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Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 23.05.2016

Cover Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens ISBN 978-3-406-66986-6

Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. Verlag C.H. Beck (München) 2016. 3., durchgesehene Auflage. 687 Seiten. ISBN 978-3-406-66986-6. 29,95 EUR.

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Autor

„Es waren nicht nur Kommunikationsmängel auf der Exekutivebene, die fehlende Fühlungnahme der Bundesregierung mit der EU und den Nachbarn Ende August und Anfang September 2015, die jenseits der deutschen Grenzen Unmut hervorriefen. Es war auch der hohe Ton, den manche Vertreter des (nach eigener Einschätzung) progressiven Deutschland anschlugen, um deutlich zu machen, wie stolz sie waren, endlich für ein Land sprechen zu können, das nach vielen Irrungen und einer von ihm herbeigeführten Weltkatastrophe seine Lektionen aus der Geschichte gelernt, ja inzwischen ein historisches Entwicklungsstadium erreicht hatte, zu dem sich andere Nationen erst noch emporarbeiten müssen. Ob einige Deutsche wirklich glaubten, dass sich deutsche Menschheitsverbrechen durch gute Werke wiedergutmachen ließen, ist unerheblich. Um viele Nachbarn vor den Kopf zu stoßen, reichte die moralische Herablassung, mit der ihnen einige Sprecherinnen und Sprecher des vermeintlich ‚guten Deutschland‘ gegenübertraten.“

Vergleichbares konnte man hie und da in anspruchsvollen deutschen Zeitungen schon zuvor lesen – aber meist hinten im Feuilleton und aus nicht-deutscher Feder. Am 21. April 2016 aber hatte DIE ZEIT die ganze vierte Seite für Ausführungen unter dem Titel „Es gibt kein deutsches Moralmonopol“ bereitgestellt. Und keinem anderen hätte sie diesen prominenten Platz für eine solch provokante Rede eingeräumt als ihm, dem „Historiker der Berliner Republik“, Heinrich August Winkler (https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_August_Winkler). Der, Jahrgang 1938, ist der Sohn von Eltern, die beide in Geschichte promoviert sind, und steht in einer langen Traditionslinie protestantischen Bildungsbürgertums; beides gute Voraussetzungen für eine Laufbahn als Historiker, die er durch Studien bei bekannten Historikern (es waren tatsächlich ausschließlich Männer) begann und die schon in seinem 32. Lebensjahr in einer Professur an der FU Berlin ihren ersten Höhepunkt erreichte. 1972 nahm er den Ruf auf einen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg an, von wo er 19 Jahre später zurückkehrte in ein Berlin, das nun nicht mehr die (mental wie verkehrstechnisch) fernab abliegende Mauerstadt war, sondern seit einem Jahr Hauptstadt Deutschlands. An der HU Berlin lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2007.

Über die Fachgrenzen der Geschichtswissenschaft hinaus bekannt wurde Heinrich August Winkler schon seit geraumer Zeit mit seinem Werk „Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik“ (Berlin: Dietz, 3 Bde., 1984-1987) und seiner zweibändigen Darstellung der deutschen Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung („Der lange Weg nach Westen“. München: Beck, 2000). Wer anders als er hätte am 8. Mai 2015 die Hauptrede in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges halten sollen?

Sein Opus magnum ist die in der europäischen Antike ansetzenden „Geschichte des Westens“, von denen die ersten drei in den Jahren 2009 – 2014 erschienen. Der vierte und abschließende Band erschien 2015, im selben Jahr noch war die zweite Auflage nötig und Anfang 2016 die dritte (durchgesehene) Auflage, die hier rezensiert wird. Für dieses Großwerk wurde der Autor mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2016 ausgezeichnet. Mehr fachliche und öffentliche Aufmerksamkeit kam einem Buch deutscher Historiker(innen) selten zu.

