Ursula Dallinger: Sozialpolitik im internationalen Vergleich
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 25.05.2016
Ursula Dallinger: Sozialpolitik im internationalen Vergleich. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2016. 250 Seiten. ISBN 978-3-8252-4564-1. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 31,60 sFr.
Thema
Sozialpolitik ist das Ensemble an Regelungen, das dem Sozialstaat konkret und aktuell Gestalt gibt. Sie folgt dem Grundanliegen der Bürgerinnen und Bürger, in bestimmten Lebenslagen kollektiv abgesichert zu sein. Damit geht in gewissem Umfang eine Umverteilung von Finanzen einher. In Europa und Nordamerika hat sich der Sozialstaat historisch in verschiedenen Formen herausgebildet.
Autorin
Ursula Dallinger ist Professorin für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität Trier.
Aufbau
Das Studienbuch umfasst neun Kapitel.
Die ersten beiden sind den historischen und politischen Grundlagen des Sozialstaates gewidmet.
Die folgenden sechs Kapitel befassen sich mit einzelnen Handlungsfeldern der Sozialpolitik, nämlich
- der Umverteilung und Armutsvermeidung
- dem Arbeitsmarkt
- dem Einkommen im Alter
- der Pflege
- der Förderung von Familien
- dem Gesundheitswesen.
Im Schlusskapitel werden die Globalisierung und andere Faktoren diskutiert, die den Sozialstaat herausfordern und verändern, auch die Rahmenbedingungen für Reformen festlegen.
Inhalt
Der Sozialstaat ist eine Antwort auf die Industrialisierung, mit der sich Lohnarbeit verbreitet hat. Da der Einzelne bei Mangel an Arbeitsplätzen, im Alter, bei Krankheit oder durch Unfall kein Einkommen erzielen kann, ist eine kollektive Absicherung, schließlich auch auf gesetzlicher Basis (s. Bismarck) hilfreich. Versicherungen folgen dem Bedarfsprinzip, sind also immer schon Umverteilung innerhalb der Versicherten. Die Redistribution geht jedoch weiter, wenn die Angleichung von Einkommen angestrebt wird. Neben dem Arbeitslohn gibt es also Transfereinkommen, womit der Warencharakter von Arbeit (sog. Commodity) gemildert, „de-kommodifiziert“ wird. Sicherheit und Gleichheit sind die Leitideen. Wie der Sozialstaat diese realisiert, ist am Verhältnis Sozialausgaben zum Bruttoinlandsprodukt (Sozialleistungsquote) für verschiedene Staaten abzulesen.
Dass das Marktgeschehen im Sinne von Sicherheit und Gleichheit korrigiert oder ergänzt wird, erklärt sich aus verschieden Faktoren, insbesondere dem „Machtressourcen-Ansatz“ (Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie, Linke Parteien an der Regierung), aber durchaus auch den Interessen der Unternehmen (Modernisierung, Qualifikationen, Produktivität).
Wie der sog. Gini-Index zeigt, verringern sich die Unterschiede der Markteinkommen in den OECD-Ländern durch Einkommenstransfers, d.h. die verfügbaren Einkommen sind letztlich nicht mehr ganz so ungleich. Hier wie auch bei Betrachtung der sog. Quintilen zeigt sich indes über die letzten Jahrzehnte hinweg, dass die obersten 20% der Gesellschaft zwar etwas Einkommen an das unterste Fünftel abgeben, aber in noch größerem Umfang Markteinkommen erzielten. Armut, definiert als ein Haushaltseinkommen unter 60% des Durchschnitts, betrifft überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, Rentner und Familien mit drei und mehr Kinder, sogar in Österreich oder der Schweiz.
Unbestritten ist, dass im Falle von Arbeitslosigkeit Lohnersatzleistungen auch marktwirtschaftlich geboten sind, um die Kaufkraft der Massen aufrechtzuerhalten. Der Nachweis, dass hohe Lohnersatzraten höhere Arbeitslosigkeit bewirken, ist – so Dallinger – nicht erbracht, es könnte auch „reverse Kausalität“ herrschen.
Für die Alterssicherung stehen die beiden Grundmodelle Bismarck vs. Beveridge mit vielen Varianten zu Gebote. Wird die Rente im Umlageverfahren mit den Beiträgen der aktiven Versicherten finanziert, können absehbar – bei wachsender Zahl von Rentnern, die immer länger Renten beziehen – die definierte Höhe der Rente und die definierte Höhe der Beiträge nicht gleichzeitig realisiert werden. Bei steuerfinanzierten Grundrenten (z.B. in der Schweiz, den Niederlanden) stellt sich dieses Problem nicht in dieser Schärfe, da die Abhängigkeit vom Beitragsaufkommen nicht so stark ist, dafür aber die vom Kapitalmarkt, also den erreichbaren Zinserträgen. Dies wiederum gilt auch für die (staatlich geförderte) Zusatzrente („Riester“) in Deutschland. Auf diesem Hintergrund ist es nach Ansicht von Dallinger „bemerkenswert“, dass Kindererziehungszeiten bei der Altersrente gewürdigt, zuletzt noch verbessert werden
Die Pflegebedürftigkeit vor allem hochbetagter Menschen wurde in Deutschland durch eine neue Sozialversicherung beantwortet, die allerdings durch den Gesetzgeber stark reglementiert ist und auch gewerbliche Dienstleister zulässt. Es fällt auf, dass in Pflegeheimen kaum mehr als ein Drittel, in ambulanten Settings weniger als ein Drittel der Beschäftigten vollzeit arbeiten, die Mehrzahl in Teilzeit oder geringfügigen Beschäftigungen. Wieweit die ursprünglich einmal familial geprägte Hilfe weiter „vermarktlicht“ wird, ist noch offen.
