht als Modus des Herstellens eines Produktes, denn „Kriterium des Gelingens ist die Qualität der Handlung selbst“. Ethik als Disziplin der Philosophie begreift Wildfeuer als „Typ methodisch gesicherter Beratung“, da sie wissenschaftliche Reflexion sittlicher Abwägungsprozesse liefert. Dies betont er mit dem Hinweis, dass der Thematik des Rates (consilium) für die Lösung ethischer Probleme in der Geistesgeschichte in der Vergangenheit ignorant begegnet wurde, und zeichnet die Verortung des Rates beginnend in der homerischen Zeit bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts blitzlichtartig nach. Dabei sieht er die Beratung in der ethischen Theoriebildung erst seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert wieder im Blick und zwar im Aufkommen einer „konsiliatorischen Ethik“ und der „metaethischen Diskurse der konstruktiven Ethiken.“
3.3 Theologisch inspiriert beraten: Perspektiven angewandter Theologie in der Beratung (Rainer Krockauer). Krockauers Beitrag „thematisiert die Rolle der praktischen Theologie als profilierendes Element von Beratungsinteraktion und-tätigkeit“ als sogenannte „Propiumswissenschaft“, die eigene christliche Zugangsmethoden bereithält und theologisch inspirierte und „stimulierte“ Beratung betont. Dabei schärft er den Blick für eine doppelte Perspektive:
- Zunächst mit der Frage nach der Anwendung theologischen Wissens in den Strukturen kirchlicher Beratungsarbeit, um das ureigene christliche und kirchliche Selbstverständnis zum Tragen kommen zu lassen. Diese Frage beantwortet er mit sechs praktisch-theologischen Grundprinzipien, die hier als Handlungsgrundlage Sicherheit bieten können.
- Die zweite Perspektivschärfung betrifft „Hintergrundgewissheiten“ einer angewandten Theologie, die oftmals vergessen wird. Es handelt sich um eine „konstitutive Tiefendimension“, die „professionelle Beratungsarbeit mit reflektiert“. Dabei kennzeichnen vier Entwicklungsprozesse, die Krockauer ausführt, eine Beratungstheologie: Kontextualisierung, Elementarisierung, Diakonisierung und Plausibilisierung. Mit diesen vier Elementen lebt theologisch inspirierte Beratungsarbeit von der Kommunikation an vier Schwellensituationen, die er kurz skizziert, und den Alltag markant prägen. Eine für Krockauer so verstandene „Theologie auf der Schwelle steht dabei nicht mit leeren Händen da. Im Bild gesprochen hat sie eine Stafette in der Hand, die sie mit Anderen austauschen möchte […].“
3.4 Psychologische Beiträge zur Beratung (Tanja Hoff). Hoff skizziert zunächst kritisch die Anwendungsbezüge der Psychologiebereiche auf die Theorie und Praxis der Beratung. Dabei stellt sie die Wichtigkeit dieser Bezüge heraus, aber merkt an, dass hier eine Nachlese der Grundtheoreme für eine „reflexive Beratung“ erfolgen muss. Denn die Übertragbarkeit ist bisher in Studien nicht umfassend überprüft worden. Dabei stellt sie klar, dass spezifische Kompetenzen für Beratung auch wesentlich „durch psychologische Theoriebildung und Praxisanwendung in der Vergangenheit geprägt wurde“. Fortsetzend unterscheidet sie zwischen Merkmalen einer Beratungspsychologie bzw. interdisziplinären Beratungswissenschaft und Merkmalen einer psychologischen Beratung, die sich in der Vergangenheit in Deutschland und auch dem angloamerikanischen Bereich ausgebildet haben. Sie verweist auf den Berufsverband der PsychologInnen (BDP), welcher Abgrenzungsmerkmale der psychologischen Beratung zur nicht-psychologischen Beratung vornimmt, indem der Verband die Nutzung von wissenschaftlich fundierten Theorien, Erkenntnissen der Psychologie vorschreibt. Dieser Definition von psychologischer und nicht-psychologischer Beratung folgt sie und prüft diese auf ihre Praxistauglichkeit. Sie mündet in die Darstellung einer Beratung als professionelle Leistung zur Selbstermächtigung und skizziert beispielhaft, kontrastierend Theorien (Transtheoretische Stresskonzept (Lazarus), Salutogenetische Modell (Antonovsky), Theorie der Ressourcenerhaltung (Hobfoll)). in Bezug zu Beratungsprozessen, dabei unterstreicht sie ihren Aussagewert, da sie „das psychologische Verständnis von Bewältigung/Coping verdeutlichen.“