Wie hellsichtig Heinrich August Winkler ist, erkennt man an einem Beispiel von erschreckender Aktualität. In einem Interview mit dem TAGESSPIEGEL vom 25.01.2015 (www.tagesspiegel.de/politik) sagte er zwei Wochen nach den islamistischen (Januar-)Terrorangriffen in Paris: „Die Unkalkulierbarkeit und die Omnipräsenz des islamistischen Terrors haben mehr als alle anderen Ereignisse des vergangenen Jahres ein Gefühl der Verunsicherung hervorgerufen. Im Rückblick scheint der Terrorangriff auf die USA vom 11. September 2001 die Inhaltsanzeige des 21. Jahrhunderts zu sein.“ Im vorliegenden Buch formuliert er, 9/11 sei „der wahre Beginn des 21. Jahrhunderts“ (S. 12). Ende März 2016 findet man seine Einschätzung mehr als bestätigt.

Heinrich August Winkler folgt Max Webers Unterscheidung von „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ (nachzulesen unter www.uwe-holtz.uni-bonn.de/lehrmaterial/weber_politik_als_beruf.pdf). Zum Werturteil aus historischem Wissen und politischer Verantwortung hat er sich gleichwohl bekannt; der Verzicht auf Wertungen könne folgenschwerer sein als das mit ihnen einzugehende Wagnis. Nachzulesen ist das im anlässlich des 65. Geburtstags des Autors gehaltenen Festvortrag seines Berliner Historikerkollegen Michael Borgolte von 2004 (http://edoc.hu-berlin.de/). Der skizziert dort auch dessen Arbeitsweise: „Es ging und geht ihm darum, Geschichte in ihrem Verlauf zu erklären und dabei zu konzisen Urteilen vorzustoßen, jenseits derer nichts mehr zu sagen bleibt; nie gönnt er sich Aberrationen oder gar das großformatige historische Gemälde, und vor dem Selbstgenuss an sprachlichen Kabinettstücken, zu denen er als Publizist im Stande ist, schützen ihn sein Ernst und seine hohen sittlichen Ansprüche an den Historiker“. (S. 19-20)

Thema

Nach den jüngsten islamistischen Terroranschlägen in Paris und Brüssel konnte man (wieder einmal) Äußerungen von Politiker(innen) hören oder lesen, diese gälten nicht nur dieser oder jener Stadt, sondern „dem Westen und seinen Werten“. Was ist „der Westen“, wie sehen seine Werte aus, was sind seinen grundlegenden Ideen? Das „normative Projekt des Westens“, wie es Ende des 18. Jahrhunderts, nach der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1798, Gestalt gewonnen hatte, skizziert Heinrich August Winkler im vorliegenden Buch (auf S. 585) so: „Die Menschen- und Bürgerrechte gehörten zum innersten Kern dieser Ideen. Dasselbe galt für die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, das heißt die Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt und damit die Unabhängigkeit der Justiz, die repräsentative Demokratie und die Volkssouveränität…“

Der Weg bis dahin war ein langer: „Der alte Okzident brauchte lange, nämlich bis zur Aufklärung, bis er in der Toleranz eine Bedingung von geistiger Freiheit erkannte und anerkannte. Spezifisch war nicht dieser oder jener Bestandteil dessen, was im späten 18. Jahrhundert in den Ideen der beiden atlantischen Revolutionen zusammenfloß, sondern das Ensemble der Werte die das normative Projekt des Westens ausmachen. Die Bedingung ihrer Möglichkeit war der okzidentale, mit Rationalität gepaarte Individualismus, wie er sich im hohen Mittelalter herausgebildet hatte.“ (S. 606) Der geographische Ort „des Westens“ hat sich im Lauf der Zeit immer wieder geändert. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa „gibt es von der Ostgrenze des alten Okzidents bis zur Westküste der USA und Kanadas einen normativen Grundkonsens: den der westlichen Demokratien, die auf den Ideen von 1776 und 1789 gegründet sind“ (S. 607).