Die Familienpolitik in den OECD-Ländern kann nach Art und Grad des „Familialismus“ differenziert werden: Deutschland hat Familien finanziell entlastet, Kinderbetreuung war wenig ausgebaut. Dies ändert sich gegenwärtig in Richtung auf „optionalen“ Familialismus wie in Schweden oder Frankreich hin,wo die öffentliche Kinderbetreuung den Müttern erlaubt, auch voll erwerbstätig zu sein. In einigen (nicht allen) Ländern geht die höhere Frauenerwerbsbeteiligung auch mit höheren Geburtszahlen einher.
Die Zukunft des Sozialstaates wird von verschiedenen Faktoren bestimmt sein. Es ist sicher davon auszugehen, dass die „Resilienz“ anhält: Wähler werden Kürzungen ablehnen, ebenso wie die Politiker, die wieder gewählt werden möchten. Allerdings sind arbeitslose (gering qualifizierte, nicht-organisierte) Menschen und andere schwache Interessensgruppen vor Rückbau nicht gefeit. Die sog. Pfadabhängigkeit besteht darin, dass eingeführte, traditionelle Systeme (gerade bei der Altersversorgung) nur sehr langsam verändert oder umgestellt werden könnten. Die Globalisierung hat – ob real oder vermeintlich – Druck auf die Löhne, insbesondere auch die sog. Lohnnebenkosten ausgeübt. Sie war und ist der Bevölkerung nur zu vermitteln, wenn die Regierungen sozialen Schutz und Sicherheit versprechen. Populismus droht ohnehin.
Diskussion
Die Autorin stellt klar heraus, dass die Marktwirtschaft durch Sozialpolitik korrigiert und komplementiert werden muss. Man könnte es noch schärfer formulieren: Ohne die Leistungen anderer Systeme, allen voran der Familie und des Bildungssystems, könnte Markt nicht funktionieren. Weite gesellschaftliche Bereiche sind mit den Mitteln des Marktes (allein) nicht zu gestalten. Insofern ist doch verwunderlich, dass die Autorin die Versorgung behinderter Menschen (das komplette SGB IX) oder die Regulierung des „Wohnungsmarktes“ (Sozialer Wohnungsbau, Eigenheimförderung, Mietrecht etc.) nicht einmal erwähnt.
Ohne jede weitere Begründung verzichtet die Autorin auf die Frage, wie die Vermögen verteilt sind. Bekanntlich ist deren Ungleichheit größer als die der Einkommen. Die Debatte über Vermögenssteuern ist höchst aktuell, speziell auch zur Besteuerung von Schenkungen und Erbschaften (mehr Ungleichheit wird nirgends sonst transportiert).
Das Studienbuch hat, wie sich an den Umfängen der Kapitel leicht sehen ließe, ihre Schwerpunkte auf Arbeit-Armut-Alter, auch Familie gesetzt. Beim Thema „Gesundheit“ reicht es auf zehn Seiten nur zu Übersichten über die Reihe der Kürzungsmaßnahmen. Dabei fehlt jeder Hinweis auf die Privatversicherung (deren Abschaffung manche vehement fordern).
Dallinger geht in jedem Kapitel von empirischen Daten, Zahlen, vielfach OECD-Statistiken aus. Insgesamt stellt sie über 60 Abbildungen und Tabellen vor, wobei der Unterschied nur der ist, dass die einen graphisch aufbereitet sind, die anderen nicht. Die Graphen sind, etwa bei Verlaufskurven für zehn Länder über Jahrzehnte kaum noch unterscheidbar, fast unlesbar. Abbildungen wie Tabellen werden in jedem Kapitel, aber unabhängig vom Unterkapitel, für sich durchgezählt, sodass z.B. im Unterkapitel 5.3.1. auf die Tabelle 5.2. die Abbildung 5.4. folgt. Die Statistiken werden dabei gut erklärt und kritisch beleuchtet; Vorbehalte zur Lohnquote (Abb. 3.1.) wären da aber schon angebracht (Einkommen von Selbständigen müssen nicht immer hoch sein, die von Angestellten können aber durchaus).
Ein Studienbuch wie dieses steht vor dem Problem, dass es eigentlich alle sozialpolitischen Regelungen im Detail vorstellen müsste, ehe es Reformbedarf oder Alternativen im Ausland vorstellt. Dallinger löst das Dilemma, indem sie die geltenden Regelungen in Grundzügen dokumentiert. Manchmal geht das sehr ins Detail (z.B. Eurobeträge bei Pflegegeld), manchmal zu wenig: Ein Stichwort wie „Beitragsbemessungsgrenze“ etwa reicht nicht, die verblüffende Regelung (Ende des Äquivalenzprinzips bei den Beiträgen) ist doch systemrelevant.
Auch wenn, wie dargestellt, das Buch von Ursula Dallinger einige Wünsche offenlässt, so ist ihr doch auf kleinstem Raum ein kompaktes, kluges und instruktives Studienbuch gelungen, das Studierenden jederzeit empfohlen werden kann.
Fazit
Das vorliegende Studienbuch ordnet Sozialpolitik theoretisch und empirisch klar ein, präsentiert Varianten des Sozialstaates, diskutiert einige aktuelle Kontroversen und zukünftige Herausforderungen, besonders in Hinsicht auf die Alterssicherung.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 25.05.2016 zu:
Ursula Dallinger: Sozialpolitik im internationalen Vergleich. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2016.
ISBN 978-3-8252-4564-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20666.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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