Jens Luedtke, Christine Wiezorek (Hrsg.): Jugendpolitiken
Rezensiert von Dr. rer. pol. Nils Schuhmacher, 06.09.2016
Jens Luedtke, Christine Wiezorek (Hrsg.): Jugendpolitiken. Wie geht Gesellschaft mit „ihrer“ Jugend um? Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 294 Seiten. ISBN 978-3-7799-3317-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.
Thema
Der Umgang mit ‚Jugend‘ seitens der „Erwachsenengesellschaft“ (wie es in treffender Präzisierung in der Einleitung heißt) ist ein Dauerbrenner sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Weite der Kategorie bringt es mit sich, dass je nach Konjunktur und Forschungsinteresse ganz unterschiedliche Aspekte in den Blick genommen werden. Solche Parzellierungen sind einerseits natürlich nötig. Sie machen es andererseits schwer, die ‚großen‘ Linien der jeweils aktuellen politischen Gestaltung und Zurichtung von ‚Jugend‘ (inkl. der Reaktionen der Adressierten) in den Blick zu bekommen.
Genau dies dürfte eines der Anliegen des hier vorgelegten Sammelbandes sein, denn er widmet sich der Betrachtung und Analyse einer Vielzahl von Diskursen, Normierungen, Kodifizierungen, Festschreibungen, Integrations- und Kontrollmechanismen, die unter dem Terminus „Jugendpolitiken“ zusammengefasst werden. Konkret gilt das Interesse der Frage, ob und woran sich im Querschnitt die Konturen einer „ganzheitlichen Jugendpolitik“ ausmachen lassen, in der sich das Spannungsverhältnis zwischen der Lage und den Bedürfnissen von Jugend(lichen) und den (Ordnungs-)Interessen der ‚Erwachsenengesellschaft‘ auf spezifische Weise ausdrückt.
Entstehungshintergrund
Der Band folgt auf eine gleichnamige Tagung der Sektion Jugendsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Frühjahr 2014. Er enthält einschließlich einer in das Thema einführenden Einleitung der beiden Herausgebenden 13 empirisch fundierte Beiträge von insgesamt 24 Autorinnen und Autoren aus den Feldern der Bildungs- und Arbeitssoziologie, der Medienwissenschaft, der Partizipationsforschung sowie der Erziehungswissenschaft und verspricht damit eine multiperspektivische Herangehensweise an den (Forschungs-)Gegenstand.
Aufbau
Eingeteilt ist der Band in drei, in ihrem Umfang nicht ganz gleichgewichtete Abschnitte.
- Im ersten Teil werden unter der Überschrift „Jugend als politisches Thema oder soziales Problem?“ vier Beiträge gebündelt, die unterschiedliche auf ‚Jugend‘ bezogene politische, pädagogische und strafrechtliche Konstruktionsfelder und -prozesse behandeln.
- Im zweiten Teil wird unter dem Titel „Jugendliche als Ressource“ in fünf Beiträgen der Fokus auf arbeitsweltbezogene jugendpolitische Praxen, Diskurse und daraus für die Betreffenden erwachsende Konsequenzen gelegt.
- Im dritten Teil werden – praktisch im Sinne einer Perspektivenumkehr – unter der Überschrift „(Un)Politische Jugend“ in drei Beiträgen Subjektivierungsprozesse von Jugendlichen mit Blick auf politische Sozialisation und Partizipation behandelt.
Inhalte
In ihrer ausführlichen Einleitung nehmen Jens Luedtke und Christine Wiezorek zunächst eine Kartierung des Gesamtfeldes vor. „Jugendpolitiken“ werden dabei von ihnen definiert als der Gesamtzusammenhang der unterschiedlichen, auf Jugendliche und junge Menschen bezogenen „Entwürfe zu Rahmenbedingungen jugendlichen Lebens und zum gesellschaftlichen Umgang mit Jugend“ (S. 12), die in ihrer jeweiligen Realisierung Lage, Handlungsmöglichkeiten -und formen sowie Aneignungs- und Identitätsbildungsprozesse von Jugendlichen beeinflussen. Aufbauend auf dem bekannten soziologischen Befund der Entstandardisierung und Entstrukturierung der Jugendphase werden im großen Ganzen drei zentrale Diskurs- und Entwicklungsstränge identifiziert:
- der Diskurs über (politische) Partizipation von Jugendlichen, faktisch eng verbunden mit der Frage nach ihren ‚richtigen‘ und abweichenden Formen;
- der Zusammenhang zwischen der Aufkündigung des fordistischen Sicherheits-versprechens, der (west)europaweit erfolgenden Durchsetzung von Konzepten einer „aktivierenden“, d.h. individuell in die Pflicht nehmenden, Wohlfahrtsstaatlichkeit im Rahmen einer fortschreitenden Individualisierung von Lebensbewältigung;
- die damit verbundene Etablierung eines ökonomisierenden Blicks, in deren Rahmen neben Fragen einer immer stärker Verwertungslogiken folgenden Integration auch Fragen der Selbstverwertung, Selbstoptimierung und Selbstökonomisierung folgenreich ins Zentrum von jugendpolitischer Regulation und jugendlicher Identitätsbildung rücken.
