Martin Hejma: Deutsche Wege zur Lohngerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Renate Oxenknecht-Witzsch, 24.11.2016
Martin Hejma: Deutsche Wege zur Lohngerechtigkeit. Zielsetzungen gesetzlicher Mindestlöhne.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2016.
366 Seiten.
ISBN 978-3-428-14518-8.
D: 89,90 EUR,
A: 92,50 EUR.
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht, Bd. 334.
Autor und Entstehungshintergrund
Der Autor ist Jurist. Das Buch ist seine Dissertation, die im April 2014 von der Bucerius Law School, Hamburg, angenommen wurde.
Thema
Das Buch ist eine wissenschaftliche Untersuchung, die die Zielsetzungen gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland untersucht. Das Manuskript ist im bereits im Jahre 2013 abgeschlossen worden. Das zwischenzeitlich in Kraft gesetzte Tarifautonomiestärkungsgesetz mit der Einführung eines allgemeinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland zum 1. Januar 2015 ist daher in der Arbeit nicht berücksichtigt. Die Zielsetzung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns wird aber einbezogen. Mit der Untersuchung wird ein wichtiges Feld der sozialen Sicherung wissenschaftlich analysiert.
Aufbau
Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert:
- Einleitung
- Zielsetzungen der deutschen Mindestlöhne
- Einordnung der Zielsetzungen der dargestellten Mindestlöhne
- Schlussfolgerungen für eine zielgerichtete Weiterentwicklung gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland
- Gesamtergebnis
Zu A Einleitung
In der Einleitung werden der Gegenstand der Arbeit und der Gang der Untersuchung beschrieben. Ziel der Arbeit ist eine juristische Analyse der Zielsetzungen der Mindestlöhne in Deutschland. Sie soll einen Beitrag zur rechtspolitischen Diskussion leisten, um die sachlichen Grundlagen für Entscheidungen zu verbessern (S. 26f). Die fünf existierenden deutschen Mindestlöhne werden hinsichtlich ihrer Zielsetzungen analysiert: Tariftreueregelungen, Allgemeinverbindlicherklärungen, Mindestlöhne nach Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG), das Verbot des Lohnwuchers und das Mindestarbeitsbedingungengesetz (Mi-ArbG). Das MiArbG wurde inzwischen durch Art. 14 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes mit einem Einführung des Mindestlohngesetzes aufgehoben. Außerdem soll die Zielsetzung eines einheitlichen, flächendeckenden Mindestlohns, der zum Zeitpunkt der Erstellung der Arbeit eine zentrale Forderung der Gewerkschaften war und inzwischen seit 1. Januar 2015 in Kraft ist, analysiert werden.
Die Analyse der Zielsetzungen erfolgt in vier Schritten:
- Bestandsaufnahme,
- Verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben,
- Zielsetzungen und
- Gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten.
Es erfolgt dann im Teil C eine vergleichende Zusammenfassung zur Charakterisierung der typischen Spezifika der deutschen Mindestlohnregelungen.
Zu B Zielsetzung der deutschen Mindestlöhne
Die Untersuchung der Zielsetzungen der deutschen Mindestlöhne umfasst den Hauptteil der Arbeit.
