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Alain Badiou: Pornographie der Gegenwart

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 18.05.2016

Cover Alain Badiou: Pornographie der Gegenwart ISBN 978-3-85132-750-2

Alain Badiou: Pornographie der Gegenwart. Turia + Kant (Wien) 2014. 49 Seiten. ISBN 978-3-85132-750-2. D: 9,00 EUR, A: 9,00 EUR, CH: 13,50 sFr.

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Thema

Philosophie macht nicht nur Probleme, sie hat auch welche. Und ihr wohl größtes Problem ist: die Gegenwart. Probleme macht diese, weil sie dem philosophischen Denken stets ein Stückchen in Zeit und Raum voraus ist, die stolze Philosophie ihr stets hinterherhinken, rücksichtsvoller ausgedrückt, der Gegenwart stets hinterher fliegen muss, auf Eulenart in der Dämmerung.In ihr Zustandekommen und ihre Gestaltung ist die Dämmerungsaktive selten involviert. Aber Philosophie wäre nicht Philosophie, wenn sie diesen Preis nicht gerne zahlte, da sie die Freiheit vom Handeln in die Weisheit der Reflexion ummünzt. So verwandelt sie dieses ihr Hinterherhinken und Hinterherfliegen in das Post-Festum ihres zwielichtigen Nachdenkens, das die Distanz zwischen Denken und Gegenwart zwar nie aufhebt, aber die Gegenwart doch als eine „Ordnung der Repräsentation, Ordnung der Bilder“(Badiou, S.6) sich anverwandelt und auf diese Weise ihr Problem mit der Gegenwart zu ihrem, zu einem Problem ihres Philosophierens macht.

Inhalt

DerVortrag des französischen Philosophen Alain Badiou über die „Pornografie der Gegenwart“ knüpft an diese mal zum Verklären, mal zum Aufklären neigendeDistanziertheit zur Gegenwart an, die nicht nur für die Philosophie, sondern für Denken überhaupt, subjektives wie gesellschaftliches, konstitutiv sein soll. Badiou macht diese Distanz oder „Trennung“ von Denken, i.e. Repräsentieren und Imaginieren, und Gegenwart, i.e. das Repräsentierte und Imaginierte, zu seinem Thema. Dabei geht er gerne das „Risiko“ ein, das in einer „echten Analyse der Bilder der Gegenwart“ (ebd.) oder in einer „Beschreibung des Regimes der Bilder“ (ebd.) besteht. Denn wenn „Gegenwart“ dem Denken nur post festum im reflexiven Akt der Repräsentation und des Bildes zugänglich ist, dann gibt es Spielräume darin, Repräsentation und Bild der Gegenwart unterschiedlich, also sowohl „echt“ als auch „unecht“ zu gestalten. Und Philosophen wären unerfahrene Liebhaber der Wahrheit, wenn sie das Verhältnis von Repräsentation und Bild zur Gegenwart nicht kritisch an für sie unbestechlichen, „echten“ Kriterienüberprüften.

Badious Echtheitskriterien sind „das Reale“ und „das Begehren“, die ihre Verfälschung ins unechte Imaginäre aufzuspüren helfen. So zielt seine Philosophie auf zweierlei ab: Zum einen darauf, „…den Mechanismus zu verstehen, der das Reale in Repräsentation und das Begehren in Bilder verwandelt“ (8); und zum anderen darauf, die „imaginäre(n) Manöver“ zu entdecken, die „die Zustimmung von Subjekten zu der Macht (…) erpressen, die sie von ihren wahren kreativen Fähigkeiten trennt.“ (8f) Damit ist ein weiteres Echtheitskriterium im Sinne Badious benannt, die „wahren kreativen Fähigkeiten“, und eine valide Größe bezeichnet, die das Echte: das reale Begehren der Subjekte in ihnen Uneigenes und also ins unechte Imaginäre entfremde: „die Macht“.