In ihrem an den Beginn des ersten Teils gestellten Beitrag widmen sich Stephan Dahmen und Thomas Ley den administrativen „Konstrukteure[n]“ (S. 31) des Deutungsrahmens ‚Jugend‘. Dabei wird der Fokus auf die Frage gelegt, ob und auf welche Weise sich nationale Jugendpolitiken im europäischen Maßstab synchronisieren. Entsprechende Bestrebungen und Entwicklungen werden an den Beispielen von Beschäftigungspolitik und Jugendpolitik dargestellt. Während in ihrem Beitrag vor allem die Ebene der vertraglichen Gestaltung auf supranationaler Ebene behandelt wird, zielen die folgenden Beiträge stärker auf Diskurse und realpolitische Umsetzungen in Deutschland ab. Larissa von Schwanenfügels und Andreas Walthers Beitrag diskutiert die oben genannten Entwicklungen am Beispiel der Diskussionen über die Entwicklung einer eigenständigen, auf Aktivierung setzenden Jugendpolitik. Es folgen zwei den Umgang mit Delinquenz thematisierende Beiträge, wobei im Fall von Frank Greuel und Frank König pädagogische Arbeit im „Politikfeld“ Rechtsextremismusbekämpfung und -prävention, im Fall von Dirk Lampe und Matthias Rudolph das Verständnis von und der Umgang mit Jugendkriminalität durch Veränderungen des Jugendstrafrechts behandelt werden.
Während der erste Abschnitt des Buches damit von einer nicht geringen thematischen Breite geprägt ist, kennzeichnet den zweiten Abschnitt die Konzentration auf den Kontext der Arbeitswelt. Hier behandeln die ersten beiden Beiträge Übergänge im Sozialisationsverlauf aus zwei verschiedenen Perspektiven. Axel Pohl und Andreas Walther analysieren die politische Gestaltung der Übergangspassagen von Schule auf Arbeit im Lichte der Flexibilisierung von Lebensläufen und -konzepten als komplexe Verschränkung fordistischer und postfordistischer Regulationsweisen. Marcel Eulenbach verknüpft daran anschließend die Darstellung der Entstandardisierung von Übergängen mit dem aus der Gouvernementalitätsdebatte stammenden Diskurs der Selbstoptimierung, wirft also die Frage auf, wie und mit welchen Folgen die Subjekte die beschriebenen Veränderungen ‚bewältigen‘. Dem gegenüber nehmen die folgenden Beiträge konkrete Gestaltungen von Integration in den Arbeitsmarkt in den Blick. Mit Bezug auf die Kategorie „Ausbildungsreife“ zeigen Mona Granato, Elisabeth Krekel und Joachim Gerd Ulrich auf, wie im Diskurs über die Wahl von Ausbildungsgängen durch Jugendliche das Ausbildungssystem Verantwortungen für scheiternde Übergänge externalisiert und damit gleichzeitig auch individualisiert. Ebenfalls an der Grundfigur der Individualisierung von Lebensbewältigung orientiert, legen die Beiträge von Jens Luedtke, Jule-Marie Lorenzen und Dariuš Zifonun ihren Schwerpunkt noch einmal anders: Ersterer diskutiert diese Prozesse am Beispiel des Rückbaus von Standards des Jugendarbeitsschutzes, letztere beschäftigen sich mit Modellen eines auf Jugendliche abzielenden aktivierenden Mentorings.
Im dritten Teil wird die Logik der bisherigen Darstellung insofern ‚auf den Kopf‘ gestellt, als hier an Fallbeispielen die von Jugendpolitiken Adressierten selbst ins Zentrum der Betrachtung rücken. Erwähnenswert ist dabei, dass mit den Beiträgen zusätzliche Themenfelder eröffnet werden, so dass das bis hierhin geschaffene Bild in diesem Abschnitt nicht detailliert, sondern erweitert wird. Thematisch kreisen alle drei Beiträge um Fragen der politischen Partizipation und Sozialisation. Der Beitrag von Katrin Hillebrand, Wolfgang Kühnel, Tobias Schmidt, Helmut Willems und Kristina Zenner präsentiert Ergebnisse einer Studie zu jungen Angehörigen der „linksaffinen Szene“ und behandelt ein breiteres Spektrum an politischen und lebensweltbezogenen Orientierungen, Anna Soßdorfs Beitrag thematisiert den Stellenwert digitaler Medien für die Entstehung politischen Interesses und Engagements, geschlossen wird der Band durch Stefan Hößls Beitrag zur spezifischen Verarbeitung von gesellschaftlichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen im Kontext muslimischer Religiosität am Fallbeispiel einer Kopftuch tragenden Jugendlichen.