I. Tarifgestützte gesetzliche Mindestlöhne
1. Tariftreuegesetze. Als vergleichsweise zurückhaltendster Weg des Staates, auf Lohnvereinbarungen Einfluss zu nehmen, werden Tariftreuegesetze genannt, die Löhne auf mindestens örtlichem Tarifniveau als Bedingung für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen machen. In der Bestandsaufnahme wird die stetige Ausweitung von Tariftreueregelungen erst durch Verwaltungserlasse, später durch landesrechtliche Tariftreueregelungen einiger Bundesländer dargestellt, bis der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seiner Rüffert-Entscheidung vom 03.04.2008 die Europawidrigkeit des niedersächsischen Tariftreuegesetzes feststellte. Neuere Ansätze in europarechtskonformer Ausgestaltung werden in die Untersuchung einbezogen. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht Tariftreueregelungen als verfassungskonform gesehen habe. In der Diskussion der Zielsetzung geht es um die Frage, wie tariflohnzahlende Unternehmen eine Chance haben, sich in einem Bieterverfahren der öffentlichen Hand durchzusetzen. Nach Abwägung der unterschiedlichsten Gesichtspunkte, insbesondere auch des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass die Chancen, die mit Tariftreueregelungen verbunden sind, überzeugen (S. 67). Für die Erreichung des Hauptziels der Tariftreueregelung, die Verhinderung eines Unterbietungswettbewerbs werden tarifgestützte Lösungen als besser geeignet als tarifautonome gesehen. Im Ergebnis werden Tariftreueregelungen als notwendig gesehen, die europarechtskonform über deklaratorische Tariftreuevereinbarungen mit Bezug auf AEntG zu erreichen seien (S. 88)
2. Allgemeinverbindlicherklärung. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG, mit der die Verbindlichkeit des normativen Teils eines Tarifvertrags auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausweitet, die bisher nicht tarifgebunden waren (Außenseitererstreckung) wird hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen wie auch hinsichtlich der praktischen Entwicklung untersucht. Sie wird als verfassungs- und europarechtlich konform bewertet. Hinsichtlich der Zielsetzung wird vor allem der soziale Schutz für Außenseiterarbeitnehmer einer kritischen Würdigung unterzogen. Im Ergebnis wird festgestellt, dass das Hauptziel der Allgemeinverbindlicherklärung der Schutz der bereits organisierten Arbeitnehmer vor Unterbietung ihres Tariflohns sei, von dem auch Außenseiterarbeitnehmer profitierten (S.130),
3. Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG). Als weitere Form eines tarifgestützten Mindestlohns wird das AentG analysiert, das 1996 eingeführt und im Jahre 2009 umfassend reformiert wurde. Das AEntG setzt für bestimmte Branchen für In- und Ausländer einheitliche Arbeitsbedingungen auf der Grundlage von deutschen Tarifverträgen fest. Entstehung und Funktionsweise des Gesetzes werden beschrieben. Verfassungsrechtliche und europarechtliche Bedenken werden analysiert und im Ergebnis verneint (S. 151). Auch für das AEntG wird als Zielsetzung die Verhinderung eines Unterbietungswettbewerbs festgestellt. Die genaue Formulierung der Ziele im AEntG 2009 wird kritisch bewertet. Gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten, wie die Ausweitung auf alle Branchen werden überprüft.
4. Ergebnisse. Die Zielsetzungen der tarifgestützten Mindestlöhne werden als ähnlich festgestellt. Die Hauptzielsetzung dient der Verhinderung eines Unterbietungswettbewerbs. Den tarifgestützten Mindestlöhnen komme nur die Hilfsfunktion zu, die Tarifparteien bei ihrer Tariflohnfindung zu unterstützen. Dabei wird betont, dass bei dieser Form der Mindestlohngestaltung bewusst offen gelassen werde, ob es zum Abschluss von Tarifverträgen kommt oder gar wie hoch diese mindestens sein sollten („Grundausrichtung des Heraushaltens“).
II. Tarifunabhängige gesetzliche Mindestlöhne
1. Verbot des Lohnwuchers. Das Verbot des Lohnwuchers wird als Konkretisierung der allgemeinen Sittenwidrigkeitskontrolle aus § 138 BGB begründet. Dieser durch die Rechtsprechung entwickelte Mindestlohn wird daher auch „richterlicher Mindestlohn“ genannt(S. 185). Die Voraussetzungen wie „auffälliges Missverhältnis“ und „Ausnutzung einer Schwächesituation“ werden auf der Basis der einschlägigen Gerichtsentscheidungen dargestellt. Mit der Entscheidung vom 22.04.2009 hat das Bundesarbeitsgericht seine bisherige Praxis aufgegeben und als Richtwert eine Grenze von zwei Dritteln anerkannt, unterhalb derer mangels besonderer Umstände des Falls Lohnwucher anzunehmen ist (S. 188). Als Ziele werden die Abschreckungs-, die Rezeptions- und die Legitimationsfunktion genannt. Als arbeitsrechtliches Instrument wird das Verbot als Instrument der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bewertet.