Als exemplarischer Analysegegenstand für sein Vorhaben dient dem Autor dabei das Stück des französischen Dramatikers Jean Genet mit dem Titel „Der Balkon“ aus dem Jahre 1957. Dieses Stück führt laut Badiou vor, „… was in Ausdrücken wie ‚Bilder der Gegenwart‘ auf dem Spiel steht. Tatsächlich fragt der Text von Genet explizit danach, was aus den Bildern wird, wenn die Gegenwart in Unordnung gerät.“ (Badiou, S.7) Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang für Badiou, dass der Psychoanalytiker Jacques Lacan dieses Genet-Stück kommentierte und als „Komödie“ (ebd.) verstand. Und Komödien zeichneten sich nach Lacan dadurch aus, dass sie „das Erscheinen eines Signifikats“ (ebd.) bewirken. Daraus folgert Badiou, dass die Komödie im Unterschied zur Tragödie stets einen Gegenwartsbezug hätte, weil sie etwas erscheinen lasse, und „erscheinen lassen“ heiße, dass etwas gegenwärtig werde. Doch welches Zeichen, welche Art Zeichen erscheint in der Komödie? Für den Psychoanalytiker Lacan liegt der Fall klar, es ist das freudianische Symbol von Macht schlechthin, „der Phallus“ (Badiou, S.9). Badiou folgt auch hierin Lacan, dass in der Komödie gegenwärtig wird, „was von der Macht in der Gegenwart liegt“ (Badiou, S.9f) und dort als deren „authentisches Symbol“ erscheine, als „der Phallus“ (Badiou, S.9). Badiou politisiert gewissermaßen Lacans Deutung, indem er „(…) den spekulativen Phallus unserer Gegenwart“ (10) benennt, er heißt: „Demokratie“. Darunter will Badiou nicht eine begriffliche Repräsentation für eine „echte“ Herrschaft des politischen Volkes verstanden wissen, sondern vielmehr „eine oder die unbefragte Voraussetzung“ unseres politischen Lebens: „Demokratie (…) ist unser Fetisch.“(Badiou, S.12) Insofern sei der Name „Demokratie“ heute der Name der Macht, freudianisch ausgedrückt, „der Phallus unserer Gegenwart.“ (Badiou, S.13) Badious Absicht ist, wie gesagt, die Kritik des Fetisch-Signifikats „Demokratie“, mit dem sich „die Macht“ in unserer Gegenwart drapiert, um durch die Kritik „…die Lebendigkeit einer echten Gegenwart zu erobern.“ (Badiou, S.13)

In Jean Genets Theaterstück steht „Der Balkon“ als Chiffre für eine Welt des Imaginären, für eine Ordnung der Bilder, die „die Macht“ als Bordell vorstellt. Das echte Begehren wird im Bordell kommerzialisiert und seine Befriedigung in Geld konvertierbar. Der Balkon ist das Symbol für die Ordnung der Macht, die das echte Begehren auf unechte Bilder lenkt und so sich selbst entfremdet. Doch der Philosoph weiß, worauf sich das echte Begehren in allen Sphären der Gesellschaft eigentlich richtet:

„Nun, in der Politik ist es das Begehren nach einer Revolution, die die wirkliche Gleichheit der ganzen Menschheit herstellen würde; in der Dichtung das Begehren nach dem Erhabenen, durch das sich eine besondere Sprache nach einer tiefgehenden Bearbeitung auf das Niveau einer allgemeinen Klarheit erheben würde; in der Mathematik das Begehren nach der intellektuellen Seligkeit, die nur durch die Sicherheit erreicht werden kann, ein Problem gelöst zu haben, von dem man wusste, dass es extrem schwierig ist, und diese Lösung der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen; in der Liebe ist es das Begehren danach, dass die Erfahrung des Lebens zu zweit als intensiver und exakter erweisen möge als das alleine.“ (Badiou, S.17)

Und genau von diesen ihren realen Objekten trennt das von „der Macht“ in Kurs gebrachte Imaginäre das echte Begehren. Im Stück „Der Balkon“ spielt sich außerhalb des Bordells ein Arbeiteraufstand ab, der für Badiou die Gegenwelt zum Imaginären der Macht die Gegenmacht des Realen repräsentiert. Im Aufstand manifestiere sich das revolutionäre Begehren nach echter Gleichheit. Allerdings erweist sich der konventionelle philosophische Blick auf den Aufstand als „phantasmierte(s) Begehren“, denn, sagt Badiou: „Das Bild ist der Mord an der reinen Gegenwart.“ (Badiou, S.20)