3.5 Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Beratung (Renate Zwicker-Pelzer). Zwicker-Pelzer determiniert Pädagogik als „handlungsorientierte Praxis des Lehr-Lern-Geschehens“, einer „anwendungsorientierten Erziehungswissenschaft.“ Sie bekräftigt diese Determinierung mit der Darstellung der „Markierung des Pädagogischen“ von Herman Nohl. Dabei folgert sie, in Verweis auf Nohl, eine Indizierung in Hinblick auf Beratung herstellen zu können. Denn Pädagogik bezieht sich auf die Lebensnöte der Menschen, so Nohl, damit ist „sie […] die zutiefst bewegende Auseinandersetzung mit allen Facetten von Lebensumständen individueller und sozialer Art […].“ Dies ist der Beginn einer historischen Nachzeichnung des Einzugs der Beratung in die Pädagogik und in das Bildungswesen, was zunehmend auch ein lebenslanges Lernen integrierte und auch Erwachsenenbildung mit in die Betrachtung aufnahm. Somit eine Bildungsoffenheit generiert, die den Begriff der Erziehung in den Hintergrund rückt. Diesen historischen Abriss verfolgt sie nicht, ohne kritisch ihre Therapeutisierung in der geschichtlichen Entwicklung zu kommentieren und eine Verortung von Beratung mit Bezug auf Hörmann; Thiersch u.a. zu entwickeln, in der „Sozialpädagogik zum Bindeglied und zur Schnittstelle“ innerhalb der Erziehungswissenschaften wurde. Für Giesecke sind Pädagogen „professionelle Lernhelfer“, Zwicker-Pelzer versteht seine Darstellung des pädagogischen Handelns als soziales, wechselseitiges Handeln, „indem Menschen miteinander darum ringen „für oder gegen bestimmte Ziele zu sein“. Dieses „handelnde Verändern“, wie sie es bezeichnet, führt sie für die Beratung aus, welches eine von Gisecke dargestellte Grundform des pädagogischen Handelns bildet. Sie verortet Beratung im Lebenskontinuum des Menschen und denkt Beratung im Dreiklang von Vergangenheit-Gegenwart und Zukunft. Hierzu vertieft sie das Neun-Felder-Modell nach Kullmann und Rieforth, die diesen Dreiklang aufgreifen. Sie markiert die Nähe Arnolds zur Beratung, indem er Lernen ohne belehren begreift oder Dewe, der die Orientierung an Lösungsräumen anstatt Defiziten vertritt. Hiermit macht sie aufmerksam auf die Achtung von beratungswissenschaftlichen Warnungen, die ethische Meilensteine eines „freiheitlich lernenden Subjekts“ herausstellen und dies vor verdinglicht, missbrauchten Lernerfahrungen.
3.6. „Gehirngerechte“ Beratung. Aktuelle Perspektiven der Neurowissenschaften zu einer multidisziplinär ausgerichteten Beratungswissenschaft (Jörg Baur). Das Verständnis des Menschen als biopsychosoziales Wesen ist für Baur das vorherrschende Verständnis in der Beratungswissenschaft. Dies legt für ihn nahe, auch die biologische, somit die neurowissenschaftlichen Begründungen in ein Beratungsverständnis zu etablieren. Nach seiner Vorstellung ist das wissenschaftlich aber nicht selbstverständlich zu finden. Auch die Kontrastierung des Vorzugs des Körperlich-Neuronalen vor dem Psychisch/Sozialen als Grundlegung der Prozesse, ordnet er kritisch ein. Ihre Betrachtung lohnt sich dennoch, denn ihre Erkenntnisse scheinen Bedeutung für Lern-, Problemlösungs- und Veränderungsprozesse zu haben und eine neuronale Veränderung, bewirkt durch Beratung, rückt für Baur erklärend nahe. Dabei wirft er in dieser Abhandlung eine theoretisch erklärende Perspektive der Neurowissenschaften auf die Beratungssituation. Hierzu stellt er die allgemeinen Aufgaben des Gehirns auf neuronaler Ebene zunächst grob dar und geht auf die Entstehung der neuronalen Netzwerke ein, sowie des Gehirns als „soziales Organ“. Hierbei stellt er eine Verbindung zur Beratung her und erfasst, dass Beratung „alternative Problemlösungsstrategien“ verfolgt und stellt sich die Frage, „wie sich aktuelle oder äußere Erfahrungen des Klienten im Gehirn beeinflussen?