Johannes Boettner: Ambivalenz der Aufmerksamkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Brigitta Michel-Schwartze, 08.04.2016
Johannes Boettner: Ambivalenz der Aufmerksamkeit. Öffentlichkeit, Vertraulichkeit und Diskretion im Berufsfeld der Sozialen Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. 211 Seiten. ISBN 978-3-8474-0725-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Interaktion wird in der Sozialen Arbeit weit überwiegend unter dem Primat von Beratung, Beratungskompetenz und Professionalität sowie mit Blick auf die Dynamik in einer asymmetrischen Beziehung problematisiert und theoretisiert. Johannes Boettner erweitert diese Perspektiven auf SozialarbeiterInnen-KlientInnen-Interaktion um drei relevante Aspekte:
- um die Erkenntnis, dass allein die Aufmerksamkeit der Sozialen Arbeit die Betroffenen stigmatisiert,
- um die Problematisierung der Beobachtungsperspektive Sozialer Arbeit, die auf Abweichungen fokussieren und damit, wenngleich ungewollt, die Beobachteten diskreditiert,
- um Verweise auf den „Verwendungszusammenhang“ der Interaktionsinhalte im Kontext Sozialer Arbeit, der Weiterverwendungen für unterschiedliche Interventionen evoziert.
Die Intention des Autors liegt in der Beobachtung, Reflexion und Theoretisierung der sozialen Interaktion zwischen Sozialarbeitenden und ihrer Klientel im Kontext ambivalenter Aufmerksamkeit, perforierter Diskretion und nicht zuletzt institutioneller Zwänge.
Damit wird nicht allein die tradierte Perspektive bereichert, sondern zugleich die Möglichkeit erweiterten Bewusstseins gegenüber klienteler Zurückhaltung aufgrund deren berechtigter Befürchtungen um Diskreditierung und Gesichtsverlust aus soziologischer Perspektive theoretisiert. Boettner geht es um „das Austarieren des Verhältnisses von Öffentlichkeit, Vertraulichkeit und Diskretion angesichts des … unvermeidlichen Umgangs mit sozial diskreditierenden Information“ (S. 13). Öffentlichkeit in diesem Sinne ist auch das mikrosoziologische Setting der face-to-face-Kommunikation.
Autor
Prof. Dr. Johannes Boettner lehrt Sozial(arbeits)wissenschaft, Netzwerk- und Gemeinwesenarbeit an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung und leitet dort u.a. den Studiengang Master Social Work sowie zwei der Hochschule als Lehrpraxisstellen angegliederte Stadtteilbüros.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung deutet sich das Gefüge des Buches in steigender Komplexität an: auf theoretische Basierung folgen eine mikro-, danach eine mesosoziologische Analyse von Interaktionen im Kontext Sozialer Arbeit, die sich dann auf den Kontext der Gemeinwesenarbeit konzentrieren.
Im ersten Abschnitt (S. 15 – 36) beginnt der Autor mit einer theoretischen Fundierung seiner weiteren Ausführungen, in deren Zentrum der Begriff der Aufmerksamkeit einerseits, der der Öffentlichkeit andererseits stehen. Unter Rückgriff auf Theorien von u.a. Sartre, G.H. Mead und insbesondere Goffman wird Aufmerksamkeit problematisiert und mit dem Öffentlichkeitsbegriff konjunktiviert, so dass beide Begriffe dimensioniert und konktextualisiert werden können. Boettner konstatiert die Ambivalenz von Aufmerksamkeit insbesondere im Bereich der Sozialen Arbeit mit Blick auf den Verwendungszusammenhang der Interaktionsinhalte in einer spezifischen Öffentlichkeit. Ziel dieses Teils ist es, Öffentlichkeit „sowie deren Reichweite und Begrenzung kontextbezogen zu verstehen“, so dass in den folgenden Kapiteln auf dieser reflexiven Amalgamierung aufgebaut werden kann.
Der folgende Abschnitt (S.37 – 86) fokussiert auf „Beobachtungs- und Kommunikationsverhältnisse in lokalen Begegnungen“ und wird mikrosoziologisch fundiert. Hier beobachtet der Autor das „soziale Mikro-System“ der interpersonalen Beziehung in seinem jeweiligen Interaktionsrahmen zwischen Diskreditierung und Diskretion. Doch geht es ihm nicht allein um die Problematisierung und Reflexion „limitierter Beziehungsöffentlichkeit“. In seiner Bezugnahme auf Soziale Arbeit thematisiert er wiederum die aus der strukturellen Einbettung resultierende Gefahr der „für die Klienten schädliche Weiterverwendung von Informationen“ (S. 86).