Ein weiterer Gedanke schließt eine weitere Seite dieser „Macht“-Konzeption auf: Sie ist „nackt“, hat kein eigenes „Bild“, sondern ist ein „nacktes Reales“, das sich mit fremden Bildern wie das der „Demokratie“ und des „Handels“ maskiert und so das echte Begehren von seinen eigeneigentlichen, also wahren Interessen, also vom eigenen „Realen“ weg auf das unechte Imaginäre der Macht hinlenkt. Insofern ist das „Reale“ für Badious Argumentation ausschließlich im „Außen“ der Macht, im Außen der Bilder zu finden, mit der die „Bildmaschinen“ der an sich bildlosen und begehrensunwerten „Macht“ das echte Begehren verführt und genau dieser „Macht“ subordiniert. Im Stück Genets ist das Bild, mit der sich die Macht repräsentiert, die Figur des Polizeipräsidenten, und das Bild, mit dem dieser sich drapiert, der Phallus als Symbol für die Ordnung der Macht im mächtigen Bordell der Bilder dieser Gesellschaft.

Aus dieser eigentümlichen Analyse der Bilder und Repräsentationen, und der sie produzierenden „Macht“ springt Badiou hinüber in die Reflexion der Gegenwart. Sie dient ihm als Methode und als Folie, um das Reale der Gegenwart zu entblößen. Dabei beruft er sich auf Marx´ Ideologiekritik:

  1. „Welches ist die bildhafte Bedeckung der Gegenwart? Worin genau besteht unser Bordell, seine gewerbliche Instanz und/oder seine politische Pornographie?(…)
  2. Was sind die realen Spuren dessen, was sich dem Bild entzieht? Sind politische Wahrheiten möglich, die sich den Bildern entziehen?
  3. Wer hat unter der Prüfung durch die Wahrheiten, die wir für möglich halten, die Faktizität der Gegenwart unter seiner Obhut? Wie lautet der Name der nackten Macht? Was ist der unbestimmte und unsichtbare Garant der Macht? (…)
  4. Was ist das Symbol der nackten Macht? Was ist der Phallus der Gegenwart?“ (Badiou, S.29f)

Badiou konzentriert sich auf die Beantwortung der vierten Frage: „Was ist der phallische Fetisch unserer Zeit?“ Und Badiou antwortet: „Das Symbol der gegenwärtigen Zeit, ihr Fetisch, das, was die Macht ohne Abbild mit einem falschen Bild bedeckt, ist das Wort ‚Demokratie‘“. Damit ist Badiou beim Kern seines Anliegens angelangt: „Demokratie“ als das Bild zu dekuvrieren, mit der sich „die Macht“ kuvriert, um auf diese Weise das echte Begehren des Volkes nach ihren realen Objekten: nach politischer Gleichheit freizulegen und auf diese Weise wieder zu verlebendigen: „Wir müssen“, so Badiou, „die demokratische Sentimentalität aus unseren Seelen reißen. Andernfalls wäre der Schluss sehr düster, die Gegenwart würde früher oder später in das Schlimmste umschlagen.“ (Badiou, S.32)

Im Theaterstück „Der Balkon“ kommt es indessen anders als Badiou es für die politische Wirklichkeit will: Als das Außen des Bordells, also das echte Begehren, „das Reale“ in Gestalt des Arbeiterführers mit dem Innen des Bordells, mit denRepräsentanten der Gesellschaft im Dienst der nackten Macht schließlich in Kontakt kommt, erliegt er/es ihr, indem er/es nach ihren unechten, verführerischen Bildern und falschen Repräsentationen verlangt. Am Ende will der Agitator des Realen am wollüstigen Maskentreiben mittun.