“ Dabei stellt er positive interpersonelle Bindungs- und Beziehungserfahrungen als Begünstigung der Herstellung neuer Synapsen heraus. Somit mündet seine Darstellung in dem Postulat: „Lernen/Verändern im Kontext von Beratung heißt: Die Plastizität des Gehirns zu nutzen“. Denn „Beratung zielt auf das Erlernen wohladaptiver Lösungsstrategien.“ Eine Anschlusslogik bildet hier der Hinweis auf die selbsterfahrenen Situationen und nicht die vermittelten Erfahrungen, z.B. über Ratschläge, denn die „präfrontale Rinde und das limbische System, die Lernprozesse maßgeblich steuern, sind nicht belehrbar“ und lassen sich nur so verändern wie sie entstanden sind, durch gemachte Erfahrungen.“
3.7 Counseling – Bedeutung und Grundlagen aus juristischer Perspektive (Rolf Jox). Jox geht den Fragen einer Beratung auf rechtlicher Grundlage nach: Schuldet der Berater dem zu Beratenden eine fehlerfreie Beratung? Ist er gar haftbar zu machen, wenn sie fehlerhaft ist? Mit Blick auf das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) stellt sich auch die Frage, wer die Erlaubnis überhaupt erhält zu beraten? Dies sind Fragen, denen er vertiefend nachgeht, indem er zunächst die Begriffe Therapie und Beratung aus Rechtsperspektive bestimmt und folglich die konkrete Erlaubnis der rechtlichen Prüfung des Einzelfalls in der psychosozialen Beratung aufzeigt. Dabei zeigt er die Anforderungen aus rechtlicher Sicht an Beratung auf und diskutiert die Folgen fehlerhafter Beratung und die der Beratung zu Grunde liegenden Erlaubnisnormen.
Zu 4. Formate und Orte von Beratung
Renate Zwicker-Pelzer fundiert, dass Beratungsleistungen, die unterschiedliche Lebens- und Problemlagen fokussieren, eigene Formate benötigen, um die zu Beratenden maßgerecht unterstützen zu können. Hierzu vertieft sie die halbformelle Beratung am Klienten im Kontext akuter oder präventiver Hilfeleistungen, zwischen Freiheit oder Pflicht, aufsuchend und zugehender Beratung. Sie unterscheidet Beratungsformate der formellen, halbformellen und informellen Art nach Engel/Nestmann/Sickendiek (1997). Dabei spricht sie in den Fällen von halbformeller Beratung, „wenn sie ein Part und damit ein Bestandteil angrenzenden anderen beruflichen Tuns ist.“ Hierbei nimmt sie Bezug auf die Vereinigung der Hochschulehrerinnen und Hochschullehrer zur Förderung von Beratung/Counseling in Forschung und Lehre (VHBC e.V.), die bzgl. der halbformellen Beratung wertvolle Diskussionen und Antworten entwickelt haben. Ihre Differenzierungsleistung mündet in der Darstellung eines spezifischen Beratungsortes und der dort unterschiedlich genutzten Beratungsformate im Sinne ihrer Chancen, aber auch ihrer Grenzen, der des Pflegekontextes.
Zu 5. Konzepte in der Beratung
Beratungskonzepte geben nach Tanja Hoff eine Antwort auf die Frage wie man berät. Sie grenzt Beratung an Hand ihres Auftrages von der Psychotherapie ab. Hierbei betrachtet sie die kritische Adaption von Psychotherapiekonzepten auf Beratungsstrukturen, die ein eigenes Selbstverständnis haben sollten und sich von diesen abgrenzen lassen, aber in Forschungen zur Beratung immer wieder Wirkmechanismen der Psychotherapieforschung herangezogen werden. Somit wirbt sie für ein eigenes Forschungsprofil der Beratungswissenschaft, um das eigene Selbstverständnis untermauern zu können, und um „die Gestaltung von schulenübergreifend ausgerichteten Beratungsprozessen im Sinne einer integrativen Beratungsschule empirisch zu stützen.“ Hier schließt sich die Darstellung „schulenübergreifender bzw. allgemeiner Wirkfaktorenmodelle“ in der Therapie an, die sie für die Beratung anschlussfähig hält (Casper u.a. 2008; Grawe 2004; Orlisnsky u.a. 2004 Kanfer/Reinecker/ Schmelzer (2000, 2006)).