2. Mindestarbeitsbedingungengesetz 1952. Der Verfasser stellt richtig fest, dass das Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) das am wenigsten beachtete deutsche Mindestlohngesetz ist. Inzwischen ist das MiArbG durch Art. 14 Tarifautonomiestärkungsgesetz vom 11.08.2014 mit der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns aufgehoben worden. Das MiArbG hatte dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Möglichkeit eingeräumt, in einem Wirtschaftszweig durch Rechtsverordnung zwingend einzuhaltende Mindestarbeitsbedingungen zu etablieren.
Von dieser Möglichkeit wurde nie Gebrauch gemacht. Die Analysen und Bewertungen zum MiArbG haben daher nur noch rechtshistorische bzw. rechtsdogmatische Bedeutung.
3. Einheitlicher flächendeckender Mindestlohn. Im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Erstellung der Arbeit heftig geführte Diskussion um die Einführung eines einheitlichen, flächendeckenden Mindestlohns wird dieser (de lege ferenda) in die Analyse einbezogen. Es wird richtig festgestellt, dass die Diskussion um einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn bis Ende der 1990er Jahre in Deutschland kaum diskutiert wurde. Hinsichtlich der Zielsetzung formuliert der Autor „Der Mythos der eigenständigen Existenzsicherung“. Das sozikulturelle Existenzminimum wird als die zentrale Zielsetzung des gesetzlichen Mindestlohns gezeigt. Arbeitnehmer sollen durch eine Vollzeitarbeit selbst ihren vollen Lebensunterhalt erwirtschaften. Die weitere Zielsetzung der Entlastung der öffentlichen Hand durch Senkung sozialrechtlicher Transferleistungen wird diskutiert. Die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns wird umfassend analysiert. Im Ergebnis wird die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns verfassungsrechtlich und europarechtlich als zulässig bewertet, wenn er der Existenzsicherung dient und in angemessener Höhe festgelegt wird.
Zu C Einordnung der Zielsetzungen der deutschen Mindestlöhne
Im dritten Teil sollen die dargestellten Mindestlöhne nach verschiedenen Ordnungsprinzipien kategorisiert werden.
I. Ausgleich des allgemeinen arbeitsrechtlichen Ungleichgewichts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
II. Art der Eingriffe in den freien Markt
III. Art der angewandten Maßstäbe
V. Einordnung von Gerechtigkeitsansätzen
VI. Lohn und sein Verhältnis zu anderen Arbeitsbedingungen
VII. Ergebnis: Einordnung der Zielsetzungen der dargestellten Mindestlöhne. In dieser Analyse kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass alle Mindestlohnregelungen dem Arbeitnehmerschutz vor einem nicht regulierten Machtübergewicht der Arbeitgeberseite dienen, zentrale Unterschiede werden aber hinsichtlich des Markteingriffs, der anzuwenden Maßstäbe oder der zugrundeliegenden Gerechtigkeitsansätze festgestellt.
Zu D Schlussfolgerungen für eine zielgerichtete Weiterentwicklung gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland
Die Schlussfolgerungen werden mit einer gewissen Restriktion eingeleitet.
Für die sechs diskutierten Mindestlohnregelungen werden Schlussfolgerungen getroffen.
I. Einführung eines bundeseinheitlichen Tariftreuegesetzes. Hier spricht sich der Autor für die Einführung eines bundeseinheitlichen Tariftreuegesetzes aus und eine erneute Vorlage an den EuGH in Kauf zu nehmen im Hinblick auf die Kritik an der Rüffert-Entscheidung des EuGH. Vorgeschlagen wird, dass sich das Tariftreuegesetz auf nach AEntG erstreckte Tarifverträge bezieht.