Diese „Zirkularität“ [1], diese Korruption des echten Realen durch das unechte Imaginäre der Macht ist als „bitteres“ (Badiou) Ende des Theaterstücks für den Marxisten Badiou inakzeptabel. Zwar beschreibt das Komödien-Theater für Badiou die gegenwärtige Bebilderung „der Macht“ als Fetischisierung der „Demokratie“, nicht aber die immer verbleibenden Real-Möglichkeiten echten Begehrens, dem prinzipiell die politische Form der „Revolution“ offen stehe. Dennoch, sieht der Philosoph Badiou die Option „Revolution“ für „unsere Welt“ (Badiou, S.37) außer Kurs geraten, denn „unsere Welt (ist) nichts als der Neubeginn der Macht unter dem konsensuellen Bild der kommerziellen Demokratie“(ebd.).

Der Niedergang der revolutionären Option hängt für den Marxisten Badiou eng mit dem Niedergang ihres revolutionären Subjekts zusammen – um in der Sprache der politischen Theorie der Revolution zu bleiben. Es fehlt der deutliche Klassenantagonismus von herrschender und beherrschter Klasse, von reicher Oberschichtbourgeoisie und verelendetem Unterschichtproletariat, der die Dynamik des Klassenkampfs in Richtung Revolution in Gang setzte. An seine Stelle ist in der Perspektive Badious eine Situation des „Dazwischen“ getreten, gesellschaftlich repräsentiert durch die demokratisch und kapitalistisch korrumpierten „Mittelschichten“. Und diese durch die Macht des Kapitals und ihres Fetischs „Demokratie“ geblendeten und verführten „Mittelschichten“ tragen „die Macht“, der sie ihre komfortable uneigentliche Lebenslage zu verdanken glauben und die sie aufrechterhalten wollen, solange sie dabei gut wegkommen:

„Denn das Individuum der Mittelschicht, das wir hier alle zu einem Teil selbst sind, wünscht, auf der Welt so wie sie ist zu beharren, vorausgesetzt der Kapitalismus bietet ihm eine weniger despotische, konsensuellere Autorität und eine besser regulierte Korruption, an der er teilhaben kann, sich dessen bewusst zu sein. Das ist möglicherweise die beste Definition der zeitgenössischen Mittelschicht: naiv an der riesigen, ungerechten Korruption des Kapitalismus teilzunehmen, ohne es auch nur wissen zu müssen. Andere, sehr wenige an der Zahl und an höherer Stelle werden es für sie wissen.“ (43)

Also: „Was tun?“ Wie also dem Kapitalismus in dieser Lage noch beikommen, wenn der „Mythos der Revolution“ (George Sorel) verblasst und keine revolutionär enthusiasmierbare Unterklasse mehr in Sicht ist, da die sozialen Klassen ihres echten Begehrens „kapitalistisch“ und „demokratisch“ entfremdet sind? Welche Art von revolutionärer Aktion schwebt Badiou vor?

Der philosophische Kritiker der falschen Bilder und imaginären Repräsentationen hält dafür einzig die „poetische Kritik an der Demokratie“ für „radikal“ und „gefährlich“ genug, da jede andere Kritik: die politische wie die ökonomische der Bildermacht der nackten Macht und ihres „finanziellen Bordells der Bilder“ (ebd.) erliegen muss und also leicht korrumpierbar ist. Poesie als Subversion der Kreativität, die die Macht der Bildmaschine und ihr Imaginäres brechen soll: „Lassen Sie uns also, wenn wir wissen wie, aber wir wissen es immer ein wenig, solche Gedichte und Bilder entwerfen, die keines unserer unterdrückten Begehren erfüllen. Entwerfen wir die poetische Nacktheit der Gegenwart.“ (Badiou, S. 46)

Mit diesem Appell schließt der Vortrag des Philosophen Badiou, und dieses Ende seines Textes lässt erahnen, welche Bedeutung sein Titel: „Pornographie der Gegenwart“ haben könnte.Der Titel stellt auf „poetische Weise“ das Bild der Gegenwart, ihre Repräsentation als „Demokratie“ unter Ideologie-Verdacht, analog dem theatralischen Verfahren von Jean Genet, der in seiner wilden Farce „Der Balkon“ die bürgerliche Gesellschaft als Bordell entlarvt, in dem ihre Repräsentanten: Bischof, Richter, Scharfrichter und Polizeipräsident ein zutiefst obszön-geiles Maskenspiel aufführen. Für Badiou ist „Demokratie“ das Bild, die Maske, die Repräsentation, mit der sich die an sich nackte, reizlose, unattraktive „Macht“ geil aufbrezelt, gewissermaßen sich „Demokratie“ wie einen Dildo anschnallt und dem „Volk“ eine sexuelle Penetrationsgymnastik vorturnt, die sein wollüstiges Begehren erregt und es zu voyeuristischer Masturbation stimuliert. Am Ende verkommt das echte Begehren nach Gleichheit und Emanzipation im politischen Akt zur individuellen Masturbation vor dem Porno der Phallokratie der Macht.