Was bislang genannt wurde, ist in aller dem Autor notwendig erscheinenden Breite, Tiefe und (zeitlicher) Länge ausgeführt in den ersten drei Bänden der „Geschichte des Westens“. Der vierte beginnt 1991, dem Jahr des endgültigen Endes des Sowjetimperiums. Es ist kein Buch eines „Elfenbeinturm“-Gelehrten, der Kunst um der Kunstwillen betreibt. Der Autor erklärt im Vorwort in aller Klarheit: „Einen Beitrag zur Ortsbestimmung der Gegenwart zu leisten sollte nach meiner Überzeugung eine der ‚letztlich praktischen Forschungsabsichten‘ der Geschichtswissenschaft sein, und das vor allem dann, wenn diese sich mit der Zeitgeschichte beschäftigt.“ (S. 12)

Aufbau und Inhalt

Das Buch wird eröffnet mit einem Vorwort, in dem der Autor die drei Gesichtspunkte benennt, von denen er ausgeht: „Die Geschichte des Okzidents in den zweihundert Jahren zwischen den magischen Jahren 1789 und 1989 war nicht nur, aber zu wesentlichen Teilen eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder die Verwerfung der Menschheitsideen, die das Erbe der beiden transatlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 ausmachen. Dies ist der erste von drei Gesichtspunkten, von denen ich in meiner Darstellung ausgehe. Ich betrachte die Geschichte des Westens aber auch, zweitens, als eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte und drittens als eine Geschichte der permanenten Selbstkorrektur oder einer produktiven Selbstkritik.“ (S. 13)

Die nachfolgende Einleitung endet mit einem Absatz, der des Autors zentrale Botschaft enthält: „Die subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789 hat sich noch längst nicht erschöpft. Sie hat die westlichen Demokratien zu immer neuen Korrekturen ihrer Politik gezwungen und letztlich aus dem normativen Projekt einen normativen Prozeß gemacht. Wenn die Nationen des Westens mit ihren Abweichungen von den eigenen Werten in Geschichte und Gegenwart schonungslos ins Gericht gehen, können sie auch gegenüber nichtwestlichen Gesellschaften glaubwürdig für ihre größte Errungenschaft eintreten und an dem festhalten, was den Kern des normativen Projekts des Westens ausmacht: dem universellen Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte. Solange diese Rechte nicht weltweit umfassend verwirklicht sind, bleiben die Ideen von 1776 und 1879 ein unvollendetes Projekt. Der Westen gäbe sich selbst auf, wenn er sich mit diesem Zustand abfinden würde.“ (S. 18)

Danach finden sich vier Buchteile, von denen die ersten drei nummeriert sind und der geschichtlichen Darstellung (1991 – 2014) dienen, während der vierte einen zusammenfassenden Überblick über die geschichtliche Entwicklung, wie sie im Gesamtwerk dargestellt wird, und den sich daraus ergebenden Lehren bietet.

Der Inhalt des 1. Teils Vom Triumph zur Tragödie: 1991- 2001 lässt sich am besten darstellen, indem man die Titel der einzelnen Abschnitte wiedergibt:

  • Von Maastricht nach Schengen: Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
  • Weltmacht ohne Widerpart: Die USA unter Clinton (I)
  • Von Srebrenica nach Dayton: Die USA, Europa und die Beendigung des Bosnienkrieges
  • Von Bonn bis zum Baskenland: Westeuropa nach der Epochenwende
  • Ein System bricht zusammen: Italien 1991-1995
  • Bewährungsproben: Ostmitteleuropa auf dem Weg nach Westen
  • Abgrenzung vom Westen: Das Rußland Boris Jelzins
  • Aufbrüche, Anschläge, Affären: Die USA unter Clinton (II)
  • Modernisierer und Traditionalisten: Die Sozialdemokraten an der Macht
  • Von Amsterdam nach Nizza: Der Euro und das Ringen um die Reform der EU
  • Wettlauf nach Westen: Die Beitrittskandidaten der EU um die Jahrtausendwende
  • Intervention ohne Mandat: Der Kosovokrieg in der Kontroverse
  • „Wir sind alle Amerikaner“: Von der Präsidentenwahl von 2000 zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001

