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David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Merchel, 11.08.2016

Cover David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln ISBN 978-3-608-94752-6

David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2016. 336 Seiten. ISBN 978-3-608-94752-6. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR.

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Thema

Die Haltungen, mit denen viele Menschen an „Bürokratie“ herangehen, sind merkwürdig und eigentümlich widersprüchlich. Die meisten Menschen stöhnen über Bürokratie („zu viel Papierkram“ etc.) und verdammen sie: Die Titulierung einer Person als „Bürokrat“ ist keine neutrale Kennzeichnung, sondern eine markante Beschimpfung! Aber andererseits verlangen die gleichen Personen nach verlässlichen Abläufen, nach Transparenz, Regelhaftigkeit, Gleichbehandlung etc., also nach Zuständen und Prozessen, die zu einem nicht unerheblichen Anteil gerade über „Bürokratie“ hergestellt werden.

Auch in der Sozialen Arbeit, z.B. in den Debatten zum Kinderschutz, werden solche Ambivalenzen deutlich: Fälle sollen individuell und mit einem hohen Grad an situativer Flexibilität bearbeitet werden, aber gleichzeitig soll durch Regeln gewährleistet werden, dass nichts Gefährdendes geschieht. Wenn ein Kind zu Schaden kommt, wird öffentlich diskutiert, dass man vorher besser hätte Regeln festlegen und auf ihre Einhaltung sorgfältiger achten sollen. Auch Sozialarbeiter selbst neigen zu solch widersprüchlichen Plädoyers: Sie fordern einerseits Gestaltungsmöglichkeiten, die sie wenig einschränken und ihnen professionell-autonomes Handeln ermöglichen, und einen Augenblick später verlangen sie von der Organisationsleitung „Orientierung“ durch Checklisten oder ähnliche Regelwerke, damit sie genau wissen, was sie tun müssen, und damit sie sich in ihrem Handeln „abgesichert“ wähnen können. Oder der Ruf nach „QM“ (Qualitätsmanagement): Er ist häufig weniger ausgerichtet auf fachliche, diskursive Überprüfungsverfahren („Evaluation“), sondern auf die Festlegung von Prozessen in „QM-Handbüchern“, von denen man zu erfahren erhofft, „wie man es macht“, ohne dass man sich jedoch vergegenwärtigt, dass dadurch „Qualität“ vorwiegend zu einem bürokratisierten Gegenstand wird, bei dem man Gefahr läuft, die fachlichen Gehalte von „Qualität in der Sozialen Arbeit“ geradezu zu verfehlen.

Somit bleibt letztlich zu konstatieren: Auch wenn man selbst im Alltag vielfältige Wünsche äußert, die auf „Regelhaftigkeit“ (als Teil von Bürokratie) hinauslaufen und wenn man somit selbst „Bürokratie“ fördert und fordert – über „Bürokratie“ zu schimpfen, kommt immer gut an und kann auf ein zustimmendes Publikum hoffen! Ein Buch mit dem Titel „Bürokratie“ von einem „Vordenker der occupy-Bewegung“, wie es im Klappentext angepriesen wird, und das in diesem Klappentext „fundamental Kritisches“ verspricht, bedient diesen Reflex und kann mit einem höchst wohlwollenden Publikum rechnen. Nicht zufällig stand das Buch im Frühjahr 2016 auf den Bestseller-Listen und wurde in den meisten Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen sehr wohlwollend rezensiert.

Aufbau

Das Buch wartet auf mit einer relativ groben Gliederung.

Nach einer umfangreichen „Einführung“ (S. 7-56) folgen drei als „Kapitel“ benannten Teile, die nur locker miteinander verbunden sind und eher als drei thematisch unterschiedliche essayistische Abhandlungen gelesen werden können, und einem 25seitigen Anhang, in dem sich der Autor mit dem Film „The Dark Knight Rises“ von Christopher Nolan beschäftigt und hier lockere Assoziationen zum Buch-Gegenstand „Bürokratie“ herstellt.

Inhalte

Wer in diesem Buch genauere Definitionen, insbesondere zum zentralen Gegenstand der Erörterungen, „Bürokratie“, sucht, wird dies vergeblich tun. Mit Definitionen hält der Autor sich nicht auf, sein Metier sind eher die assoziativen Verknüpfungen und die generalisierenden Aussagen, die auch populäre Klischees bedienen, z.B. in der Verkörperung von Bürokratie in den „Männern in grauen Anzügen …, die der Freiheit und der Innovation im Weg stehen und den Menschen vorschreiben, was sie tun müssen“ (S. 22) oder wenn die Notwendigkeit von formeller Berufsausbildung und Abschlusszeugnissen als Indikator für Bürokratie eingruppiert wird (S. 30). Die „totale und räuberische Bürokratisierung“, die sich „in den letzten 30 bis 40 Jahren auf nahezu alle Bereiche unseres Daseins ausgeweitet“ habe (S. 36), habe durch eine Komplizenschaft zwischen Staat und Wirtschaft das ihr eigene „Räuberische“ besonders wirkungsvoll ausbreiten können(S. 36), und zwar auch deswegen, weil die Durchsetzung bürokratischer Regeln strukturell mit Gewaltandrohung verbunden sei (S. 42).