Diskussion und Fazit

Rezensent hat sich bemüht, den Gedankengang des Philosophen Badiou nachzuvollziehen, möglichst fair, möglichst neutral, in der Absicht, sich aller pejorativen, ja ironischen Töne zu enthalten, die mir unter den Fingern juckten. Die von Badiou vorgetragene Gesellschaftskritik ist der Form nach eine Deutung der Deutung der Deutung von Deutungen – freudianisch, lacanianisch, marxistisch und strukturalistisch inspiriert, also ein Glasperlenspiel a la manière française in Sachen „Philosophie“, die die Gegenwart nur als Bild von Gegenwart und nicht als Gegenwart von Gegenwart verstehen will. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, oder besser: das halbe Bild, das Badiou den Lesern präsentiert. Denn entgegen Badious Satz, dass der Reflexion die Gegenwart prinzipiell nur vermittelt, post festum als Repräsentation und Bild von etwas Realem, zugänglich sei, verfügt der Marxist und Kommunist doch über die Einsicht ins einzig Wahre und Reale, ins wahre und reale Begehren der Menschen, das die Bildmaschinen der Macht in ihrem Selbsterhaltungsinteresse ihnen verschleiert. Und das erweist sich aus seinem Text heraus als die alten Politik- und Kulturtugenden des Abendlandes: Gleichheit in der Politik und soziale Gerechtigkeit in der globalisierten Ökonomie, Erhabenheit in der Kunst und das Glück der Erkenntnis in der Wissenschaft.

Pierre Bourdieu, der großartige französische Soziologe, unternahm vor seinem Tod einen „soziologischen Selbstversuch“, in dem er öffentlich über seinen Weg aus der Philosophie in die Soziologie nachdachte. Für ihn war dies der Ausbruch aus einem universitär verankerten Mandarinat, das sich gegen die Erkenntnis der sozialen Gegenwartswirklichkeit verschließt, indem es sich in die Netze eines hermetischen Diskurses einspinnt und eine kastenartige Selbstglorifizierung auf Kosten der Wirklichkeitserkenntnis betreibt. Bourdieus Soziologie dagegen bemüht sich um ein realistisches Bild der französischen Gegenwartsgesellschaft und weicht vor der Anstrengung, sich ein solches zu erarbeiten, nicht in die komfortable Übersichtlichkeit eines so poetischen wie radikalen Theaterstückes aus. Denn die soziale Welt ist denn doch komplexer als ein bürgerliches Hüttchen, in dem Prostituierte Wollust verkaufen, und Demokratie realer als die Bilder der Pornographie. Und Bourdieu führt in seinen Monographien zur französischen Gesellschaft vor, wie Erkenntnis reflektiert und kritisch, realistisch und gegenwartsnah sein kann, die Voraussetzung dafür, den Bildern und dem Imaginären nicht auf den klebrigen Leim zu gehen, sondern gegenwärtig zu bleiben und nicht erst in der Dämmerung aktiv zu werden.


[1] Hier berührt der Dichter Genet Gedankengänge, die auf die italienischen Realisten Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Roberto Michels führen, die exakt diese Zirkulation der Eliten als eigentlichen Motor der Geschichte entdeckt haben wollten. Für den historischen Materialisten ein falscher Realismus, also ein Fatalismus, für den Leninisten eine Bestätigung für seine Kader-Strategie und für den Stalinisten eine Ermutigung für turnusmäßige Säuberungen – also für Badiou inakzeptabel.

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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ISSN 2190-9245