Auf der mikrosoziologischen Basierung aufbauend befasst sich das folgende Kapitel mit der mesosoziologischen Analyse der „Beobachtungs- und Kommunikationsverhältnisse in Beziehungsnetzwerken und Organisationen“ (S. 87 – 142). In diesem Teil geht es um den Schritt von den Spezifika persönlicher Beziehungsnetzwerke zu den Spezifika organisationeller Kommunikation und ihrer Bedingungen. Dieser Themenbereich deutet zwar einen Bezug zu Gemeinwesenarbeit und Sozialraumanalyse an, ist aber in seinem Erkenntnisgehalt für Sozialarbeitende in personenbezogenen Beratungssituationen nicht weniger wichtig. Denn die alltagsorientierte Kommunikation in der Sozialen Arbeit unterliegt institutionellen Rahmenbedingungen. Dabei geht es um die Brisanz und Reflexion wiederholter Begegnungen nicht nur mit der Klientel in den fremdbestimmten Kontexten erweiterter Beziehungsöffentlichkeiten, die von Abhängigkeiten, Konkurrenzen, Feindschaften geprägt sein können. Auch Konflikte zwischen Vertrauensschutz und Wächteramt sowie Fragen der Diversität von Informationsstrategien werden von Boettner beleuchtet.
Auch im letzten Teil des Buches werden die „Öffentlichkeiten der Gesellschaft und die Gemeinwesenarbeit“ (S. 143 – 193) mesosoziologisch analysiert und reflektiert, wobei makrosoziologische Hinweise nicht fehlen. Dieses Kapitel kann als Kompendium der Gemeinwesenarbeit gelesen werden, ist aber, vor allem in den ersten zwei Teilabschnitten, für Fachkräfte aller Arbeitsfelder, insbesondere für Sozialarbeitende im Kontext von Öffentlichkeitsarbeit, interessant. Die Dichotomie von öffentlichen und geheimen Sachverhalten wird im Kontext von Öffentlichkeit überdacht, weil, etwa im Gegensatz zur Einzelfallhilfe, „das Zurückhalten von Informationen in einem erhöhten Maße begründungsbedürftig (ist)“ (S. 146). Die komplexen Zusammenhänge unterschiedlicher Interaktionen in „grenzenlosen“ Öffentlichkeiten reichert Boettner durch viele Beispiele aus eigener Forschungsarbeit an und reflektiert sie zugleich.
Zielgruppen
Das Buch ist für Lehrende, Studierende und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit gleichermaßen interessant. Die Konzentration auf Gemeinwesenarbeit bzw. Sozialraumorientierung im 5. Kapitel eignet sich aufgrund ihres Reflexionsgrades und ihrer Praxisbeispiele auch für Fachkräfte anderer Arbeitsfelder.
Diskussion und Fazit
Boettner liefert mit diesem Buch grundlegende Analysen über Interaktionen in Beratungssituationen und Organisationen, die über bisherige Untersuchungen eindeutig hinausgehen. Er diskutiert den Umgang mit geheimen bzw. privaten und öffentlich gemachten oder öffentlich zu machenden Informationen mit dem Schwerpunkt auf Klienten- und kollegiale Beratungen. Seine Betrachtungen erstrecken sich auch auf die oft übersehenen partikularistischen Formen organisationsinterner Bekanntschaftsnetzwerke in ihrer subversiven Potenz innerhalb offizieller Verfahrenskommunikation. Explizit lenkt er den Blick auf Interaktions-, Beziehungs- und Verfahrensöffentlichkeiten im Kontext der Sozialen Arbeit.
Dieses Buch ist ein Gewinn für die Soziale Arbeit, weil es die fachliche Perspektive erweitert auf verborgene Konstituenten von Interaktionszusammenhängen, die in der Sozialen Arbeit trotz ihrer Brisanz unentdeckt bleiben, aber alltäglich wirksam werden.
Rezension von
Prof. Dr. Brigitta Michel-Schwartze
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Zitiervorschlag
Brigitta Michel-Schwartze. Rezension vom 08.04.2016 zu:
Johannes Boettner: Ambivalenz der Aufmerksamkeit. Öffentlichkeit, Vertraulichkeit und Diskretion im Berufsfeld der Sozialen Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2015.
ISBN 978-3-8474-0725-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20682.php, Datum des Zugriffs 12.10.2024.
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