Claudia Zemlin: 100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 07.06.2016
Claudia Zemlin: 100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz. Und was Sie dagegen tun können. Schlütersche Fachmedien GmbH (Hannover) 2016. 4., aktualisierte Auflage. 128 Seiten. ISBN 978-3-89993-832-6. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Thema und Zielgruppe
Aus Beratungsterminen zur Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen und aus Untersuchungen mit dem Dementia-Care-Mapping (DCM-) Verfahren haben die Autorinnen typische Fragen und Probleme im Umgang mit Menschen mit Demenz zusammengetragen und hierzu jeweils alternative Verhaltensweisen für Pflegekräfte erarbeitet. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf den Zusammenhängen zwischen Haltung, Milieu, Kommunikation, Biografie und herausforderndem Verhalten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Pflegende die Autonomie von Menschen mit Demenz respektieren und schützen können.
Autorinnen
- Jutta König ist Altenpflegerin, Heimleitung, Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit, Unternehmensberaterin, Sachverständige und Dozentin.
- Dr. Claudia Zemlin ist klinische Psychologin und Gerontologin, DCM-Trainerin, Lehrbeauftragte an der Universität Witten/Herdecke und Lehrerin beim Europäischen Netzwerk für Psychobiographische Pflegeforschung nach Prof. E. Böhm.
Aufbau
Das Buch gliedert sich nach einer Einführung in sechs Abschnitte mit insgesamt 100 einzeln thematisierten „Fehlern“:
- Die eigene Haltung
- Kommunikation
- Milieu
- Biografisches Arbeiten
- Körperpflege und Ernährung
- Herausforderndes Verhalten
Jeder der auf durchschnittlich einer Seite dargestellten „Fehler“ ist gleich aufgebaut:
- Zunächst werden „falsche“ Annahmen oder Verhaltensweisen, die im Pflegealltag zu beobachten sind, benannt und erläutert.
- Dann folgt ein Abschnitt „Fakt“, der die Haltung der Pflegekräfte hinterfragt und Motive für das Verhalten der Menschen mit Demenz aufzeigt. Dieser Abschnitt wird manchmal durch Beispiele ergänzt.
- Den Abschluss bildet jeweils ein grau unterlegtes Fazit, wie zum Beispiel: „Erforschen Sie den Grund für den fehlenden Nachtschlaf. Ändern Sie die Angebote am Tag und insbesondere in den frühen Abendstunden. Akzeptieren sie, wenn jemand die Nacht zum Tag macht und vertreten Sie die Inhalte Ihres Pflegeleitbildes und Ihrer inneren Haltung…“ ( S. 97)
Inhalt
Dementia-Care-Mapping ist ein auf dem personenzentrierten Ansatz von Kitwood basierendes Beurteilungsverfahren, das auf der direkten Verhaltensbeobachtung demenzkranker Heimbewohner und ihrer Pflegenden beruht. Hierbei wird das Verhalten demenzkranker Heimbewohner alle 5 Minuten einer von 24 möglichen Verhaltenskategorien zugeordnet (z. B. Essen und Trinken, Pflege erfahren, an einem Spiel teilnehmen). Darüber hinaus wird mittels einer 6-stufigen Skala das Wohlbefinden des Bewohners eingeschätzt. Das Verfahren deckt unter anderem „personale Detraktionen“ auf, hiermit sind – nicht ganz eindeutig operationalisiert – fehlende Zuwendung oder Missbrauch gemeint.
So ist der Ausgangspunkt in diesem Buch jeweils ein beobachtbarer „Fehler“ im Pflegealltag, wie z.B.
- „Menschen mit Demenz werden überfordert“ oder
- „Pflegende reagieren mit eindeutig negativen Gesten“ oder
- „Nahrungsverweigerung wird nie respektiert“.