Und in der Folge wird es dann bisweilen ärgerlich, weil im Bemühen um politische Zuspitzung kaum erträgliche Plattheiten produziert werden: „Also: Polizisten sind Bürokraten mit Waffen.“ (S. 90) Der Rezensent erspart sich und den Leser/innen dieser Rezension eine Vielzahl von weiteren Belegen für solche platten Zuspitzungen. Das Interesse des Autors an genauen Definitionen und präzisen logischen Argumentationen ist begrenzt. Es herrscht ein Stil der Zuspitzung, die politisch pronocierte Simplifizierungen nicht umgeht, und der assoziativen Verknüpfung, bei der nicht immer deutlich ist, welche genauen Verbindungen eine Textpassage zu „Bürokratie“ bzw. zu einem auf „Bürokratie“ fokussierten Argumentationsgang hat. Der Autor charakterisiert sein Bemühen, verschiedene Stränge in einer „Bürokratiekritik“ zusammenzuführen: „Eine zeitgemäße Bürokratiekritik muss aufzeigen, wie sich … die Finanzialisierung, die Gewalt, die Technologie, die Verschmelzung des Öffentlichen und des Privaten zu einem geschlossenen, sich selbst erhaltenden Netz verknüpfen.“ (S. 53) Wenn der mehr oder weniger geneigte Leser hier diffuse „Verschwörungstheorien“ mit assoziativen Verknüpfungen unterschiedlicher Thesen aus zunächst eher weiter auseinanderliegen Interpretationskontexten vermutet, liegt er nicht gänzlich falsch.

Der Autor charakterisiert seine drei Kapitel, indem er die drei Kapitel den Perspektiven einer „linken Bürokratiekritik“ zuordnet: „Im ersten Kapitel geht es um Gewalt, im zweiten um Technologie und im dritten um Rationalität und Wert.“ (S. 56) Seinen assoziativen Stil umschreibt er mit folgenden Worten: „Die Kapitel bilden keine zentrale These. Vielleicht könnte man sagen, sie kreisen um ein Argument, im Wesentlichen aber versuchen sie, ein Gespräch in Gang zu setzen – ein längst überfälliges Gespräch.“ (S. 56 f.) Die Anforderung, dass auch in einem politisch pronocierten Sachbuch etwas präziser argumentiert werden sollte und ein Argument nicht nur „umkreist“ werde sollte, mag vielleicht „bürokratisch“ anmuten, sie kann aber nicht als völlig unplausibel zur Seite gelegt werden, wenn man in ein nutzvolles Gespräch einsteigen will. Leider lässt der Autor diese Anforderung für sein Schreiben nicht angemessen gelten.

Entsprechend der Stil-Charakterisierung des Autors selbst fällt es schwer, präzise Thesen oder Argumentationsverläufe aus den drei Kapiteln herauszudestillieren. Im ersten Kapitel (Überschrift: „Tote Zonen der Phantasie. Über strukturelle Dummheit“) wird Bürokratie als ein strukturelles Gewaltverhältnis charakterisiert, das als „bürokratisches Labyrinth“ Durchblick und Phantasie verhindere und auf diese Weise „Dummheit“ erzeuge. „Bürokratie“ wird assoziativ mit vielem verbunden: mit Kapitalismuskritik, mit Überlegungen zu Anarchie, mit anthropologischen Reflexionen, mit dem „transzendenten Konzept der Imagination“, mit politischer Ökonomie und vielem mehr – zumeist assoziativ und „irgendwie“ bezogen auf Bürokratie. Heraus kommt ein assoziativer gedanklicher Brei, der nicht einmal in stilistischer, „literarischer“ Hinsicht anregend oder gar erfreuend präsentiert wird. Alles wird „irgendwie“ zu Bürokratie: weil gesellschaftliches Zusammenleben auch auf Ordnungen und Regeln gründet und gründen muss und weil Regeln nur so lange als solche wirken können, wie sie auch durchgesetzt werden – eben mit „Gewalt“. „Wahlkabinen, Fernsehschirme, Büroräume, Krankenhäuser und die Rituale, die sie alle umgeben – man könnte sagen, das sind die Mechanismen der Entfremdung. Sie sind Instrumente, durch welche die menschliche Phantasie vernichtet und zerschmettert wird.“ (S. 122) Wenn das „linke Bürokratiekritik“ sein soll, braucht man sich über die politische und intellektuelle Folgenlosigkeit einer solchen nicht wundern!

