Michael Nollert, Amir Sheikhzadegan (Hrsg.): Gesellschaften zwischen Multi- und Transkulturalität
Rezensiert von Prof. Dr. rer. soc. Angelika Groterath, 14.02.2017
Michael Nollert, Amir Sheikhzadegan (Hrsg.): Gesellschaften zwischen Multi- und Transkulturalität. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2016. 205 Seiten. ISBN 978-3-03777-151-8. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 38,00 sFr.
Thema
Beiträge vorwiegend von Sozialwissenschaftler*innen behandeln Multikulturalität und Transkulturalität und Transdifferenz, multiple bzw. hybride Identitäten, Immigration und Integration u.a.m. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf dem theoretischen Diskurs, der eher ergänzt wird durch Arbeiten, die auch empirisches Material vorstellen bzw. einen Einblick in die politische Praxis der Integration bieten.
Herausgeber
Michael Nollert ist Professor für Sozialforschung und Sozialpolitik im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg, Schweiz.
Amir Sheikhzadegan ist Lehrbeauftragter in diesem Studienbereich.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ist in der Publikationsreihe „Differenzen“ des Seismo Verlages erschienen. Nach Angaben des Verlages handelt es sich bei den Sammelbänden um Beiträge „renommierter WissenschaflerInnen, die im Rahmen von thematischen Vortragsreihen des Studienbereichs Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Fribourg präsentiert wurden“ (o.S.).
Aufbau
Das Buch enthält neun Beiträge, von denen der erste, eine Arbeit der Herausgeber zum Thema „Immigration und kulturelle Vielfalt: Fundament oder Bedrohung der sozialen Kohäsion“, in die Thematik einführt und gegen Ende auch die Autor*innen vorstellt.
Inhalt
Theoretische Erörterungen machen einen wesentlichen Teil dieses Buches aus; und die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit dominiert philosophische, anthropologische oder psychologische Ansätze. Die Theorie-Diskurse werden außer von den Herausgebern wesentlich geführt von
- Hans-Rudolf Wicker (Pluralisierungen und die Reichweite von Multikulturalismuskonzepten in modernen Rechtsstaaten),
- Frank-Olaf Radtke (Diesseits des „interkulturellen Dialogs“),
- Peter-Ulrich Merz-Benz (Transkulturalität – oder die Neubestimmung des Fremden) und
- dem Amerikanisten Klaus Lösch (Multikulturalität, Transkulturalität, Transdifferenz).
Und es handelt sich bei ihren Ausführungen wesentlich um die ‚Innensichten‘ der nördlich-westlichen Welt. Nur Nollert und Sheikhzadegan gehen in ihrem Einleitungskapitel kurz, in ihrem empirischen Beitrag später dann etwas ausführlicher, auf Amartya Sen ein, dessen Ideen mehr als die vieler anderer dazu beigetragen haben, die Prioritäten der internationalen (bzw. „Entwicklungs“-) Zusammenarbeit und damit zweifellos auch die des multi-, trans- oder interkulturellen Miteinanders zu ändern. „Hundreds of millions of people have a chance to a life or live a life they have reason to value because of his ideas, without probably knowing the name of the man who devised them“ – wie der Guardian kürzlich festellte (www.theguardian.com; access 2/12/2017).