II. Beibehaltung der Allgemeinverbindlicherklärung im Sinne des § 5 TVG. Hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung sieht der Autor keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Sie habe sich als gebräuchlichstes Rechtsinstitut zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen bewährt.
III. Schrittweise Erreichung der AEntG-Ziele auf europäischer Ebene. Auch hier kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass sich das AEntG in der Rechtspraxis bewährt habe. Gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten werden vor allem auf europarechtlicher Ebene gesehen, für die jedoch schnelle Ergebnisse nicht erwartet werden.
IV. Veröffentlichung von örtlichen Lohnspiegeln zur Stärkung des § 138 BGB. Der Autor empfiehlt, hinsichtlich der Feststellung von Lohnwucher die Einführung des Anhaltspunktes der Zwei-Drittel-Grenze weiterzuentwickeln und sieht eine Lösung in örtlichen Lohnspiegeln, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund gesetzlicher Grundlage zu veröffentliche wären.
V. Einführung eines niedrigschwelligen, einheitlichen flächendeckenden Mindestlohns in Verbindung mit einer Qualifizierungsoffensive. Der Autor stellt fest, dass Deutschland einen einheitlichen, flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn braucht, eher als Signal an die Arbeitgeber, weniger um die Existenzsicherung der Arbeitnehmer zu sichern. Durch die Inkraftsetzung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 ist diese Forderung erfüllt.
VI. Abschaffung des MiArbG. Richtig gesehen wurde, dass mit der Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns das MiArbG hinfällig geworden ist.
Es ist durch Art. 14 Tarifautonomiestärkungsgesetz aufgehoben worden.
Zu E Gesamtergebnis mit einer Übersicht über die Zielsetzungen gesetzlicher Mindestlöhne
Die Ergebnisse der Analysen werden noch einmal formuliert.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass der einheitliche, flächendeckende Mindestlohn keinesfalls der wirkungsvollste ist. Seine Zielsetzungen werden richtig eher sozialrechtlichen Leistungen zugeschrieben. Insofern müsste das Ergebnis lauten, dass tarifrechtliche Mindestlöhne eher geeignet sind, Lohngerechtigkeit zu erreichen.
Zielgruppen
Dissertationen sind in erster Linie Beiträge zur wissenschaftlichen Vertiefung von konkreten Fragestellungen. Das Buch richtet sich aber nicht nur an diejenigen, die sich in der Wissenschaft mit der Thematik befassen, sondern auch an alle diejenigen, die engagiert sind, die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu verbessern.
Fazit
Das Werk ist eine sehr gut fundierte Untersuchung der unterschiedlichen Regelungen für Mindestlöhne in Deutschland. Die Analyse der Zielsetzungen zeigt die Bedeutung der unterschiedlichen Instrumente. Auch wenn inzwischen seit 1. Januar 2015 ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 8, 50 Euro pro Stunde eingeführt wurde, bleibt die Frage der Existenzsicherung von Arbeitnehmern wie auch die Frage der Lohngerechtigkeit erhalten. Gerade aus diesem Grund sind die Ergebnisse der Untersuchung auch weiterhin wichtig.
Rezension von
Prof. Dr. Renate Oxenknecht-Witzsch
Em. Professorin für Recht mit Schwerpunkt im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht an der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Es gibt 44 Rezensionen von Renate Oxenknecht-Witzsch.
Zitiervorschlag
Renate Oxenknecht-Witzsch. Rezension vom 24.11.2016 zu:
Martin Hejma: Deutsche Wege zur Lohngerechtigkeit. Zielsetzungen gesetzlicher Mindestlöhne. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2016.
ISBN 978-3-428-14518-8.
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht, Bd. 334.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20686.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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