Diese Vorgehensweise stützt sie mit der allgemeinen Erkenntnis Warschburgers (2009), „dass viele Variablen nicht einseitig auf Seiten des Klienten oder Beraters betrachtet werden dürfen, sondern das Ergebnis einer komplexen Interaktion darstellen.“ Sie fordert auf in Zukunft noch stärker zu überlegen, welche Interventionen, im Sinne einer schulenübergreifenden Perspektive, für die Beratung genutzt werden können. Dies zumindest im Verständnis der unterersten Ebene des integrativen Modells (Casper u.a. 2008), wo Techniken anderer Therapieschulen in das eigene schulengebundene Vorgehen eingebunden werden. Dabei schließt für sie das ethische-sequentielle Rahmenmodell von Beratung nach Wagner (2004,2008) hier an, welches eine Antwort aus der sich resultierenden Frage ihrer Vorstellungen ergibt, „wie unterschiedliche etablierte und empirisch abgesicherte Verfahren in einem sinnvollen, integrativen Zusammenhang in Beratung genutzt werden können.“ Hierzu diskutiert sie jedoch auch kritisch, dass dieses Verständnis einer Methodenvielfalt Berater vor hohen Herausforderungen stellt, die die Gefahr einer oberflächlichen Vertiefung birgt.
Im Anschluss stellt Hoff verschiedene Verfahren, Konzepte der Psychologie vor, die sie für die Beratung anschlussfähig hält und die sich als integratives Beratungshandeln anbieten (hierzu gehören: psychodynamische bzw. tiefenpsychologische Konzepte, Klientenzentrierte Beratung nach Rogers, verhaltensorientierte Beratung, SORKC-Schema, Basic-ID nach Lazerus, Systemische Konzepte).
Zu 6. Exemplarische Arbeitsfelder der lebensweltorientierten Beratung
Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel über die Darstellung von Arbeitsfeldern im Bereich der lebensweltorientierten Beratung von Renate Zwicker-Pelzer „wobei die für Klienten und Klientinnen spezifischen Verstehens-hintergründe im Vordergrund stehen.“ Hier fokussiert und charakterisiert sie zunächst Familien in prekären Lebenslagen, die ein „Bündel an Problemen“ vereinigen und als Multiproblemfamilien und Multiinstitutionsfamilien bezeichnet werden. So positioniert Zwicker-Pelzer: „Wenn die sozialen Dienste unverbunden (…) „ihr eigenes Ding machen“, dann wiederholen und multiplizieren sie die Dysfunktionalität der Familie. Dieser Fragmentierung kann jedoch mit Kooperationen entgegengewirkt werden. Hier zeigt sie jedoch aktuelle Segregationsstrends des Sozial- und Gesundheitsdienstes auf, die einer nötigen Vernetzungsstruktur entgegenstehen und leitet dann über zu Handlungsmaximen, die für eine Beratungsarbeit mit Multiproblemfamilien entscheidend sind. Fortsetzend schlägt sie eine Brücke zur Entwicklung von Institutionen Früher Hilfen, die die Phase der Familien-Werdung und beginnenden Entwicklung von Familien im Blick haben, und somit sich die Möglichkeit erhoffen familiäre Belastungen frühzeitig zu erkennen und zu minimieren. Die Frühen Hilfen stellen ein erstes dargestelltes Handlungsfeld dar, es schließt sich der Blick auf alleinerziehende Familien und Stieffamilien an, die Interkulturalität in der Beratung sowie die Schwangerschaftskonfliktberatung und endet im Schlusskapitel einer Beratung in hochstrittigen Kontexten, in der Unterscheidung der Kontexte Zwang und Pflicht von Beratungsleistungen.
Diskussion
Dieses Kompendium bildet eine anspruchsvolle Grundlage fächerübergreifender Kommentierungen einer Beratung im Lebensführungsvollzug. Es gelingt den einzelnen VerfasserInnen sehr gut ihre ureigene fachspezifische Perspektive von Counseling bzw. Beratung zu eröffnen, wobei diese additiv hintereinander gestellt werden. Dies macht jedoch deren betonte Hybridität deutlich. Dabei eignet sich diese Einführung für LeserInnen, die sich fortgeschritten mit der Thematik von Beratung auseinandersetzen wollen und sich somit spezifisch in diesem Bereich theoretisch fundieren möchten.
Fazit
Das Buch „Beratung und Beratungswissenschaft“ stellt eine Fachdiziplin übergreifende Einführung in die Beratung und die Beratungswissenschaft dar. Die HerausgeberInnen unterstützen mit ihrem Kompendium eine weitere Entwicklung der Beratung mit eigenem fachlichem Profil, indem sie durch eine Synopse unterschiedlich fachlicher Perspektiven (psychologisch, soziologisch, theologisch, rechtlich, erziehungswissenschaftlich, politisch und sozialarbeitswissenschaftlich) die Beratung im Lebensvollzug und deren Hybridität veranschaulichen.
Rezension von
Prof. Dr. Silvia Hamacher
Professorin für das Fachgebiet Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Aachen www.katho-nrw.de
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Zitiervorschlag
Silvia Hamacher. Rezension vom 08.04.2016 zu:
Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Beratung und Beratungswissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
ISBN 978-3-8487-1422-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20623.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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