Im zweiten und im dritten Kapitel wird es nicht besser. Im zweiten Kapitel (Überschrift: „Von fliegenden Autos und dem Fall der Profitrate“) erkennt der Autor, nachdem er eingehend Technologiekritik geübt sowie eingeschränkte Erfolge beim „technologischen Wachstum“ diagnostiziert und auf „Bürokratie“ zurückgeführt hat, eine Entwicklung von „poetischen Technologien“ hin zu „bürokratischen Technologien“: Während die ersten entworfen wurden, um „Phantasien und Träume zu verwirklichen“ (S. 174), sind bei den zweitgenannten „administrative Zwänge und Notwendigkeiten … von einem Mittel zum Zweck der technologischen Entwicklung geworden“ (S. 175). Auch hier: lange Ausführungen zur Technologiekritik, bei dem über viele Passagen auch dem geneigtesten Leser rätselhaft bleibt, was das mit Bürokratie zu tun haben soll. Vermutlich, weil Förder- und Finanzierungsprogramme bürokratisch durchzogen sind und dadurch Phantasie hemmen oder begrenzen (S. 165). Der Wunsch des Autors manifestiert sich in einer Hochschule aus einer anderen Zeit: „Es gab eine Zeit, da war die Hochschule der gesellschaftliche Rückzugsort für die exzentrischen, brillanten und versponnenen Naturen.“ (S. 166) Ist das die ernst zu nehmende politische Perspektive einer „linken Bürokratiekritik“?

Das dritte Kapitel widmet sich unter der Überschrift „Die Utopie der Regeln, oder: Warum wir die Bürokratie insgeheim lieben“ dem Fokus „Rationalität und Wert“. Wer hier eine genauere Analyse der anfangs dieser Rezension benannten Ambivalenz erwartet, liegt falsch. Geboten werden assoziative Erörterungen zum Rationalitätsbegriff, zu „heroischen Gesellschaften“, zu Fantasy-Literatur, zu Fantasy-Computerspielen, zum Spiel (als regelgeleitetem – und daher tendenziell bürokratischem – Handeln), zum Spielen (als spielerisches, tendenziell phantasievolles Ausprobieren), zu Sprache – mit der schlussfolgernden These: „Was dem Reiz der Bürokratie letztendlich zugrunde liegt, ist die Angst vor dem Spielen“. (S. 230) Woher eine solche vermeintliche Angst kommt, was dem vermeintlichen Bedürfnis zu regelgeleitetem Spiel zugrunde liegt, welche menschlichen Bedürfnisse sich in Regeln ausdrücken, welche Ambivalenz von Regelbedürfnis und Freiheitbedürfnis die Menschen in unterschiedlichen Situationen antreibt und in welchen widersprüchlichen Institutionalisierungen solche Bedürfnisambivalenzen Gestalt annehmen etc. – dies alles scheint für Graeber wenig bedeutungsvoll und seinen Intentionen einer „linken Bürokratiekritik“ entgegenlaufend zu sein.

Fazit

Am Ende der Lektüre dieses Buches angelangt fragt man sich, welcher Typus von Leser/in einen Gewinn von einer Lektüre haben könnte. Derjenige, der sich über Stellenwert und Wirkung bürokratischer Strukturen in der Sozialen Arbeit Gedanken macht oder gar zur Reflexion und Ausgestaltung des spannungsreichen Verhältnisses von Bürokratie und Profession Anregungen erwartet, wird in dem Buch keine Erkenntnisse und Anregungen finden. Derjenige, der essayistisch gut formulierte, „literarisch“ inspirierende Gedanken erwartet, wird ebenso enttäuscht werden. Wer, wie im Buch versprochen, Ansätze einer Gesellschaftstheorie ggf. mit daraus diskursiv zu formulierenden politischen Perspektiven erwartet, wird angesichts der wenig konsistenten Argumentation ebenfalls unzufrieden sein. Wer beim ersten Anblick des Buches den Anmerkungsapparat und das Sachregister sieht und glaubt, es handele sich um ein tendenziell wissenschaftlich argumentierendes Sachbuch, und sich mit einer solchen Erwartung an die Lektüre macht, wird schnell enttäuscht werden. Also: Wer könnte das Buch dann mit einem guten Gefühl, Erkenntnisse vermittelt bekommen zu haben, nach der Lektüre aus der Hand legen? Der Rezensent sieht sich bei dem Bemühen, diese Frage zu beantworten, überfordert; ihm fällt nicht der Hauch einer überzeugenden Antwort ein!

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Merchel
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Es gibt 12 Rezensionen von Joachim Merchel.

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ISSN 2190-9245