Im weiteren Verlauf versuchen die Autorinnen den Blick für die Signale, Bedürfnisse und biografischen Erfahrungen der Menschen mit Demenz zu schärfen, um im „Hier und Jetzt“ alternative Herangehensweisen zu erarbeiten. Augenmerk wird auch auf die Rahmenbedingungen für personenzentrierte Pflege gerichtet: Wie schafft man eine fördernde und ermutigende Umgebung, wie geht man mit selbstbewusst und personenzentriert mit Qualitätsprüfungen durch den MdK um und wie wird mit anderen Berufsgruppen (Ärzten, Betreuern) und Angehörigen kooperiert? Die Autorinnen hinterfragen kritisch die Verordnung von Psychopharmaka, das Anlegen von Protektorenhosen und den Umgang mit Ernährungssonden (PEG). Maßgeblich seien Lebensqualität, Freiraum, Bedürfnisorientierung und Selbstbestimmungsrecht und nicht eine ständige Reglementierung im Namen einer bei genauerem Hinsehen fragwürdigen Zunahme an Sicherheit. Durchgängig werden Pflegende angeregt, sich ihren Klienten mit einer angemessenen „Geschichtsfühligkeit“ – mit einem Interesse an dem Leben der Klienten vor dem Pflegeheim – zu nähern, empathisch die zentralen Bedürfnisse und individuellen Wünsche zu respektieren und kreative Lösungen, die Lebendigkeit zulassen, zu entwickeln.
Diskussion
Im einführenden Teil wird kurz auf das inzwischen überholte DSM-IV eingegangen, die in der neueren Literatur stärker betonten Differenzierungen zwischen verschiedenen Demenzformen und die Besonderheiten der frontotemporalen Demenz werden nicht thematisiert.
Die Darstellung konzentriert sich auf die neue Pflegekultur, die die psychosozialen Aspekte der Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt stellt und Pflegende bei einer Haltung unterstützt, die Bedürfnisse erkennt und Lebendigsein zulässt – trotz Demenz. Die Pflegenden werden ermutigt, ihr Pflegeleitbild souveräner anderen Berufsgruppen und Angehörigen gegenüber zu vertreten, wenn Menschen mit Demenz sich unangepasst verhalten.
Ob es hierbei hilfreich ist, von den beobachteten,im Wesentlichen individuell zu verantwortenden Fehlern auszugehen, ist Ansichtssache. An mancher Stelle könnte die Perspektive der Autorinnen auf die Pflegenden Abwehrreaktionen erzeugen: Bei einer Formulierung, wie: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht! Doch trifft das auch für Menschen mit Demenz zu? Pflegende sprechen diesen oft pauschal Kompetenzen ab…“ könnten sich Pflegekräfte von oben herab behandelt fühlen, insbesondere, wenn sie sich selber von ihren Vorgesetzten oder durch prekäre Rahmenbedingungen ebenso auf einen Objektstatus reduziert sehen wie die ihnen anvertrauten Menschen mit Demenz.
Pflegekräfte werden ermutigt, ihr Pflegeverständnis selbstbewusst zu vertreten und ihnen werden durch konkrete Beispiele diesbezügliche Wege aufgezeigt. Zugleich werden praxisnahe Fallbesprechungen als Fortbildung gefordert. Hier würden sich meiner Meinung nach ressourcenorientierte Verfahren mit Videofeedback wie marte meo noch besser eignen als Verfahren, die bei individuellen Fehlern ihren Ausgangspunkt nehmen.
Fazit
Es handelt sich um ein kompaktes Buch, das „typische Fehler“ im Umgang mit Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen benennt und auf der Grundlage eines personenzentrierten Modells alternative Handlungsmöglichkeiten für Pflegende herausarbeitet. Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich alte Kulturen im Umgang mit Demenzkranken so hartnäckig fortsetzen, werden vereinzelt in den Blick genommen, aber nicht umfassend reflektiert, so dass der Eindruck vermittelt wird, dass bei entsprechender Haltung und Schulung der Pflegekräfte das personenzentrierte Modell in den bestehenden Strukturen ohne größere Schwierigkeiten umgesetzt werden kann. Hierzu passend findet sich auf dem Cover die Botschaft: PFLEGE LEICHT.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 07.06.2016 zu:
Claudia Zemlin: 100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz. Und was Sie dagegen tun können. Schlütersche Fachmedien GmbH
(Hannover) 2016. 4., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-89993-832-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20661.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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