Diese Art der Inhaltsdarstellung erscheint die beste auch für den 2. Teil Vom „Krieg gegen den Terror“ zur Weltfinanzkrise: 2001-2008:

  • Von Kabul nach Bagdad: Bushs „war on terror“ und die Spaltung des Westens
  • Pax Americana: Ein „informal Empire“ stellt seine Grundlagen in Frage
  • Die Linke verliert an Boden: Westeuropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts
  • Erweiterung vor Vertiefung: Die Europäische Union 2001-2008
  • Belgrad, Kiew, Moskau: Das Europa jenseits der Europäischen Union
  • Vorboten der großen Krise: „Altes“ und „neues“ Europa in der zweiten Hälfte der Nullerjahre
  • Multipolarität statt Machtmonopol: Die USA in der zweiten Amtszeit von George W. Bush
  • Eine Blase zerplatzt: Vom Beginn der Weltfinanzkrise zur Wahl Barack Obamas

Auch der Inhalt des 3.Teils Das Ende aller Sicherheit: 2008 -2014 ist nicht prägnanter als durch die Wiedergabe der Abschnittüberschriften des Autors wiederzugeben:

  • Die überforderte Weltmacht: Obamas Amerika
  • Berlin, London, Paris: Drei Staaten im Kampf mit der Krise
  • Währungsunion in der Zerreißprobe: Die EU unter dem Druck des Schuldenproblems
  • Enttäuschte Hoffnungen: Der „arabische Frühling“
  • Signale an den Westen: Der Präsidentenwechsel in Iran und die Folgen
  • Repression und Ambition: Rußland und China
  • Schwellenländer im Abschwung: „Frei“ und „unfrei“ in der nichtwestlichen Welt
  • Freiheit versus Sicherheit: Der Westen vor neuen Herausforderungen
  • Putin auf Konfliktkurs: Ost-West-Konfrontation um die Ukraine
  • Folgen einer Wahl: Ein Staatenverbund [die EU ]sucht seine Machtbalance
  • Die Globalisierung des Terrors: Der Westen im Krisenjahr 2014

Der letzte Buchteil Vom normativen Projekt zum normativen Prozeß: Rückblick und Ausblick ist – oder liest sich zumindest als – eine dicht gedrängte Zusammenfassung seiner ganzen vierbändigen „Geschichte des Westens“. An dessen Beginn formuliert er sein Credo, seine durch detaillierte wissenschaftliche Arbeit begründete Ansicht, was Ursprung und Kern des „Projekts des Westens“ ausmacht: „Doch entgegen der [v.a. in Frankreich gepflegten] laizistischen Legende ist die Geschichte des Westens durch nichts so stark geprägt worden wie die Religion in Gestalt des erst jüdischen, dann auch christlichen Monotheismus, der christlichen, auf Jesus zurückgehenden, strikten Trennung der Sphären von Gott und Kaiser und die durch ebendiese Unterscheidung Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt im Bereich der Westkirche im 12. Jahrhundert – einer mittelalterlichen Vorform der Gewaltenteilung. Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz hätte sich schwerlich durchgesetzt, wäre ihm nicht der Glaube vorausgegangen, daß es nur einen Gott gibt, vor dem alle Menschen gleich sind.“ (S. 581)

Der Buchteil endet mit den Worten: „Die Wühlarbeit des normativen Projekts des Westens aber, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, ist noch lange nicht zu Ende.“ (S. 611) Hier spricht ein Mann, der nicht auf eine abstrakte „Macht der Ideen“ setzt, sondern einer, der darauf setzt, dass die „Ideen des Westens“ Menschen so sehr anspricht, dass sie sich diese zu eigen machen, weil sie nur dadurch zu sich selbst kommen.