Die Autoren zitieren andere names. Sie setzen sich wesentlich mit ‚Ihresgleichen‘, d.h. den Arbeiten und Thesen von Wissenschaftler*innen aus der nördlich-westlichen Welt auseinander. Hier geht es um Konzepte, Begriffe bzw. Begriffshoheitlichkeit, vgl. oben die Titel der Arbeiten. Früher oder später und explizit oder implizit stellt sich denen, die sich hier äußern, die Frage, warum die von Herder geprägte Homogenitäts- bzw. Kohärenz-Vorstellung von Kultur hierzulande schier unüberwindlich scheint. Erfrischend beantwortet wird diese Frage von Merz-Benz: „Dass wir für die Kultur, in der wir leben, heute ganz selbstverständlich Authentizität beanspruchen können, das Kulturverständnis auch keinerlei eurozentristische Züge mehr trägt, geht zurück auf Herder. Hinter seinen Kulturbegriff führt kein Weg zurück (64).“ Merz-Benz, Soziologieprofessor an der Universität Zürich, macht die mit Migrationstheorien weniger vertraute Leserin auch mit Theorien bekannt, die jünger sind als der Herder´sche Kulturbegriff, aber wesentlich älter als die aktuell diskutierten Konzepte von Multi-, Trans- und Interkulturalität, so z.B. mit der Arbeit von Robert E. Park von 1928: „Human Migration and the Marginal Man“. Nach Park gehören „Migration und die damit einhergehenden beiläufigen Kontakte, Konflikte und Verschmelzungen von Völkern und Kulturen“ (S. 70, Zitation Park [1928] 2002) zu den wichtigsten Zivilisationsprozessen. Die „Tour d´horizon in Sachen Migrationstheorie und Begriff des Fremden“ (S. 76) führt Merz-Benz noch zu anderen interessanten Stationen bzw. Menschen und ihren Erkenntnissen, auch ihn jedoch nicht in den Bereich der Empirie. Auf empirische Untersuchungen wird in den theoretischen Arbeiten kaum Bezug genommen. Empiriker*innen und konkret die weit gereiste und international (berufs-) erfahrene Rezensentin wundert das. Eine Aussage wie die der Herausgeber im ebenfalls die Theorie(n) fokussierenden Einleitungskapitel wundert dann ebenfalls: „Von daher überrascht nicht, dass Menschen, die zwischen sozialen Kreisen leben und an Zugehörigkeitsdefiziten leiden, häufig eine Sehnsucht nach Gemeinschaft entwickeln.“ Dass dem so ist, müsste empirisch belegt werden. Und wenn es denn so wäre, sind Zweifel an der vermuteten Kausalität erlaubt, kommen doch die weitaus meisten der Einwanderer*innen aus Ländern mit hohen Kollektivismus-Werten (Hofstede), in denen das Leben in Gemeinschaften selbstverständlicher ist als im individualistischen (Zentral-) Europa bzw. der Schweiz und Deutschland.
Empirische Erkenntnisse bzw. empirisches Material liefern Stefan Kutzner, Professor für Soziologie an der Universität Siegen, mit drei Fallbeispielen zu seinem Thema „Von der Türkei nach Deutschland: Familiennachzug und Heiratsmigration – Transkulturalität oder Separierung?“ und die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens, Professorin an der Universität Zürich, die in dem Beitrag „‚Boundary making‘ via (religiöse Kleidung)?“ aus Interviews zitiert, die für die Dissertation der Mitarbeiterin an diesem Beitrag Jacqueline Grigo geführt wurden. Ausführlicher referieren die Herausgeber selbst eine empirische Untersuchung. Sie nehmen auf Erkenntnisse der Psychologie Bezug, auf die Befunde zu The Nature of Prejudice von Gordon W. Allport von 1954 und auf die Erkenntnisse von Tajfel und Turner (z.B. 1971) über psychologische Prozesse bei Gruppenbildungen im wesentlichen. Ihrer Untersuchung zur „Kreuzung sozialer Kreise, multiple(n) Identitäten und Toleranz“, so der erste Teil des Titels dieser Arbeit, liegt allerdings eine soziologische Theorie zugrunde, die Modernisierungstheorie von Simmel. Im zweiten Teil des Titels kennzeichnen Nollert und Sheikhzadegan ihre spezielle Fragestellung und die Untersuchungspopulation: „Eine Analyse zivilgesellschaftlich engagierter MuslimInnen in der Schweiz“. Nicht ganz erschließen sich alle Zusammenhänge der psychologischen und der soziologischen Konzepte. So bleibt unklar, wie nun genau die Kreuzung sozialer Kreise ‚operationalisiert‘ wird. Der Fokus der Studie ist aber klar benannt. Es geht um die „Auswirkungen von freiwilligen Assoziationen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung ihrer Mitglieder“ (S. 141). Die Autoren referieren in ihrem Beitrag nur Teilergebnisse ihrer Studie, die auf einem fallrekonstruktiven Design basiert. Die Ergebnisse legen ihren Angaben zufolge aber einige Schlüsse nahe, die darauf hinweisen, dass das Engagement in ‚Assoziationen‘ per se weder die Toleranzbereitschaft fördert, noch zur Entwicklung komplexer sozialer Identitäten führt. Wesentlich ist, dass die Assoziationen ihren Mitgliedern die Kreuzung sozialer Kreise ermöglichen.