Diskussion
Da der Band darauf ausgerichtet ist, im Gesamtfeld unterschiedlicher Jugendpolitiken allgemeine Entwicklungstendenzen zu identifizieren und beispielhaft aufzuzeigen, liegt es nahe, den Fokus entsprechend weit zu halten. Damit stellt sich vor allem die Frage nach dem inneren Zusammenhang der drei Teile und der ihnen zugeordneten Beiträge.
Positiv hervorzuheben ist hier zunächst die klare politiksoziologische Ausrichtung der überaus meisten Beiträge, also das praktische Ansinnen, die subjektbezogenen, diskursiven und strukturellen Implikationen von Governance und politischer Regulation gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Für ein fachwissenschaftliches Publikum – ausschließlich dieses wird mit dem Sammelband adressiert –, das über die Grenzen der eigenen Disziplin hinausschauen will, bieten sich so immer wieder neue oder bislang nicht weiter zur Kenntnis genommen theoretische Anknüpfungspunkte. Erfreulich ist in jedem Fall auch, dass alle Beiträge auf empirischen Forschungen der Beitragenden beruhen, sich also nicht damit begnügen, anderweitig gewonnenes Forschungswissen in kondensierter Form wiederzugeben.
Gleichzeitig wird in der (im Übrigen sinnvollen) Dreiteilung des Bandes aber auch eine Art doppeltes Ungleichgewicht erkennbar. Zum einen entsteht der Eindruck, dass der zweite Teil aufgrund seiner thematischen Homogenität das eigentliche Herzstück des Bandes darstellt, während in den anderen beiden Teilen jeweils verschiedene Felder von Jugendpolitik zusammengefasst werden, was zu einer gewissen thematischen Weitläufigkeit führt. Zum anderen folgt die im dritten Teil des Bandes vorgenommene Perspektivenumkehr – von den Jugendpolitiken auf deren Bewältigung – nicht unbedingt den Fragestellungen und Perspektiven der ersten beiden Teile. Die Beiträge behandeln nämlich nicht subjektive Verarbeitungen von Erfahrungen in bereits beschriebenen Kontexten – etwa in der Jugendhilfe, auf dem Arbeitsmarkt, im Strafverfolgungssystem –, sondern eröffnen neue Themenfelder. Dabei fällt auf, dass Aspekte wie „Individualisierung“ und „(Selbst)Optimierung“ weniger zentral behandelt werden als in den Beiträgen der ersten beiden Teile. Dabei hätte es z.B. mit Blick auf sogenannte „linksaffine“ Jugendliche durchaus interessiert, wie und mit welchen Konsequenzen Prozesse der Selbstoptimierung (und Anpassung) auch in „gesellschaftkritischen“ Milieus gestaltet werden und wie sich Partizipationsverständnisse im Rahmen umfassender Anrufungen zur Selbstgestaltung ganz generell wandeln. Vermisst hat zumindest der Rezensent in diesem Zusammenhang auch einen Beitrag, der sich mit den Kolonisierungen, Kommerzialisierungen und ‚Maturisierungen‘ von Jugend(lichkeit) – auch ein zentrales Terrain von Jugendpolitiken – befasst. Allerdings relativiert sich dieses Manko, sofern es überhaupt eins ist, letztendlich durch die an anderen Stellen, nämlich insbesondere im Mittelteil, erreichte hohe Stringenz des Bandes.
Fazit
Der an ein interdisziplinäres Fachpublikum gerichtete Sammelband thematisiert „Jugendpolitiken“ in unterschiedlichen Feldern und sucht dabei Anschlusspunkte an theoretische Ansätze zur Individualisierung und (Selbst-)Ökonomisierung in den Debatten über Integration. Seine großen Stärken entfaltet der Band dabei dort, wo die aktuellen Entwicklungstendenzen politischer Gestaltung von Jugend am Beispiel der Arbeitswelt und im Spannungsfeld von administrativer Aktivierung und Partizipationsermöglichung ‚von oben‘ analysiert werden. Wie sich dabei das ambivalente Verhältnis zwischen Kontrollbedürfnissen der Gesellschaft und Gestaltungsbedürfnissen von Jugendlichen gestaltet, muss allerdings offen bleiben, weil die Subjektivierungsstrategien der von Jugendpolitik Adressierten hier nur eingeschränkt in den Blick genommen werden.
Rezension von
Dr. rer. pol. Nils Schuhmacher
Wiss. Mitarbeiter Universität, Hamburg Kriminologische Sozailforschung
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Zitiervorschlag
Nils Schuhmacher. Rezension vom 06.09.2016 zu:
Jens Luedtke, Christine Wiezorek (Hrsg.): Jugendpolitiken. Wie geht Gesellschaft mit „ihrer“ Jugend um? Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2016.
ISBN 978-3-7799-3317-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20716.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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