Nach einem ausführlichen Abkürzungsverzeichnis (von ABC-Waffen bis WTO) folgen die nach den vier Buchteilen geordneten Anmerkungen, die zugleich als Quellennachweis dienen; den Abschluss bilden Personen- und Ortsregister, wobei im zweiten nicht nur Ortschaften, sondern auch bestimmte Gebiete (das Sindschar-Gebirge etwa) oder Länder bzw. Staaten aufgeführt sind.

Diskussion

Was die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Buches anbelangt: Es ist nur etwas für Leser(innen), die (noch) „klassisches“ Buchlesen gelernt haben. Oder dies lernen wollen, wofür das Buch ein ausgezeichnetes Übungsfeld wäre. Ja, es gibt im vorliegenden Text Zwischenüberschriften, aber die liegen in der Regel mehr Seiten auseinander, als Zeitschriftenartikel üblicherweise lang sind. Randnotizen, die einem (angeblich) helfen sollen zu erkennen, worin das Wesentliche besteht, sind nicht zu finden – und natürlich auch nicht Zusammenfassungen, die nahe legen, wie man das ausführlich Geschriebene (vermeintlich) zu verstehen habe. Man (und frau) bekommt hier nichts vorgekaut, hat aber andererseits völlig unverstellten Genuss.

Die ganze fachlich-sachliche Bedeutung des Buches und des Gesamtwerkes wird erst in Jahren und Jahrzehnten sichtbar sein. Zu ahnen ist sie heute schon. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyana (https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Fukuyama) hat unlängst in einem ZEIT-Artikel (www.zeit.de/2016) mit der Überschrift „Demokratie stiftet keine Identität“ ausgeführt: „Ein großes Problem der Europäischen Union war, dass sie unglaublich technokratisch an die Dinge heranging. Sie sprach nur von einer ökonomischen Integration und versäumte es, dafür zu sorgen, dass sich eine tiefere europäische Identität ausbildet. Auch deshalb ist es für die Rechtspopulisten ein Leichtes, in Krisen nationale Ressentiments zu mobilisieren.“ Hier ist von Heinrich August Winkler zu lernen eingedenk aller berechtigter Kritik.

„Etliche Historiker haben ihm vorgehalten, das ‚normative Projekt des Westens‘ werde von der geschichtlichen Realität wenig gedeckt, die Idee des ‚Westens‘ gebe es erst seit dem 20. Jahrhundert, und der Westen, unter Führung der USA, habe sich bei der Verwirklichung der Menschenrechte nicht nur Meriten erworben. Diese Kritik kratzte Winkler aber gar nicht. Mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit hat er ja in seiner Ereignisgeschichte festgehalten, wo es bei der Realisierung des ‚normativen Projekts‘ noch haperte. Vertrackter, ja problematisch, erschien ihm vielmehr, dass die westliche Erfolgsgeschichte sich nicht bis heute weitererzählen ließ. Zu viele Steine lagen im Weg: der auch in seinen Augen üble Irak-Krieg, regierungsamtlich angeordnete Folter, Drohnenschläge gegen Zivilisten, ‚Kollateralschäden‘ in Serie. Deshalb änderte Winkler seinen Begriff ‚normatives Projekt‘. Jetzt redet er von einem ‚normativen Prozess‘.“ (Augstein, 2015)

Fazit

Ein anspruchsvolles Buch für anspruchsvolle Leser(innen). Es gibt kein besseres Werk zur Zeitgeschichte, in welcher Sprache auch immer, als das hier vorliegende.

Literatur

Augstein, F. (2015). Stimme der Bundesrepublik. Süddeutsche Zeitung vom 7.5.2016 (online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/politik; zuletzt aufgerufen am 9.5.2016).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 182 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245