Kontrastiert werden die acht bislang skizzierten Beiträge durch die letzte Arbeit in diesem Sammelband, die einzige, die von einer Frau geschrieben wurde: Elisa Streuli, Soziologin, war von 2009 bis 2011 die Leiterin der Abteilung Gleichstellung und Integration im Kanton Basel-Stadt. Sie schildert „Integrationspolitik konkret – Überlegungen zur Praxis des staatlichen Handelns“ – und holt damit die Leserin ‚auf den Boden der Tatsachen‘ zurück. Integrationspolitik, so eine ihrer zentralen Aussagen, „ist heute mehr als früher gefordert, unterschiedliche Gruppen zielgerichtet anzusprechen“ (S. 195). Sie schlägt für die entsprechenden Maßnahmenkonzeptionen einen Analyserahmen vor, der „nicht die gesetzlichen Voraussetzungen, sondern die soziale Situation der Bevölkerung ins Zentrum stellt“ (S. 195) und bedient sich dabei des Konzepts des Sozialraums (Castel und Bourdieu). Sie identifiziert längs der Achsen Deutschkenntnisse und hohe vs. tiefe soziale Schicht (Bildungsniveau und arbeitsmarktrechtliche Stellung) vier integrationsrelevante Zonen, für die verschiedene Maßnahmen konzipiert werden sollten. Ethnizität oder ‚Kulturkohärenz‘ sind für die Zonenzugehörigkeit von Einwanderer*innen nicht relevant. – Ein Ausrufezeichen sei hier gestattet! Vgl. die obigen Ausführungen zum Herder´schen Kulturbegriff. – Elisa Streuli macht auch auf eine Gruppe aufmerksam, die in der allgemeinen und wissenschaftlichen Diskussion zum Thema Integration meist übersehen wird: auf die Expats, d.h. die hochqualifizierten Einwanderer*innen, im Analyserahmen angesiedelt in der Zone der Ambivalenz (hohe soziale Schicht und keine oder schlechte Deutschkenntnisse), müssen kein Deutsch lernen – und in Genf auch ganz sicher kein Französisch (Anm. d. Rez.). „Hier steht der Anspruch auf Teilnahme am sozialen Leben durch Spracherwerb den Ansprüchen der Wirtschaft entgegen, welche keine Hürden für Hochqualifizierte einrichten möchte“ (S. 198). In der Tat: „Alle Menschen sind gleich, aber einige sind gleicher“ (ibd.); und das bringt staatliches Handeln in Demokratien wie auch Wissenschaftler*innen, die sich zu Bedingungen für gelingende Integration äußern, durchaus in Erklärungsnot.
Diskussion
Diskutiert wurden die einzelnen Beiträge bereits. Ein Schlusskommentar sollte Herder vorbehalten sein – auch wegen einer gewissen ‚Gender-Aufmerksamkeit‘, wie man das heute nennen würde:
„Da die große Mutter auf unserer Erde kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch mochte – so war kein anderes Mittel, als dass sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen. Unser Erdball ist eine große Werkstätte zur Organisation sehr verschiedenartiger Wesen“. Das ist die Überschrift des 6. Abschnittes im ersten Buch der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“; zitiert nach Dieter Kramer in www.journal-ethnologie.de, Zugriff 13.02.2017.
Fazit
Ein Buch mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt, das eher für die von Interesse ist, die sich an der aktuellen Diskussion des Themas beteiligen, das darüber hinaus aber auch den weniger mit der Thematik Befassten kleine Einblicke in die besondere Situation im Hinblick auf Einwanderung und Integration in der Schweiz gestattet.
Rezension von
Prof. Dr. rer. soc. Angelika Groterath
Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, Professorin für Psychologie des Studiengangs Soziale Arbeit Plus - Migration und Globalisierung am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt.
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Es gibt 13 Rezensionen von Angelika Groterath.
Zitiervorschlag
Angelika Groterath. Rezension vom 14.02.2017 zu:
Michael Nollert, Amir Sheikhzadegan (Hrsg.): Gesellschaften zwischen Multi- und Transkulturalität. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2016.
ISBN 978-3-03777-151-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20631.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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